![Abbild des Behindertenausweises vom Autor von 1988](https://redaktion.kobinet-nachrichten.org/wp-content/uploads/img_3276.jpg)
Foto: Hans-Willi Weis
Staufen (kobinet) Genau, das ist die richtige Reihenfolge. Machen wir nicht länger mit beim Inklusionstheater und ist somit Schluss mit dem Theaterspielen – Theaterspielen im Sinne von sich und anderen etwas vormachen –, so besteht der nächste Schritt darin, sich der Realität auszusetzen. Und das wird jetzt eine echt harte Nummer. Und zwar desto härter, je dauerhafter und je realitätsabgewandter man sich bereits im Verdrängungsdunst und „ immer Inklusiver-Modus“ der Teilhabe-Illusion seiner jeweiligen Community-Bubble eingerichtet hat. Wie es nach dem nun fälligen Realitätsschock weitergeht, schauen wir dann mal. Achtung, es folgt die Wirklichkeitskonfrontation, ich steche jetzt mit der Nadel in die Blase.
Bei abgestufter Dosierung ist der Realitätsschock noch gerade so erträglich
Soll heißen, wir werden von der hereinbrechenden Wirklichkeit nicht so geflasht, dass es uns aus den Socken haut und wir nur mit Mühe wieder auf die Beine oder in den Rollstuhl kommen. Die Inklusionsblase ist kein Luftballon, weshalb sie auch nicht mit einem lauten Knall platzt. Es macht pfff und die Zugluft der umgebenden Realität strömt herein, es wird kühl um die Ohren, aber sonst passiert einem nichts. Na also, geht doch. – Jetzt hilft es uns, wenn wir der Realität sozusagen in dreifach abgestufter Dosierung ins Auge schauen.
Die niedrigste Dosierungsstufe: Die Realität für Behinderte am Beispiel „Schule und Inklusion“, die lapidare Einschätzung eines engagierten Lehrers in einem Wort sozusagen. Mittlere Dosierungsstufe: Die Realität insgesamt für Behinderte hierzulande, wiederum mit einem Wort, diesmal aus dem Mund einer Schriftstellerin. Die dritte und heftigste Dosis: „Allgemeiner Arbeitsmarkt“ oder wo es wirtschaftlich und gesellschaftlich hingeht, ein unternehmerisch erfolgreicher Behinderter redet dankenswerter Weise Klartext und seine Expertise wird daher ausführlicher zitiert. – Wie weit spiegelt sich in diesen Stimmen die ungeschminkte gesellschaftliche Realität? Sehr weitgehend! Daneben gibt es gewiss Rand-und Nischenrealitäten mit abweichender Perspektive, sie sind nur leider die unmaßgeblichen. Unmaßgeblich für die Richtung, in der der Zug der gesamtgesellschaftlichen Wirklichkeit soeben abgefahren ist.
„Das ist durch“, Regelschule und Inklusion
Was soviel bedeutet wie, der Zug ist abgefahren, in die entgegengesetzte Richtung. – Mitte des Jahres führte Sascha Lang ein Igel-Podcastgespräch mit dem Lehrer (Oberstudienrat) und Sachbuchautor Bob Blume, einem der im personenzentriert humanistischen Sinne innovativsten Köpfe im Kompetenzbereich Bildung, Schule, Unterricht und autonomes, d.h. selbstbestimmtes Lernen im digitalen Zeitalter. Frage: „Warum glaubst Du, dass wir in Deutschland keinen Aufschrei in der Bildungswelt gehabt haben, als sie bei der UN-Behindertenrechtskonvention, bei der Präsentation oder in Genf gerügt wurde?“ Die Antwort des Gastes zusammengefasst und paraphrasiert: Wenn etwa die Iglu-Studie die hiesige Bildungsmisere aufzeigt, wo wir im Hintertreffen sind und es nicht vorangeht, bekomme man in puncto schulische Behinderteninklusion als die herrschende Auffassung zu hören, wenn da jetzt Behinderte dazukämen, dann wäre alles noch langsamer. Wodurch sozusagen das eigene nichtbehinderte Kind ausgebremst würde. Daher die ablehnende Haltung gegenüber der schulischen Aufnahme behinderter Kinder.
Blume wörtlich:„ Die Menschen wollen es so, weil sie Angst haben, dass irgendwie sonst ihr Gabriel nicht so schnell ist … mein Kind soll aber, blablabla … So dass mit der deutschen Drei- bzw. Viergliedrigkeit das Thema der flächendeckenden Inklusion abgehakt ist, das ist durch, der Kampf ist geführt worden, da haben sich ein paar Gymnasialeltern quergestellt, dann haben sich Gymnasiallehrer quergestellt, da gibt es ganze Verbände, die sich hinstellen und die wahnsinnig gut sprechen können, die sagen dann so was wie, das ist doch die schulische Pluralität, es gibt doch verschiedenste Angebote, da kann doch jeder nehmen, was er möchte, um das System beizubehalten … Sein Fazit: „Jeder, der da jetzt hinzukommt, der stört eigentlich. Und diese Dinge sorgen dafür, dass aus meiner Sicht das Thema für die meisten – also ich sage das jetzt, nicht weil das für mich so
ist, sondern weil das die traurige Wahrheit ist, das Thema ist für die meisten durch.“
Es lohnt sich das Gespräch mit dem exzellenten Kenner des seitens antagonistischer Interessengruppen, Privilegienverfechtern, Lobbys und Verbänden umkämpften Brennpunkts
Schule in Gänze anzuhören. Spannend seine Utopie eines „zu hundert Prozent individualisierten Lernens“ mittels gezielter KI-Anwendung. Link zum Podcast:
https://kobinet-nachrichten.org/2024/09/21/200-igel-podcast-episode-ist-inklusion-in-der-bildung-realisierbar/
Der Behindertenalltag heute ein grundlegend anderer, „theoretisch ja, praktisch nein“
In ihrem neuen Roman hat die Ostberliner Schriftstellerin Katja Lange-Müller (geb.1951) einen
Behinderten zu einer der Hauptfiguren gemacht und das Buch trägt auch dessen Namen als Titel, „Über Ole“. Während einer Lesung wird die Autorin, die selber beruflich viele Jahre in der psychosozialen Betreuung Behinderter und chronisch kranker Menschen tätig gewesen ist und für ihr Buch nochmals ausführlich zu deren Lage recherchiert hat, von der Moderatorin gefragt, ob sich denn inzwischen der Alltag für Behinderte gegenüber früher, in den zurückliegenden drei Jahrzehnten seit den 1990er Jahren etwa, verändert und verbessert habe. „Theoretisch ja, praktisch nicht“, lautet die Antwort der Autorin, rechtlich habe sich da eine Menge getan, nur werde es nicht oder unzureichend umgesetzt und in der Alltagswirklichkeit der meisten Behinderten habe sich daher kaum etwas verändert. (Nachzuhören auf SWR Kultur „Vor Ort“, Oktober 2024). – Der auf
beruflicher Milieukenntnis und persönlicher Recherche basierende Befund der Schriftstellerin deckt sich mit dem Ergebnis der Staatenprüfung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention. Das Ende der Diskriminierung und die gleichberechtigte Teilhabe von behinderten Menschen sind ihnen lediglich auf dem Papier zugesichert, ihre realgesellschaftliche Situation und ihre alltägliche Wirklichkeit sieht anders aus. Und in Anbetracht der gegenwärtigen politischen Großwetterlage, national wie international, besteht nicht einmal mehr Aussicht auf eine zeitlich gestreckte, graduelle Verbesserung und Annäherung an das offenbar schönwetterzeitliche Desiderat der Inklusion.
Ungeschminkter Wirklichkeitsbrutalismus, ein unternehmerisch erfolgreicher Behinderter empfiehlt
sein Blind Date mit dem neoliberalen Mindset
„Vom Tellerwäscher zum Millionär“, das bewährte Rezept zum beruflichen Erfolg gilt wörtlich im Fall des erfolgreichen Unternehmers Saliya Kahawattte, der den Kellner-und Hotelierberuf von der Pike auf gelernt hat. Von seiner starken Sehbehinderung („Sicht wie durch eine Milchglasscheibe“) hat er sich nicht vom Erfolgskurs abbringen lassen, so dass das sprichwörtliche „Augen zu und durch“ wiederum wörtlich auf ihn zutrifft. Drogenmissbrauch, mehrere Suizidversuche und ein längerer Psychiatrieaufenthalt sind markante Zwischenstationen seines zuletzt unaufhaltsamen Aufstiegs. Zum international tätigen Management-Trainer, Businesscoach, Beratungsguru. „Stiften“ geht er auch und tut mit seinen Stiftungsgeldern Gutes für Behinderte, speziell für Sehbehinderte und Blinde. Und in diesem Zusammenhang hat ihn Sascha Lang angesprochen und ihn für ein höchst aufschlussreiches Gespräch im Igel-Podcast gewinnen können. – Also, wenn uns jemand verbindliche Auskunft über die knallharten Tatsachen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Realität geben kann, dann dieser Selfmade-Superman, der den Dreh raus hat, wie man sein Glück macht, sich selbst und das Land, den Wirtschaftsstandort voranbringt. Letztlich hängt alles vom richtigen Mindset ab.
Soweit in der Podcasteinleitung die rasante Tour dHorizon durch Kahawattes bewegte Biographie mit ihren halsbrecherischen Abstürzen und dem finalen beruflichen und unternehmerischen Erfolg. An dessen Beginn, dem Abschluss eines Managementstudiums 2006, wiederum als erstes ausschließlich Unternehmensabsagen an den sehbehinderten Jobbewerber standen. Mit Blick auf das damalige Arbeitgeber-Nein zur Einstellung eines Behinderten fragt Sascha den von Firmen damals schmählich Abgelehnten, der heute „voll der Workaholic massiver in der Welt steht als je zuvor“, zuerst danach, ob sich denn nunmehr 2024, 18 Jahre danach, das Arbeitgeberverhalten Behinderten gegenüber verändert habe. Nein, im Gegenteil, antwortet ihm der inzwischen selber zum Firmenchef Avancierte, die Ablehnung und Nichteinstellung behinderter Menschen habe sich auf Unternehmens-und Firmenseite verfestigt, „die Barrieren in den Köpfen der Menschen sind gefühlt höher als vor Jahren noch“.
Dass die Gesellschaft inklusionspolitisch nicht nur seit Jahren auf der Stelle tritt, sondern mittlerweile sogar in den Rückwärtsgang geschaltet hat, hängt für den scharfen Beobachter Saliya Kahawatte mit der sozialen und wirtschaftlichen Gesamtsituation zusammen. Sein Bild der Lage: „In Deutschland ist momentan keine gute Stimmung, die Wirtschaft entwickelt sich negativ, wir sind in einer Rezession, er werden mehr Stellen abgebaut, Menschen werden freigesetzt als Menschen eingestellt. Und es ist immer so, dass in so einem Klima für Menschen mit Behinderung noch weniger Platz ist. Also die Zeichen der Entwicklung gehen für mich wirtschaftlich nach unten … und da fallen die Menschen mit Behinderung erst recht runter.“
Nun seine Empfehlung an Behinderte auf Arbeitsplatzsuche: „Ich sage immer, Rezession ist die Konjunktur der Tüchtigen. So. Und jetzt drehen wir das ganze Ding mal um. Klar, ich bin auch eingeschränkt, genau wie Du. Ich kann viele Dinge nicht, aber was kann ich, wie kann ich mich fokussieren, bin ich Teil des Problems oder bin ich Teil der Lösung? Was muss ich tun? Ich kann natürlich noch auf irgendwelchen Gesetzen herumreiten, sagen, ich mach nur Homeoffice und ich will nur drei Tage arbeiten und 30 Stunden und ich will mein Geschäftsauto. Nein! Was kann ich tun, damit ich hier den Laden voranbringe!“– Alles Originalton Kahawatte, die letzten Worte besonders nachdrücklich und suggestiv.
Kahawatte meint mit „den Laden voranbringen als Behinderter“, nicht nur das Unternehmen, bei dem sich Behinderte um eine Stelle bewerben, sondern das Land insgesamt voranbringen. Dadurch, dass wir Behinderte uns ihm nicht länger als ein Problem präsentieren, dem Land Probleme machen, sondern uns zu einem Teil der Lösung machen. Dabei empfiehlt er sich selbst als Beispiel und Vorbild. Nochmals Originalton:„ Ich hab selbst ne Sieben-Tage-Woche und Mitte der Woche schon meine vierzig Stunden voll … ich muss hier in die Hände spucken und Schlag reinhauen. Und ich kann mich hier nicht auf meinen Stuhl setzen und sagen, ich bin aber behindert und brauch jetzt ne Pause und ich brauch Urlaub … Wir sind in einer Rezession und jetzt heißt es, in die Hände spucken und ranklotzen … Wir Menschen sind so gestrickt, dass wir immer hoffen, dass uns irgendwie der Staat hilft oder jemand anders muss uns helfen … Ich hab eins in meinem Leben gelernt, alles, was mich wirklich in meinem Leben vorangebracht hat, das hab ich aus eigener Kraft
geschafft. … 99,9 Prozent der Probleme, die man glaubt als Behinderter zu haben, die regeln sich durch Nachdenken und Ranklotzen und nicht durch warten und der ist aber Schuld und die haben mir das gemacht … Du musst erst mal was abliefern, Du musst jetzt mal was Außergewöhnliches tun … eine Behinderung lehrt uns, Außergewöhnliches zu tun und außergewöhnlich zu denken und das lernen wir durch uns selbst … Die meisten Leute, die ich da draußen kennenlerne, ob Gesunde oder Behinderte, die wollen alle oben einsteigen, keiner möchte da unten anfangen, aber es gibt keinen Aufzug zum Erfolg, du musst immer die Treppe nehmen … statt zu jammern auf hohem Niveau, uns gehts hier noch recht gut und auch Menschen mit Behinderung kommen erst mal irgendwie klar.“
Mit diesen Worten des außergewöhnlichen Showmasters Saliya Kahawatte schließt die Reality-Schock-Show, der Vorhang fällt, die Geisterstunde hat begonnen. Wen unter uns behinderten oder chronisch kranken Menschen die Aufforderung zum Ranklotzen und Außergewöhnlichsein nicht überzeugt, der oder die demonstriert damit ihr Festhalten an einem geistig beschränkten Mindset. Statt es gegen das „wachstumsorientierte Mindset“ von Kahawattes Firma Minus Visus auszuwechseln und sich schleunigst deren Erfolgsprogramm „Grenzen gibt es nicht oder man baut halt eigene“ draufzuschaffen. „Sich auf die Sonnenseite des Lebens begeben“, rät die Website von Kahawattes Unternehmen. Und weiter, „verwirkliche dich mit dem höchsten Wirkungsgrad, um die beste Version von dir selbst zu werden … der Konkurrenz immer eine Nasenlänge voraus sein, ohne seine Schwächen aufzudecken.“
P.S. Was Saliya und mich verbindet und was uns beide trennt
Das Verbindende zuerst. Bei der Lektüre seines Bestsellers „Mein Blind Date mit dem Leben“ entdeckte ich, dass wir eine gemeinsame Bekannte haben. Die dicke Lupe. Ihm hat sie nützliche Dienste beim Entziffern der Etiketten von Weinflaschen geleistet, edle Tropfen darunter. Mir half sie, mich durch soziologische und philosophische Klassiker zu quälen, Karl Marx, „Das Kapital“ oder Immanuel Kant „Kritik der Urteilskraft“. Über die gemeinsame Bekanntschaft mit der dicken Lupe (anschließend auch Bildschirmlesegeräten) hinaus, verbindet uns ein je eigener Bezug zur meditativen Tradition des Buddhismus. – Das uns Trennende: Dass Saliya sich zum Sprachrohr eines ungeschminkten Wirklichkeitsbrutalismus macht, den er selber wohl nicht so bezeichnen würde. Auch deshalb, weil er die hiesigen Bedingungen für Behinderte mit denen in Ländern wie
Ceylon vergleicht, wo Behinderte auf der Straße betteln müssen. Wenn arbeitslos, bekommen sie bei uns Hartz IV und andere Hilfen und hätten so im internationalen Vergleich keinen Grund, sich zu beklagen. Hierzulande bekämen sie die Chance, „ein volkswirtschaftlich sinnvolles Leben zu führen“. Diese Formel Saliyas vom „volkswirtschaftlich sinnvollen Leben“ (aus der Einleitung seines Buchs) beunruhigt mich. Nicht, weil ich selbst auf kein volkswirtschaftlich sinnvolles Leben zurückblicken kann, sondern dabei an ein anderes unheilvolles Kriterium erinnert werde. Die fatale Unterscheidung zwischen einem lebenswerten und einem „lebensunwerten Leben“.
Zugeeignet ist diese Kolumne, Sascha Lang, unserem Inklusator. Dessen IGEL-Podcast so unterschiedliche Stimmen zu Wort kommen lässt wie Saliyas und meine.
Die Links zu diesen beiden Episoden des IGEL-Podcast:
https://kobinet-nachrichten.org/2024/01/20/igel-podcast-manchmal-erleichtert-unwissenheit-das-leben/
https://kobinet-nachrichten.org/2024/11/04/vom-blind-date-ueber-den-absturz-zum-erfolgreichen-unternehmer/