Fladungen (kobinet) Das eigene Selbstbild ist für viele Menschen ein stabiler Anker, ein inneres Konzept, das sich durch Erfahrungen und Reflexion formt. Für Menschen mit einer Behinderung gestaltet sich dieser Prozess jedoch oft komplexer. Die Gesellschaft, und insbesondere staatliche Institutionen, neigen dazu, das Leben behinderter Menschen durch spezifische Regelungen und bürokratische Kategorien zu lenken. Doch was passiert, wenn das eigene Selbstbild in Konflikt mit der gesellschaftlich vorgegebenen Identität steht?
Für viele beginnt der innere Konflikt mit der Notwendigkeit, sich offiziell als „schwerbehindert“ anerkennen zu lassen, um Rechte und Unterstützung in Anspruch nehmen zu können. Der Schwerbehindertenausweis und spezifische gesetzliche Regelungen sind dabei der offizielle Schlüssel zu vielen essenziellen Hilfen. Doch dieser Prozess verlangt eine Identität, die oft nicht mit dem eigenen Selbstverständnis übereinstimmt. Die bürokratische Forderung zwingt Menschen, sich selbst auf ein Merkmal zu reduzieren, das im Alltag häufig nur als eine von vielen Herausforderungen wahrgenommen wird und nicht als definierende Eigenschaft.
Diese Diskrepanz kann das Selbstverständnis grundlegend beeinflussen. Für jemanden, der sich nie in erster Linie als „behindert“ gesehen hat, sondern schlicht als jemand, der sich mit zunehmenden Einschränkungen und Hindernissen auseinandersetzen muss, bringt dieser Weg oft eine Art Zwang zur Identitätsanpassung. Plötzlich wird man in der öffentlichen und gesetzlichen Wahrnehmung nicht mehr als Individuum mit eigenen Bedürfnissen und Talenten betrachtet, sondern als Teil einer Kategorie, die die persönlichen Eigenheiten in den Hintergrund drängt.
Das Paradoxe dabei ist, dass erst die bewusste Darstellung der eigenen Einschränkungen – oft in detaillierter und erniedrigender Form – zu den Hilfen und Rechten führt, die notwendig sind. Menschen müssen „beweisen“, dass sie die Voraussetzungen erfüllen, um die Unterstützung zu erhalten, die sie zum Ausgleich ihrer Einschränkungen benötigen. Dieser Prozess zwingt sie, sich selbst und ihre Umstände regelmäßig in eine Sprache der Bedürftigkeit und Abhängigkeit zu übersetzen, die sie vielleicht nicht in Einklang mit ihrem eigenen Selbstbild bringen können oder wollen.
Langfristig beeinflusst dieser ständige Spagat zwischen dem eigenen Selbstbild und der fremden Zuschreibung das Selbstverständnis. Menschen können sich durch diesen Prozess zunehmend in einer Rolle wiederfinden, die ihnen gesellschaftlich zugeschrieben wurde und die nicht ihrer eigenen Wahrnehmung entspricht. Dies wirft eine tiefgehende Frage auf: Inwiefern trägt die Gesellschaft zur Identität der Betroffenen bei, und wie oft müssen diese Menschen sich selbst über das hinwegsetzen, was sie eigentlich für sich empfinden, um notwendige Unterstützung zu erhalten?
Das Leben als Mensch mit einer Behinderung muss nicht zwangsläufig eine Identität der Abhängigkeit und Schwäche bedeuten. Doch das bestehende System und die gesellschaftlichen Normen machen es schwer, Behinderung als natürlichen Teil der Vielfalt des Lebens zu betrachten. Die Anerkennung der Bedürfnisse, ohne die Identität auf diese Einschränkungen zu reduzieren, wäre ein wichtiger Schritt, um Menschen wirklich als individuelle Persönlichkeiten zu würdigen.
Diese Identitätsfalle führt in verschiedenen Lebensbereichen zu Spannungen: Im Bemühen, die Behinderung nicht in den Vordergrund zu stellen und als Mensch in unterschiedlichen Rollen – als Kind, Elternteil, Partner, Künstler, Kollege oder Freund – wahrgenommen zu werden, steht man oft vor einer gesellschaftlich erzwungenen Reduktion auf das „Behindertsein“. Das System zwingt Menschen, ihre Behinderung immer wieder als das primäre Merkmal ihrer Identität darzustellen, selbst wenn sie diese Rolle gar nicht fühlen oder in ihrem Leben als zentral empfinden.
Diese gesellschaftliche Zuschreibung macht es schwer, die Behinderung einfach als eine der Lebensbedingungen zu begreifen – ähnlich wie viele andere Umstände, die Menschen prägen. Wenn ein Werk, ein Beitrag, ein Engagement erst dann anerkannt wird, wenn die Einschränkung es „dramatisiert“, ist es kein Werk, das für sich selbst spricht. Das bestehende System müsste daher beginnen, individuelle Lebenslagen und Bedürfnisse ohne den Zwang einer Identitätskategorisierung anzuerkennen – und auf diese Weise Inklusion in einem wirklich umfassenden Sinne ermöglichen.
PS: Wer sich für einen persönlichen Einblick in diese Thematik interessiert, dem sei das Interview mit Uwe Heineker empfohlen, das kürzlich bei den kobinet-nachrichten veröffentlicht wurde. Darin spricht er über seine Erfahrungen mit der Fremdzuschreibung von „Bildungsunfähigkeit“ und den langen Weg, sich gegen diese Zuschreibungen zu behaupten. Ein sehr eindrückliches Beispiel dafür, wie die Identitätsfalle der Behinderung sich im Leben real manifestiert.
Huhu!
Ich wollte nur mal ganz vorsichtig um die Ecke schauen. Und mich versichern!
Isser vorbei? Also der Tag. Ihr wisst schon welcher. Der Tag der internationalen Behinderung. Oder der internationale Behinderungstag.
Haben alle Ihre Reden gehalten? Protestiert? Gummipuppen hochgehalten?
Tut mir leid, Hans Willi, da bin ich raus, mit dem Anschlag auf die Freiheitsstatue.
Ich versuch’ den 3. Dezember traditionell, mit einer Decke über dem Kopf zu ignorieren. Ich komme nur mal kurz unter meiner Decke hervor, um meinen Schwerbehindertenausweis auf Gültigkeit zu überprüfen.
Ralph. Das würde ich Dir auch empfehlen. Da muss irgendwo „unbefristet“ draufstehen! Sonst war’s das mit Deiner Identität als „Behinderter“! Und Du darfst an keiner Veranstaltung zum Tag der Behinderung mehr teilnehmen. Und zwar weltweit! Ist nämlich international!
Ich muss gleich wieder unter meine Decke. Weil heute ist der Tag des Ehrenamts. Der zukünftige Altkanzler will das Ehrenamt stärken (wahrscheinlich will er so auch die Beamt*innen und Mitarbeiter*innen des öffentlichen Dienstes und der Krankenkassen entlasten).
Und morgen ist der internationale Tag der „Zipfelmützen- und Spitzhutträger*innen“. Den würde ich auch gerne verpassen.
Am besten bleib’ ich bis einschließlich meines Geburtstages am 02. Februar unter meiner Decke. Da ist nämlich der „Welttag der Feuchtgebiete“.
Beste Grüße Stephan Laux, 5. Dezember 2024
PS War der heilige St. Nikolaus eigentlich Ehrenamtler?