Menu Close

„Die Bankrotterklärung der Inklusionspolitik: Was Hubert Hüppe offenlegt – und warum niemand widerspricht“

Öffentliche Toilette von Aussen. Zwei Türen. Eine davon ein Behinderten-WC. Ein Notlicht mit der Aufschrift
Wenn Versprechen im Lokus verschwinden
Foto: Ralph Milewski

Fladungen (kobinet) Hubert Hüppe bestätigt, was viele seit Jahren wissen, aber nicht offen aussprechen: Die Inklusion in Deutschland war nie strukturell gewollt. Sie wurde als PR-Projekt verpackt, als Menschenrechtsversprechen ohne Machtbasis verkauft. Dass selbst langjährige Akteure wie Hüppe heute offen von "Rückschritt" sprechen, ist bemerkenswert – und bitter zugleich. Denn was unter dem Schlagwort Inklusion firmiert, ist oft das genaue Gegenteil: Restauration von Sonderstrukturen, getarnt als Fortschritt.

Ich habe diese Entwicklung wiederholt kritisiert – mit klaren Zahlen, konkreten Beispielen und systemischer Analyse. Und ich bin nicht allein: Zahlreiche andere Aktivist*innen, Verbände und selbstorganisierte Gruppen haben seit Jahren auf diese Fehlentwicklungen hingewiesen. Die Lebenshilfe & Co. als Profiteur einer Inklusionsindustrie, die Werkstattlogik als lukratives Dauermodell, der Etikettenschwindel von „inklusiven Projekten“ – all das ist Realität. Hüppe bestätigt nun diese Kritik: Inklusion wird politisch propagiert, während strukturell das Gegenteil passiert.

Wenn Hüppe beschreibt, dass wieder neue Sonderschulen gebaut werden, dass Inklusion zum Schimpfwort wird und dass die große Mehrheit der Menschen mit Behinderungen in Sonderwelten verbleibt, dann sagt er im Kern: Die Gesellschaft hat sich nie ernsthaft auf den Weg gemacht. Die Aufbruchstimmung nach der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention war nicht nachhaltig. Sie wurde abgefangen, umgeleitet, kaschiert. Die Sonderstrukturen wurden nicht überwunden, sondern in neue Begriffe verpackt.

Dabei geht es nicht nur um Versäumnisse – es geht um Absicht. Denn diese Strukturen schützen nicht die Menschen mit Behinderung, sondern die Mehrheitsgesellschaft vor der Konfrontation mit ihrer Verantwortung. Der „geschützte Raum“ dient in Wahrheit dazu, die Sichtbarkeit von Behinderung zu begrenzen. Es ist die Gesellschaft, die geschützt wird – vor Irritation, vor Veränderung, vor echter Teilhabe.

Hier setzt meine Kritik an, die ich als „Disney-World-Analogie“ beschrieben habe: Wir erleben eine inszenierte Inklusion. Eine Art Freizeitpark-Realität, in der Behinderung als Teilhabe verkauft wird, solange sie kontrolliert, begrenzt und in institutionelle Erlebniswelten eingepasst bleibt. Werkstätten, Förderschulen, inklusive Sport- und Kunstprojekte – sie alle bilden eine Erlebniswelt, die das Gewissen beruhigt, aber die Realität nicht verändert. Die eigentliche Gesellschaft bleibt davon unberührt.

Hüppes Satz „Wer Inklusion will, sucht Wege – wer sie nicht will, sucht Begründungen“ ist richtig. Ich möchte ihn zuspitzen: Wer Inklusion ernst meint, schafft keine Sonderwelten, sondern schafft Strukturen ab, die Exklusion organisieren. Wer Inklusion will, muss Macht abgeben, Ressourcen umverteilen und Sichtbarkeit zulassen. Das aber ist in einer Gesellschaft, die Exklusion für sich selbst als bequem empfindet, schwer durchzusetzen.
Dass Hüppe dies nun – aus dem Inneren des politischen Apparats heraus – so deutlich benennt, ist keine Provokation. Es ist eine späte, aber wichtige Bestätigung dessen, was Betroffene und kritische Aktivist*innen seit Jahren sagen: Inklusion ist nicht gescheitert – sie wurde systematisch verhindert.

Was fehlt, ist nicht Erkenntnis. Was fehlt, ist Konsequenz.

Denn solange schwerstbehinderte Menschen im Alltag nicht sichtbar sind, weil sie in Werkstätten, Sonderwohnungen, Förderklassen oder „Projekten“ verschwinden, ist das nicht nur eine moralische Bankrotterklärung – sondern Ausdruck eines politischen Systems, das Abwesenheit organisiert. Und viele verdienen daran.

Wer sind diese Profiteure konkret? Es sind vor allem Träger großer Einrichtungen wie die Lebenshilfe, die Caritas oder die Diakonie, die mit Werkstätten, Wohnheimen und Förderstrukturen staatlich subventionierte Parallelwelten aufrechterhalten – und damit sichere Einnahmen generieren. Es sind Landespolitikerinnen, die sich auf bewährte Partner in der Behindertenhilfe verlassen, statt mutige Reformen anzugehen. Es sind Verwaltungen, die lieber auf bestehende institutionelle Lösungen zurückgreifen, als inklusive Strukturen neu zu denken. Es sind auch einige Funktionärinnen aus der sogenannten Selbstvertretung, die innerhalb dieses Systems Positionen und Einfluss erlangt haben – und es nicht riskieren wollen, dieses Fundament infrage zu stellen. Inklusion als Markt – mit stabilen Interessenlagen. Der politische Wille, diese Strukturen aufzubrechen, fehlt nicht zufällig. Er fehlt systematisch.

Bezeichnend ist auch, wie mit Hüppes Aussagen in der Szene umgegangen wurde. Der Artikel wurde auf der Plattform der kobinet-nachrichten veröffentlicht, erhielt (bisher 16) Likes auf Facebook – aber keine einzige öffentliche Reaktion, keinen Kommentar, keine Lesermeinung. Dabei benennt der Text nichts weniger als den strukturellen Verrat an der Inklusion. Dass darauf ausgerechnet in der Inklusions-Bubble mit Schweigen reagiert wird, ist kein Zufall. Es zeigt: Die Bereitschaft zur echten Auseinandersetzung mit den politischen Realitäten fehlt vielerorts. Wer kommentiert, müsste sich positionieren. Wer sich positioniert, müsste handeln. Also bleibt es still. Auch das ist Teil des Problems.

Stattdessen erleben wir in sozialen Medien wie Facebook oder Instagram ein anderes Phänomen: Dort werden lieber selektive Thesen prominenter Aktivist*innen in Fan-Club-Manier von Betroffenen mit persönlichen Erfahrungen und viel Verbitterung beklatscht – während die strukturellen Ursachen der Exklusion kaum je benannt oder diskutiert werden. Das bequeme Einverständnis mit individuell erfahrener Ohnmacht ersetzt die Analyse des Systems, das diese Ohnmacht überhaupt erst hervorbringt. So verfestigt sich eine Echokammer, in der Betroffenheit applaudiert wird, aber Veränderung ausbleibt.

Natürlich muss man den Aktivist*innen eine gewisse Reaktionszeit zugestehen. Niemand ist zur Sofortantwort verpflichtet. Doch gerade weil der Artikel bereits öffentlich und vielfach geteilt wurde, ist es auffällig, dass bislang keinerlei Rückmeldungen erfolgt sind – kein Einspruch, keine Zustimmung, keine Empörung. Schweigen im Walde. Und dieses Schweigen ist nicht neutral. Es ist sprechend.

Lesermeinungen

Bitte beachten Sie unsere Regeln in der Netiquette, unsere Nutzungsbestimmungen und unsere Datenschutzhinweise.

Sie müssen angemeldet sein, um eine Lesermeinung verfassen zu können. Sie können sich mit einem bereits existierenden Disqus-, Facebook-, Google-, Twitter-, Microsoft- oder Youtube-Account schnell und einfach anmelden. Oder Sie registrieren sich bei uns, dazu können Sie folgende Anleitung lesen: Link
8 Lesermeinungen
Neueste
Älteste
Inline Feedbacks
Alle Lesermeinungen ansehen
Silvia Hauser
01.04.2025 16:30

Lieber Martin Theben, dialogische Reaktionen wie die Ihre, ob zustimmend oder kritisch, auf meine Kolumnen (oder die von Ralph Milewki u.a.) vermisse ich von Seiten des behindertenpolitischen Aktivismus (und seiner VertreterInnen). Daher mein „offener Brief“, der explizit eine „Bitte“ formuliert, „nötigen“ möchte und kann ich niemanden. Erst recht nicht, wie Sie fürchten, zu einer „gesinnungsethischen Stellungnahme“. Okay, ich übe auf die im Brief Angesprochenen den „zwanglosen Zwang“ argumentativen Sich-Rechfertigens (Habermas) aus, ohne diese Zumutung gibt es keinen Diskurs. Ich wünschte mir eine kontroverse Debatte über ein so existenzielles Thema wie Krieg und Frieden. Dieser Wunsch ist kein „unfriedlicher“, Debattenstreit zwischen unterschiedlichen Auffassungen in der Sache ist meines Erachtens kein „spalterisches“ Verhalten. Im Gegenteil, Streiten verbindet! In diesem Sinne mit Dank und Gruß Hans-Willi Weis

Arnd Hellinger
01.04.2025 00:18

Sorry, aber seit Hubert Hüppes Zustimmung zu den AfD-CDU-Anträgen im Bundestag zur Migrationspolitik im Januar 2025 sowie seiner Mitzeichnung der Schuldenbremsen-Klage in 2022 kann ich ihn als Vorkämpfer für Inklusion nicht mehr ernst nehmen. Die umfasst nämlich nicht nur Menschen mit Behinderung oder Assistenz-/Förderbedarfen, sondern in gleicher Weise auch solche mit Fluchtgeschichte, Migrationshintergrund…

Wir sollten wirklich aufpassen, mit wem wir uns da verbünden oder vor wessen Karren wir uns spannen lassen.

Silvia Hauser
31.03.2025 16:27

In der behindertenpolitischen Community herrscht Wagenburgmentalität und das mit dieser einhergehnde interne Kritik-Tabu, sorgt für ein komplettes debattenpolitisches Verstummen. Die unbeabsichtigte Selbstsabotage des Behindertenaktivismus, meine ich. Wirksamer kann sich eine politische Bewegung nicht selber boykottieren. Stimmen wie die von Ralph und die meine, richten da in etwa das aus, was die Redewendung verspricht: Steter Tropfen hölt den Stein (des Schweigens).
Ich lasse es mit meinen Kolumnen stetig tropfen. Dazu passend:
https://kobinet-nachrichten.org/2024/12/01/aufs-inklusionstheater-folgt-die-reality-schock-show/

i.A. von Hans-Willi Weis

Martin
Antwort auf  Silvia Hauser
01.04.2025 00:13

Lieber Hans-Willi Weis, ich lese immer mit großem Interesse ihre Beiträge zum Frieden und ihr engagiertes Eintreten dafür dass dieser kompromisslos vertreten wird. Aber mich befremdet dass dabei die behindertenpolitischen community zuweilen etwas diskreditiert wird. Ich habe auch nicht verstanden wieso Sie sich an drei besonders aktiven MitgliederInnen dieser Community so abarbeiten und quasi im Wege einer Art Gesinnungsethik verlangen dass sie sich zum Thema Frieden äußern. Das finde ich weder besonders friedvoll noch inklusiv und ist dazu angetan die Bewegung zu spalten. Worin ich Ihnen zustimme ist dass es sicherlich manchmal sinnvoll wäre sich nicht nur um spezifische behindertenpolitische Themen zu kümmern sondern den Blick über den Tellerrand hinaus zuheben. Also bleiben Sie so wie sie sind und gestehen uns anderen zu dass wir lernfähig bleiben es grüßt sie herzlich Martin Theben aus Berlin

Uwe Heineker
31.03.2025 14:02

Ralph, wie immer eine haarscharfe Analyse – und vor allem: Du legst kräftig die Finger in die Wunde und hälst dabei gleichzeitig einen Spiegel vor.

Uwe Heineker
Antwort auf  Uwe Heineker
31.03.2025 16:25

upgrade:: Ex-Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel brach ebenfalls mit der deutschen Politik gegenüber Menschen mit Behinderung. Sie benannte, wie sie isoliert und diskriminiert werden. Das war ein Novum. Aber niemand hörte ihr zu. Mehr hierzu https://de.nachrichten.yahoo.com/kommentar-merkel-startet-eine-revolte-und-keiner-hoert-hin-101627581.html?mc_cid=2647c0be87&mc_eid=d7af9cdb73&_guc_consent_skip=1665882201

Ralph Milewski
Antwort auf  Uwe Heineker
31.03.2025 18:11

Warum kam wohl dieses klare Bekenntnis zu echter Teilhabe erst 2021? Die Antwort liegt auf der Hand: Weil es unverbindlich und ungefährlich war. Merkel hatte nichts mehr zu verlieren – kein politisches Amt zu verteidigen, keine Koalition mehr zu halten, keine Haushaltsdebatte mehr zu führen. Ihre Worte konnten endlich idealistisch klingen, weil sie nicht mehr mit konkretem politischem Handeln unterfüttert werden mussten. Es war das typische Muster politischer Abschiedsreden: mutig im Ton, folgenlos in der Wirkung.

Gerade darin lag das eigentliche Problem. Denn echte Inklusion hätte eine Auseinandersetzung mit bestehenden Machtverhältnissen, Ressourcenzuteilungen und gesellschaftlichen Normen erfordert. Doch solche Konflikte hatte Merkel in ihrer Amtszeit stets gemieden. Ihre späte Rhetorik war damit nicht Ausdruck eines Wandels, sondern das letzte Kapitel einer langen Politik des Verwaltens – statt des Gestaltens.

Uwe Heineker
Antwort auf  Ralph Milewski
31.03.2025 20:50

Ralph, ich prophezeie dir: bei der nächsten UN-Staatenprpüfung zur Umsetzung des UNO-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung erhält Deutschland – nach 2015 und 2023 – erneut eine harsche Rüge und es wird weiterhin ignoriert werden….