Fladungen (kobinet) Im Spiegel der Außenseiterrolle Mein kobinet-Kollege Hans-Willi Weis empfahl mir kürzlich die Sendung „Außenseiter – Annäherung an eine bedrohte Art“ aus der Reihe Essay und Diskurs im Deutschlandfunk. Die dort aufgeworfenen Fragen über Außenseiterrollen und gesellschaftliche Dynamiken haben mich zum Nachdenken angeregt und bieten interessante Parallelen zu meinen bisherigen Überlegungen über die Identitätsfalle der Behinderung. Gleichzeitig zeigen sich grundlegende Unterschiede, die eine weitergehende Analyse erfordern.
Der Außenseiter – Freiwillige oder unfreiwillige Rolle?
Der Podcast diskutiert Außenseiter als Menschen, die bewusst oder unbewusst außerhalb gesellschaftlicher Normen stehen. Diese Rolle kann teils selbst gewählt, teils auferlegt sein. Außenseiter zeichnen sich oft durch Individualität und Abweichung von Erwartungen aus – sei es aus Überzeugung oder aufgrund sozialer Mechanismen.
Menschen mit Behinderungen befinden sich hingegen in einer spezifischen Situation: Ihre Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlich definierten Gruppe ist selten freiwillig. Sie erleben eine Fremdzuschreibung, die auf äußeren Merkmalen und institutionellen Kategorien basiert. Diese Zuschreibung ist nicht nur statisch, sondern auch notwendig, um Ansprüche auf Hilfen und Rechte geltend zu machen. Damit unterscheidet sich ihre Situation grundlegend von der vieler Außenseiter, die ihre Position aktiv wählen oder verändern können.
Die Kategorisierung als soziale Struktur
Ein zentrales Thema, das der Podcast aufgreift, ist die Kategorisierung. Während Außenseiter im Sport oder in kulturellen Kontexten oft durch eine „falsche Zuordnung“ definiert werden, könnte ein Wechsel in die passende Kategorie ihre Position verändern. Sie bleiben also potenziell mobil innerhalb gesellschaftlicher Strukturen.
Für Menschen mit Behinderungen verhält es sich anders: Ihre Kategorisierung ist strukturell und dauerhaft. Sie basiert auf gesetzlichen Definitionen und bürokratischen Anforderungen, die eine Flexibilität oft unmöglich machen. Statt Teil eines dynamischen Systems zu sein, in dem Positionen verhandelbar sind, erleben sie ihre Kategorie als unveränderliche Tatsache.
Diese starre Einordnung führt zu einem Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Selbstbestimmung und der Notwendigkeit, die eigene Einschränkung darzustellen, um Hilfen zu erhalten. Dies macht es schwer, aus der Fremdzuschreibung auszubrechen oder alternative Rollen zu gestalten.
Flucht in die Außenseiterrolle – Eine Illusion der Freiheit?
Die Außenseiterrolle kann auf den ersten Blick wie eine Möglichkeit erscheinen, der Fremdzuschreibung zu entkommen. Menschen könnten bewusst eine Identität als Außenseiter wählen, um sich von Normen abzugrenzen und Selbstbestimmung zu demonstrieren.
Doch diese Strategie birgt ein Paradoxon: Der Außenseiter definiert sich durch seine Abgrenzung zu gesellschaftlichen Normen – und bleibt damit weiterhin von diesen abhängig. Die Außenseiterrolle ist nicht frei, sondern reagiert auf bestehende Zuschreibungen. Sie bietet keine echte Befreiung, sondern nur eine Verschiebung der Kategorien.
Für Menschen mit Behinderungen bedeutet dies: Die Flucht in eine Außenseiterrolle kann kurzfristig Freiräume schaffen, löst aber langfristig das Problem der strukturellen Abhängigkeit nicht. Die Identität bleibt weiterhin durch die ursprüngliche Fremdzuschreibung geprägt, auch wenn sie scheinbar selbst gewählt wurde.
Zwischen Anpassung und Widerstand – Wege zur Selbstbestimmung
Der Podcast hebt hervor, dass Außenseiter durch ihre Position oft neue Perspektiven eröffnen und gesellschaftliche Normen hinterfragen können. Doch während freiwillige Außenseiter dies aus einer Position der Wahl tun, befinden sich Menschen mit Behinderungen oft in einem ständigen Spannungsfeld zwischen Anpassung und Widerstand.
Mögliche Ansätze zur Selbstbehauptung:
- Narrative neu schreiben: Außenseiter nutzen oft Geschichten, um sich neu zu definieren. Menschen mit Behinderungen können durch Kunst, Sprache oder soziale Projekte neue Erzählungen schaffen, die über die Defizitorientierung hinausgehen.
- Freiwillige Gemeinschaften suchen: Der Podcast betont die Stärke freiwilliger Gruppen, die auf gemeinsamen Interessen beruhen. Diese Idee lässt sich übertragen, um Räume zu schaffen, in denen Menschen als Individuen wahrgenommen werden – jenseits von Labels.
- Grenzen setzen: Außenseiter positionieren sich oft bewusst gegen gesellschaftliche Erwartungen. Auch Menschen mit Behinderungen können durch bewusste Abgrenzung eigene Maßstäbe setzen und neue Wege der Darstellung etablieren.
Dekonstruktion der Fremdzuschreibung – Der Schlüssel zur Freiheit?
Eine nachhaltige Befreiung erfordert mehr als den Wechsel in eine Außenseiterrolle. Sie setzt eine Dekonstruktion der Fremdzuschreibung voraus – also die Hinterfragung und Auflösung der Mechanismen, die Menschen auf Kategorien reduzieren.
Schritte zur Dekonstruktion:
- Die Zuschreibung entlarven: Die gesellschaftlichen und institutionellen Strukturen, die Kategorien festlegen, müssen sichtbar gemacht und kritisch analysiert werden.
- Neue Narrative entwickeln: Statt auf Fremdzuschreibungen zu reagieren, sollten Menschen eigene Geschichten und Identitäten schaffen, die unabhängig von äußeren Etiketten bestehen.
- Strukturen hinterfragen und verändern: Es geht nicht darum, außerhalb des Systems zu stehen, sondern innerhalb des Systems neue Wege zu gestalten und bestehende Kategorien zu durchbrechen.
Fazit: Freiheit oder Verschiebung?
Der Außenseiter-Essay regt dazu an, über die Ambivalenz der Außenseiterrolle nachzudenken. Sie kann kurzfristig Freiräume schaffen und Normen hinterfragen – doch sie bleibt letztlich Teil des bestehenden Systems. Für Menschen mit Behinderungen reicht es daher nicht aus, sich als Außenseiter zu positionieren. Stattdessen erfordert echte Selbstbestimmung eine bewusste Dekonstruktion der Fremdzuschreibung und die Schaffung neuer Räume für individuelle Identitäten.
Die Sendung „Außenseiter – Annäherung an eine bedrohte Art“ aus der Reihe Essay und Diskurs im Deutschlandfunk bietet wertvolle Impulse für diese Reflexion. Sie zeigt, dass wahre Freiheit nicht durch Anpassung oder Abgrenzung entsteht, sondern durch die aktive Gestaltung neuer Narrative und Strukturen.
Links zu den vorherigen Teilen der Serie:
Teil 1: Wer oder was bin ich?
Teil 2: Freiwilligkeit und Zwang in der Gruppenzugehörigkeit
Teil 3: Wege zur persönlichen Befreiung
Teil 4: Reflexion über subtile Formen von Ableismus in der Kunstwelt
Empfehlung: Der Podcast ist für alle hörenswert, die sich mit Fragen von Identität, Zugehörigkeit und Selbstbestimmung auseinandersetzen möchten. Er ergänzt die Überlegungen dieser Serie und bietet Anknüpfungspunkte für weitergehende Diskussionen über Fremdzuschreibung, gesellschaftliche Normen und individuelle Freiheit.
Die beste Definition des Außenseiters bietet tatsächlich der Sport. Auch an der oberen Skala gibt es Außenseiter*innen. Im Umfeld der angeblich besten Basketballliga der Welt, der NBA, tobt derzeit eine Diskussion um den GOAT (greatest of all times). War es Michael Jordan oder ist es LeBron James?
„An der Spitze ist es einsam!“, beklagen sich oft Weltranglistenerste, um dann von der Gesellschaft und ihren Medien rasch wieder eingefangen zu werden. Die Wahl des „Sportlers des Jahres“ ist so eine Veranstaltung, in der sich die Außenseiter am oberen Ende der Statistik „in bester Gesellschaft“ zusammenfinden. Da sind sie dann nicht mehr ganz so einsam.
Am besten hat sich Michael Edwards (Eddy the Eagle), der konsequent erfolglose britische Skispringer, seine Außenseiterrolle bewahrt.
Die Rolle des Außenseiters ist meiner Ansicht nach in den wenigsten Fällen freiwillig. Manchmal wird sie notwendig, um einen Blick von außen auf das Geschehen zu werfen.
Als Kolumnist kann das hilfreich sein, um neue Narrative zu erfinden (Ich hab’ das Wort Narrativ, mal stellvertretend für alle Außenseiter*innen, die sich bisher nicht getraut haben, das nachzufragen, gegoogelt. Es bedeutet ‚sinnstiftende Erzählung‘).
In den meisten Fällen wird man zum Außenseiter gemacht. Man gehört nicht dazu. „Gewogen und für zu leicht befunden“.
Außenseiter*innen sterben nicht deswegen aus, weil keiner den Job machen will. Sie sterben deswegen aus, weil die Gesellschaft sie immer wieder in Kategorien und Gruppen einfängt. Nur so sind sie zu kontrollieren. Sei es in Justizvollzugsanstalten oder in Einrichtungen für behinderte Menschen.
Die Außenseiterrolle ist eigentlich ein gesellschaftliches Paradox. Außenseiter*in ist man alleine. Eine Gruppe von Außenseitern gibt es nicht. Entweder oder!
Für einen der nächsten Teile dieser fantastischen Reihe wünsche ich mir eine Auseinandersetzung mit dem Begriff Stigmatisierung*.
*Der Begriff wird im Netz meiner Meinung nach unzutreffend definiert. Dort wird er immer mit der Zuschreibung negativer Eigenschaften in Verbindung gebracht.
Danke, Januar 2025 Stephan Laux
Nachtrag:
Noch ein wichtiger Punkt – je mehr die Gesellschaft Vielfalt und Abweichungen von der Norm akzeptiert, desto schwieriger wird es, tatsächlich als Außenseiter wahrgenommen zu werden.
Mode, Lebensstile und sogar extreme Formen von Individualität sind heute weitgehend akzeptiert oder werden zumindest toleriert. Was früher als exzentrisch galt, ist heute oft Teil des Mainstreams. Selbst soziale Bewegungen und Subkulturen, die sich einst bewusst gegen gesellschaftliche Normen stellten, wurden mittlerweile integriert und kommerzialisiert.
Behinderung als Ausnahme:
Trotz dieser Entwicklung bleibt die Behinderung eine der wenigen Kategorien, die weiterhin als „anders“ markiert wird. Hier zeigt sich ein paradoxer Widerspruch: Während Individualität und Vielfalt gefeiert werden, bleibt die körperliche oder geistige Abweichung von der Norm oft stigmatisiert.
Das liegt zum Teil daran, dass Behinderung nicht nur als Abweichung, sondern als Defizit wahrgenommen wird – als etwas, das behoben oder ausgeglichen werden muss. Während andere Formen des Andersseins als Bereicherung gelten können, wird die Behinderung häufig noch immer als Belastung gesehen, sei es für die Betroffenen selbst oder für die Gesellschaft.
Der neue Außenseiter?
In einer Welt, die zunehmend auf Inklusion und Diversität setzt, bleibt die Behinderung oft ein blinder Fleck. Sie widersetzt sich der Normalisierung, weil sie Fragen nach Abhängigkeit, Unterstützung und Leistungsfähigkeit aufwirft – Fragen, die im modernen Leistungsdenken und Selbstoptimierungswahn unbequem wirken.
Das macht Menschen mit Behinderung in gewisser Weise zu den „letzten Außenseitern“ – nicht, weil sie es wählen, sondern weil die gesellschaftlichen Strukturen und Wahrnehmungen ihnen diese Rolle zuweisen.
Herausforderung und Chance:
Diese Situation bietet zugleich eine Herausforderung und eine Chance:
Fazit: Während vieles, was früher als Außenseitertum galt, heute als „normal“ akzeptiert ist, bleibt die Behinderung eine der letzten Kategorien, die sich gegen diese Integration sträubt – oder von der Gesellschaft daran gehindert wird. Das zeigt, wie tief die Mechanismen der Fremdzuschreibung und Exklusion trotz aller Fortschritte noch immer verankert sind.