
Foto: Kassandra Ruhm
Bremen (kobinet) "Eine junge Frau mit hellbraunen Schnürstiefeln, modernem schwarzen Rock, Ringelpulli, blauer Jeansjacke und blauem Kopftuch steht an einer Hauswand voller buntem Graffiti und blickt skeptisch in die Kamera." So beschreibt Kassandra Ruhm ihr 29. Poster der Woche aus ihrer Reihe "bunt ist schöner" - eine Poster-Serie über Vielfalt und Inklusion, die sich für Respekt vor unterschiedlichen Lebensweisen einsetzt.
Folgender Text steht auf dem Poster: „Ich möchte nicht mehr gelobt werden für Dinge, die für mich selbstverständlich sind. Wieso sollte ich schlecht deutsch sprechen? Wieso sollte ich nicht studieren und modische Kleidung tragen? Zur Person schreibt Kassandra Ruhm: „Nesrin, Bremerin, studiert Soziale Arbeit: transnational.“
Zu diesem Poster hat Kassandra Ruhm folgenden Text verfasst:
Ich gehe nicht mehr zum Tanzen aus. Nein, nicht wegen Corona. Seit vielen Jahren bin ich auf keiner öffentlichen Party mehr gewesen.
Warum? Einerseits, weil es mir oft zu eng ist und andererseits, weil ich keine Lust mehr auf seltsame Blicke und Kommentare habe. Nicht, dass ich damit rechne, dass direkt unfreundlich oder aggressiv geguckt würde. Ich rechne eher mit ein paar befremdeten Blicken, die Irritation über meinen behinderten Körper ausdrücken und deutlich machen, dass ich eben nicht genauso selbstverständlich auf die Tanzfläche gehören würde, wie die anderen. Und ich rechne mit einem gönnerhaften Lächeln von oben herab. Mit Sprüchen, wie man mich bewundere und wie mutig ich wäre, dass ich „trotz meines Rollstuhls“ tanze und Spaß habe. Aber warum sollte ich nicht tanzen können?
Was soll die Gefahr sein, der ich mich „mutig“ stelle? Sehe ich wirklich so schlecht aus, dass ich Angst haben müsste, aus zu gehen?
Was mich manchmal vom Spaß haben abhält, sind Vorurteile, Diskriminierungen und Barrieren. Nicht meine Behinderung.
Eine Zeit lang habe ich Tanztreffs besucht, die ausdrücklich für behinderte Menschen gedacht sind. Davon gibt es zwar nicht viele, aber ich werde dort nicht befremdet angesehen. Ich habe sogar selber eine Ausbildung zur DanceAbility-Trainerin gemacht und einige Jahre lang ein eigenes Tanzprojekt geleitet. Ein paar Mal bin ich mit kleinen Tanzstücken aufgetreten. Ich habe mir gedacht: „Wenn Du auf der Bühne stehst, ist den anderen klar, dass das, was Du machst, richtig so ist. Das mache ich so lange, bis sich die Leute an den Anblick gewöhnt haben. Dann kann ich irgendwann zu gemischten Tanzveranstaltungen gehen, ohne dass es zu viele unangenehme Blicke gibt.“
Dies Ziel habe ich nicht erreicht.
Die bequemen Parallelgesellschaften
Im Endeffekt habe ich den für mich leichteren Weg gewählt, keine öffentlichen Partys mehr zu besuchen, sondern mich zurück zu ziehen und meine ohnehin knappe Freizeit mit anderen schönen Aktivitäten zu verbringen. Für mich ist es bequemer so.
Desto mehr man sich an immer denselben Orten aufhält, an denen man gut gekannt wird, desto weniger muss man sich mit unangenehmen Vorurteilen auseinander setzen. Parallelgesellschaften können einem ein angenehmes, entspanntes Gefühl geben. Aber sie führen nicht zu einer besseren Gesellschaft.
Unangenehme Blicke beim Tanzen kann ich meiden. In anderen Situationen ist das schwieriger, wenn ich nicht zu Hause bleiben will.
Wenn ich im Alltag ganz normal mit meinem Fahrrad von A nach B fahre kommt es immer wieder vor, dass fremde Leute plötzlich rufen, wie großartig es doch wäre, dass ich „so etwas“ fahren kann und wie sehr ich mich freuen solle, dass es „so etwas“ gäbe.
Wie großartig, dass sogar Rollstuhlfahrer*innen – ganz alltägliche Dinge tun können
Technisch gesehen ist es total einfach, Pedale statt unten im Fußbereich zu treten, oben im Armbereich zu kurbeln. Mein Fahrrad besteht aus einem Vorderrad, das ich vorne an meinen Rollstuhl ankoppele und mit Handkurbeln in Fahrt bringe. Mein erstes Fahrrad habe ich mir vor knapp 20 Jahren gebraucht gekauft, mein jetziges Rad fahre ich seit 6 Jahren.
Für mein halbes Fahrrad musste ich ein Vielfaches davon bezahlen, was ein ganzes Fahrrad für Nichtbehinderte gekostet hätte. Defekte hat mein Fahrrad dafür viel häufiger, als ein Nichtbehinderten-Fahrrad.
So zu tun, als hätte ich da ein großartiges Geschenk bekommen, für das ich jahrelang dankbar sein müsste – das finde ich ein wenig unangebracht. Nichtbehinderte sind auch nicht beständig dankbar dafür, Fahrrad fahren zu dürfen und darüber hinaus so wenig Geld für qualitativ hochwertige Fahrräder zahlen zu müssen.
Fahrrad zu fahren ist für mich selbstverständlich und alltäglich. Muss man mir wirklich immer wieder zurufen, dass ich und meine Art der Fortbewegung nicht normal wären?
Man könnte sich entscheiden, taktvoll zu sein
Ja, ich weiß, für diejenigen, die mich mit ihren Kommentaren bedenken, ist es ungewohnt, jemanden mit solch einem Handbike zu sehen.
Wobei mich das in einer Stadt wie Bremen, in der sehr viele Radfahrer*innen mit den unterschiedlichsten Modellen unterwegs sind, wundert. Aber sei’s drum. Selbst wenn man noch nie eine Rollstuhlfahrer*in mit Handbike gesehen haben sollte: Man könnte sich einfach dafür entscheiden, taktvoll zu sein. Denn man kann sich leicht denken, dass ich auch gestern und vorgestern und vor 3 Monaten Rollstuhlfahrerin war und es morgen noch sein werde und es deshalb meine alltägliche Realität ist, dies Rollstuhl-Fahrrad zu fahren. Ich tue das nicht nur in diesem einen Moment der Begegnung und bin deshalb auch nicht genauso überrascht darüber, wie mein Gegenüber.
Ähnlich irritierte Reaktionen bekommen behinderte Menschen bisweilen, wenn sich herausstellt, dass sie Eltern sind oder werden wollen. Oder dass eine Hochzeit ansteht. Erst recht, wenn der/die Partner*in nichtbehindert ist.
Ich könnte dasselbe in Grün zurück rufen
Ich habe öfter darüber nachgedacht, wie ich auf das unangenehme „Loben“ meiner Fortbewegungsart reagieren könnte, um deutlich zu machen, wie unangenehm und unpassend ich das finde.
Ich könnte dasselbe in Grün zurück rufen: „Wie großartig, dass man in Ihrem Alter noch Fahrrad fahren darf!“ oder „Wie toll, dass es sogar für jemand mit Ihrem Gewicht Fahrräder gibt! Das ist wirklich eine klasse Erfindung. Respekt!“
Ich könnte mich darüber auslassen, dass sogar Frauen heutzutage Fahrrad fahren können und wie sehr ich mein Gegenüber für diese Alltäglichkeit bewundere. „So wie Sie aussehen, hätte ich gar nicht gedacht, dass Sie überhaupt Fahrrad fahren können. Ganz toll machen Sie das! Weiter so.“
Um vergleichbar zu treffen, müsste ich eine Eigenschaft meines Gegenübers ausnutzen, die gesellschaftlich ähnlich abgewertet wird, wie Behinderungen.
Beleidigungen funktionieren besonders gut, wenn sie bestehende Machtverhältnisse nutzen
Worte tun besonders weh, wenn sie in langjährige Wunden treffen und bestehende Machtverhältnisse ausnutzen. Menschen, die keinen gesellschaftlich abgewerteten Gruppen angehören, sondern als „normal“ gelten, kann man mit Worten schwer genauso treffen.
Jemanden „Kartoffel“ zu nennen, tut in aller Regel längst nicht so weh, wie das N*-Wort. Weil es eine andere Vorgeschichte hat, schwarze Menschen als N* zu beleidigen. Und weil Weiße nicht von Schwarzen versklavt und jahrhundertelang in einer unterlegener Position gehalten worden sind, sondern umgekehrt.
„Nichtbehindert“ ist kein Schimpfwort an Schulen, „behindert“ schon. Kaum jemand fühlt sich beleidigt, wenn man ihm an den Kopf wirft: „Du bist voll heterosexuell“. „Du bist voll schwul“ funktioniert problemlos als Beleidigung.
Ich habe mich dagegen entschieden, auf dasselbe Niveau herunter zu gehen oder Menschen zu begafften Zootieren zu machen.
Wenn jemand Nichtbehindertes heiratet, sage ich nicht: „Sie heiraten? Ach. Wie schön, dass Sie jemanden gefunden haben. Ist Ihre Frau genauso übergewichtig wie sie?“
Behinderte Menschen hingegen werden standartmäßig gefragt, ob die Partner*in auch im Rollstuhl sitzt (bzw. eine andere Behinderung hat), sobald das Thema zur Sprache kommt. Ich finde behinderte Frauen als Partnerin absolut nicht minderwertig. Aber da die meisten Menschen nichtbehindert sind, ist es statistisch doch recht unwahrscheinlich, dass gleich beide Partner*innen behindert sind. Außer wenn wir wünschen, dass behinderte Menschen in getrennten Parallelgesellschaften leben.
Ob mit Behinderung oder mit Migrationshintergrund…
Genauso demütigend oder verletzend, wie es gegenüber behinderten Menschen ist, sie für Dinge zu loben, die selbstverständlich sind, ist es auch gegenüber Menschen mit Migrationshintergrund oder POC (People of Color, gemeint sind Menschen, die durch Rassismus benachteiligt werden).
Wenn man Menschen, die in Deutschland geboren sind und lediglich eine andere Hautfarbe als die Mehrheit haben oder ein Kopftuch tragen, dafür lobt, dass sie ihre Muttersprache Deutsch sprechen, vermittelt man ihnen, dass sie nicht dazu gehören. Denn dies „Lob“ macht nur Sinn, wenn man davon ausgeht, dass sie nicht deutsch sind, weil Deutsche angeblich nicht schwarz sind, keine arabischen Großeltern haben und keine Moslems sind.
Jemanden zu loben oder begeistert zu sein, dass jemand etwas kann, macht nur Sinn, wenn man es dieser Person eigentlich nicht zugetraut hätte
Jemandem, der in Deutschland geboren ist, nicht zuzutrauen, seine Muttersprache zu sprechen oder einer Frau mit Kopftuch nicht zuzutrauen zu studieren oder behinderten Menschen nicht zuzutrauen zu tanzen, feiern zu gehen und Spaß zu haben, Fahrrad zu fahren, Eltern oder geliebte (Ehe-)Partner*innen zu sein,… das ist kein Kompliment.
Zur Abrundung des Themas empfehle ich den TED-Talk der australischen Behindertenrechtsaktivistin Stella Young „I’m not your inspiration, thank you very much“ (mit deutschen Untertiteln).
Das ganze Jahr 2020 hindurch wird jede Woche eines meiner Poster aus der Reihe „bunt ist schöner“ beim behindertenpolitischen Nachrichtendienst kobinet-nachrichten veröffentlicht. Weil die meisten der Poster auf den ersten Blick von anderen Themen handeln, habe ich bei manchen einen Artikel dazu geschrieben, was das jeweilige Poster mit Behindertenpolitik zu tun hat. Dies ist einer dieser Artikel.
Nachdem Kassandra Ruhm bereits am 13. Juni und am 1. Juli beim derzeit stattfindenden Sommercamp für ein selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen zu einigen Postern ihrer Ausstellung virtuelle Führungen durch die Ausstellung durchgeführt hat, bietet sie auf Wunsch der Teilnehmer*innen am 28. Juli, von 17:30 bis 18:30 Uhr eine weitere virtuelle Führung durch ihre Poster-Serie an.
Link zur Facebookseite von Kassandra Ruhm
Links zu den weiteren bisher in den kobinet-nachrichten veröffentlichten Poster der Woche von Kassandra Ruhm
Poster der Woche: Rampen statt Mitleid! – kobinet-nachrichten vom 4.1.2020
Poster der Woche: „Da fließt noch viel Wasser ins Meer, bevor …“ – kobinet-nachrichten vom 11.1.2020
Poster der Woche: Liebe – kobinet-nachrichten vom 18.1.2020
Poster der Woche: „Ich habe das Label Schizophrenie“ – kobinet-nachrichten vom 25.1.2020
Poster der Woche: „Es ist ein langer Weg …“ – kobinet-nachrichten vom 1.2.2020
Poster der Woche „Schön, schwul zu sein mit Stolz“ – kobinet-nachrichten vom 8.2.2020
Poster der Woche „Nahaufnahme einer schönen Frau“ – kobinet-nachrichten vom 15.2.2020
Poster der Woche „Portrait einer freundlich guckenden Frau“ – kobinet-nachrichten vom 29.2.2020
Poster der Woche „Portrait eines Kindes“ – kobinet-nachrichten vom 7.3.2020
Poster der Woche „Frau zwischen Blumenkübeln“ – kobinet-nachrichten vom 14.3.2020
Poster der Woche „Blindenleitstreifen bitte freihalten!“ – kobinet-nachrichten vom 21.3.2020
Poster der Woche „Hauptsache alle sehen gleich aus“ – kobinet-nachrichten vom 28.3.2020
Poster der Woche „Teilhabe ist kein freiwilliges Almosen“ – kobinet-nachrichten vom 4.4.2020
Poster der Woche „Frau in rosa arbeitet für 252 Euro im Monat – kobinet-nachrichten vom 11.4.2020
Poster der Woche „Von der Bewertung behinderten Lebens“ – kobinet-nachrichten vom 18.4.2020
Poster der Woche Woher kommst du? – kobinet-nachrichten vom 25.4.2020
Poste der Woche „Stärker“ – kobinet-nachrichten vom 2.5.2020
Poster der Woche „Armut, Behinderung und Gewalt“ – kobinet-nachrichten vom 9.5.2020
Poster der Woche „Du bist schön“ – kobinet-nachrichten vom 16.5.2020
Poster der Woche „Auf die Linie getreten“ – kobinet-nachrichten vom 23.5.2020
Poster der Woche: „Gleichen Respekt für alle!“ – kobinet-nachrichten vom 30.5.2020
Poster der Woche: „Persönlicher Kontak“ – kobinet-nachrichten vom 6.6.2020
Poster der Woche: „Ein trauriger Anbllick?“ – kobinet-nachrichten vom 13.6.2020
Poster der Woche: „Genau richtig. So wie wir sind“ – kobinet-nachrichten vom 20.6.2020
Poster der Woche: „Landtagsabgeordneter und Flüchtling“ – kobinet-nachrichten vom 27.6.2020
Poster der Woche: „‚Schwul‘ ist kein Schimpfwort“ – kobinet-nachrichten vom 4.7.2020
Poster der Woche: „Barrierefreie Wohnungen“ – kobient-nachrichten vom 11.7.2020