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Von der Paralympics-Studie zur echten Inklusion – Teil 2: Wer Inklusion will, muss Trennung beenden

roter Schriftzug
Ein Los für das gute Gewissen
Foto: Ralph Milewski

Fladungen (kobinet) Die IGEL Podcastfolge zur Studie der Aktion Mensch lieferte aufschlussreiche Aussagen – aber auch eine bezeichnende Leerstelle: Die grundsätzliche Struktur der Paralympics als separiertes System wurde nicht wirklich infrage gestellt. Zwar wurde die Rede von "ungleichen Chancen" und "fehlender Nachhaltigkeit" geführt – doch die eigentliche Konsequenz, nämlich die Auflösung solcher Sonderstrukturen, blieb unausgesprochen.

Der sportliche Wettkampf in Paris 2024 war ohne Zweifel bewegend und professionell inszeniert. Wenn der paralympische Sport emotional berührt, technisch perfekt organisiert ist und medial große Bühne bekommt, entsteht eine Illusion von Gleichwertigkeit. Diese Illusion ist trügerisch, denn sie macht strukturelle Ungleichheit ästhetisch erträglich. Im schlimmsten Fall wird sie sogar als „andere Form von Gleichwertigkeit“ umgedeutet und verteidigt.

Doch Gleichwertigkeit im Eindruck ersetzt keine Gleichstellung in der Struktur. Oder zugespitzt: Wenn die Inszenierung gut genug ist, soll die Realität bitte schweigen.

Und genau das passiert bei den Paralympics – seit Jahrzehnten: getrenntes System, getrennte Förderung, getrennte Aufmerksamkeit. Und das alles unter dem Deckmantel von Professionalität, Emotion und Vorbildwirkung.

Die Wahrheit aber ist: Ein getrenntes System kann nicht inklusiv sein. Selbst dann nicht, wenn es perfekt inszeniert ist.

Je perfekter die Inszenierung, desto schwerer wird die Kritik daran. Denn dann gilt jede Infragestellung als Miesmacherei – nicht als notwendige Analyse. Und das ist der Grund, warum die strukturelle Ungleichheit weiterleben darf: Weil sie nicht mehr hässlich, sondern heroisierbar ist.

Wenn wir Akzeptanz von Trennung mit der Schönheit ihrer Darstellung rechtfertigen, verabschieden wir uns von echter Inklusion. Dann reicht es künftig, gute Bilder zu liefern – anstatt gerechte Strukturen zu schaffen. Und das kann niemand wollen, der es mit Teilhabe ernst meint.

Doch genau darin liegt die Gefahr: Wer das Event feiert, verliert schnell den Blick auf die Realität dahinter. 55 % der Menschen mit Behinderung treiben keinen Sport. Die allermeisten haben keinen Zugang zu Sportstätten, keinen Verein, keine Trainerin, keine Mobilität, keine Assistenz. Die wenigen, die es bis zur internationalen Bühne schaffen, stehen sinnbildlich für das, was nicht gelungen ist: eine gesamtgesellschaftliche Sportstruktur, die allen offensteht – jeden Tag, überall.

Dass Aktion Mensch dies nun anspricht, ist begrüßenswert. Dass sie dennoch weiterhin an der Paralympics-Logik festhält, ist widersprüchlich. Es braucht keine neuen Hochglanzveranstaltungen mit Image-Effekt. Es braucht barrierefreie Hallen, inklusive Vereinsstrukturen, eine Assistenzfinanzierung ohne Absurditäten – und Menschen, die nicht nur dargestellt, sondern ermächtigt werden.

Aktion Mensch kann und muss sich entscheiden: Will sie Teil eines Systems sein, das Sonderschienen und Außendarstellung produziert? Oder will sie Teil der Lösung sein – durch gezielte Förderung von Mainstream-Strukturen, in denen Behinderung keine Eintrittshürde mehr ist?

Dazu gehört auch die Selbstkorrektur: Wer jahrzehntelang die Paralympics befeuert hat, sollte den Mut haben, ihre strukturelle Exklusion nicht nur zu erkennen – sondern laut und klar zu benennen.

Inklusion ist nicht die Inszenierung von „Held*innen mit Handicap“. Inklusion ist der Verzicht auf Sonderwege. Auf Trennung. Auf Etiketten.

Sätze wie „Nicht alles für jeden, aber für jeden etwas“ oder „Es geht nicht immer alles, aber es geht auch niemals nichts“ kaschieren strukturelle Ungleichheit mit sprachlichem Trostpflaster. Was hier rhetorisch als Ermutigung daherkommt, ist in Wahrheit eine Verschiebung der Verantwortung: Wer trotz Hindernissen nicht teilhaben kann, soll eben kreativ, flexibel oder erfinderisch sein – oder sich mit weniger zufriedengeben.

Doch Inklusion darf keine Frage von Durchhaltewillen oder Einfallsreichtum sein. Wer nicht ins Kino kommt, nicht zum Hausarzt oder ins Sportzentrum – der braucht kein Zitat, sondern Zugang. Teilhaben kann nur, wer dabei sein kann. Ohne Wenn. Ohne Aber.

Inklusion ist kein individueller Kraftakt, sondern ein kollektiver Auftrag. Sie darf nicht davon abhängen, wie findig jemand ist – sondern davon, ob Strukturen so gebaut sind, dass niemand außen vor bleibt. Auch ohne Tricks und persönliche Netzwerke.

Inklusion ist keine Stimmung. Sie ist Struktur. Und sie ist überfällig. Die Paralympics-Studie  ist ein Anfang. Ihre logische Fortsetzung wäre: Förderlogiken umbauen. Sonderwelten hinterfragen. Strukturen ändern.

Alles andere ist Wiederholung – im Scheinwerferlicht.

Lesermeinungen

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Ralph Milewski
21.05.2025 17:17

Dressurreiten – Warum eigentlich getrennt?

Kaum eine Disziplin zeigt so deutlich, wie sehr die Trennung zwischen Paralympics und Olympics nicht auf sportlichen Notwendigkeiten, sondern auf kulturellen Abgrenzungsmechanismen basiert wie das Dressurreiten. Wer sich die Frage stellt, ob Inklusion im Leistungssport möglich sei, findet hier ein ernüchternd klares Beispiel: Ja, sie wäre es – wenn man sie wollte.

Denn Dressurreiten ist kein klassischer körperzentrierter Wettbewerb, bei dem Schnelligkeit, Kraft oder Reaktionsfähigkeit im Zentrum stehen. Vielmehr handelt es sich um eine interaktive Disziplin zwischen Pferd und Mensch, bei der feine Kommunikation, Training, Vertrauen und ein gemeinsamer Bewegungsfluss bewertet werden. Es ist eine Sportart, bei der der Mensch das Pferd führt – nicht mit Kraft, sondern mit Technik, Rhythmus und Körpersprache.

Die entscheidende Beobachtung: Das Pferd ist aktiver Mitspieler, nicht passives Sportgerät. Es gleicht vieles aus – auch körperliche Einschränkungen des Reiters. Bei entsprechendem Training entwickelt sich ein Team, bei dem es kaum relevant ist, ob der Reiter ein Bein nicht benutzen kann oder im Rollstuhl sitzt. Das Pferd reagiert auf feinste Signale – nicht auf stereotype körperliche „Normalität“. Es gibt kein technisches Argument, warum nichtbehinderte und behinderte Reiter*innen in derselben Prüfung starten könnten.

Warum also gibt es weiterhin getrennte Wettbewerbe?

Weil es gewollt ist. Nicht vom Pferd, nicht von der Sportlogik, sondern von den Strukturen des Systems. Die Trennung folgt nicht funktionalen, sondern symbolischen Kriterien. Sie erfüllt die Aufgabe, „Behinderung“ als eigenständige, markierte Kategorie sichtbar zu halten – selbst dort, wo sie sportlich keine Rolle spielt.

Das Dressurreiten wird dadurch zum Beweis für eine unangenehme Wahrheit: Viele Trennungen im Sport sind nicht durch Fairness motiviert, sondern durch das Bedürfnis nach Ordnung, Kontrolle und Kategorisierung. Die Paralympics dienen hier weniger der Gleichberechtigung als der symbolischen Verwaltung von Differenz.

Die Folge: Anstatt zu fragen, wo Unterschiede sportlich relevant sind, wird pauschal getrennt – um jeden Preis. Das hat nichts mit Inklusion zu tun. Und es zeigt, wie sehr das derzeitige Sportsystem Exklusion zur strukturellen Norm gemacht hat – selbst dort, wo sie sachlich unnötig ist.

Dressurreiten könnte heute schon inklusiv sein. Es wäre ein Schlüsselbeispiel dafür, dass Leistung und Teilhabe sich nicht ausschließen. Dass Vielfalt im Sport nicht in eigene Arenen ausgesondert werden muss. Und dass Inklusion eben nicht bedeutet, sich alles zu teilen – sondern gemeinsam unter einem Dach stattzufinden, in einer gemeinsamen Struktur.

Solange das nicht geschieht, bleibt auch die Inklusionsrhetorik des internationalen Sportsystems hohl. Denn wenn nicht einmal dort gemeinsam geritten wird, wo es faktisch möglich wäre – wo dann?

Jan Saathoff
19.05.2025 09:53

Kann sportlicher Wettbewerb inklusiv sein? Ich finde die Special Olympics toll, würde aber nie behaupten, dass die inklusiv sind. Was sähen inklusive Special Olympics und Paralympics aus? Ich kann mir das einfach nicht vorstellen.

Ralph Milewski
Antwort auf  Jan Saathoff
19.05.2025 11:17

Ihre Frage ist berechtigt – und sie greift einen zentralen Punkt auf: Kann sportlicher Wettbewerb inklusiv sein? Ich meine: Ja – wenn wir Inklusion nicht als Gleichmacherei missverstehen, sondern als gemeinsame Struktur. Niemand fordert, dass alle dieselben Strecken laufen oder identische Leistungen bringen müssen. Unterschiede in Fähigkeiten, Voraussetzungen und Klassifizierungen gehören zum Sport – so wie es zwischen Männern und Frauen, zwischen Altersgruppen oder zwischen Gewichtsklassen längst üblich ist. Doch all diese Unterschiede bestehen innerhalb eines gemeinsamen Sportereignisses – unter einem Dach. Niemand käme auf die Idee, „Männer-Olympics“ und „Frauen-Olympics“ als völlig getrennte Veranstaltungen durchzuführen. Warum also tun wir genau das im Behindertensport?

Die eigentliche Forderung ist nicht, dass alle gegeneinander antreten sollen, sondern dass alle innerhalb desselben Sportsystems sichtbar, präsent und strukturell mitgedacht werden. Es braucht gemeinsame Strukturen statt separater Parallelwelten, gleiche Sichtbarkeit statt Sonderinszenierungen, Teilhabe im selben System – nicht in einer symbolisch tolerierten Sonderzone. Es geht nicht um unmittelbaren sportlichen Vergleich, sondern um gleichwertige Präsenz, um Zugehörigkeit, um ein Miteinander im gleichen Rahmen. Inklusion heißt: unterschiedlich sein – aber nicht getrennt.

Jan Saathoff
Antwort auf  Ralph Milewski
19.05.2025 19:30

Mit der Antwort verstehe ich es etwas besser, vielen Dank. Ich denke aber weiterhin, dass Wettbewerbssport mit seinen Etikettierungen (die sie ja auch ansprechen), in einem innersten nicht inklusiv ist. Das kann nur eine andere Art von Sport sein, glaube ich.

bei den gemeinsamen Strukturen gehe ich mit und zweifle gleichzeitig, weil das System m.E. kein Sportsystem ist (zumindest nicht nur), sondern in großen Teilen ein Unterhaltungssystem. Und das sorgt möglicherweise für ein viel stärkeres Ungleichgewicht als der sportliche Aspekt. Entertainment funktioniert wieder nach eigenen Regeln. Bedeuten inklusive Maßnahmen hier das gleiche wie in einem Sportsystem?

Klaus K
Antwort auf  Ralph Milewski
21.05.2025 10:39

Daraus folgt aber auch, dass „Special Olympics & Co“ eben nicht inklusiv sind, sondern Olympiade erst noch inklusiv werden muss. Doch warum sind derartige Ansätze nie als Forderungen
vorangetrieben worden?

Klaus K
Antwort auf  Jan Saathoff
21.05.2025 10:36

Vielleicht müsste man zur Klärung der Frage, den Begriff „Inklusion im Sport“ einmal definieren.
Am Ende geht es darum, allen Menschen die Teilhabe zu ermöglichen. Allen? Eben nicht, denn Teilhabe und Inklusion würde bedeuten, dass alle Menschen mit und ohne Einschränkungen, an einer Sportveranstaltung teilnehmen.

Daher sehe ich Ihre Frage berechtigt, wenn es für Menschen mit Einschränkungen besondere Sportveranstaltungen bedarf und man damit diese Menschen in eine andere sportbezogene Leistungsklasse packt.

Vielleicht sind die „Special Olympics“ aber auch nur eine Veranstaltung um Menschen mit Einschränkungen Möglichkeiten zu geben, ihre sportliche Leistung mit anderen Menschen im Wettkampf zu beweisen.

Stephan Laux
Antwort auf  Jan Saathoff
21.05.2025 11:16

Ein Anfang wäre, z.B. Rollstuhlbasketball olympisch werden zu lassen!
Eine Vision wäre, alle Bevölkerungsgruppen in gesellschaftlichen Großereignissen, wie Sportveranstaltungen, abzubilden.
Der Versuch, dieser Vision näherzukommen, wäre echte ernst gemeinte Inklusion!
Stephan Laux