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Zwischen Selbstbild und Fremdzuschreibung: Die Identitätsfalle der Behinderung – Teil 3

Ein verschlossenes, rostiges Gittertor mit Kette und Schloss, dahinter unscharfe Bäume im Nebel, Schwarz-Weiß-Aufnahme.
persönliche Befreiung
Foto: Ralph Milewski

Fladungen (kobinet) Wege zur persönlichen Befreiung Ist es möglich, sich von der erzwungenen Gruppenzugehörigkeit zu befreien, ohne den Kontakt zur Realität und den gesellschaftlichen Strukturen zu verlieren? Vollständig mag das kaum gelingen, da Kategorien wie „Behinderung“ tief in gesellschaftlichen Wahrnehmungen und Institutionen verankert sind. Doch es gibt Wege, um persönliche Freiheit und Selbstbestimmung zu stärken – selbst innerhalb eines Systems, das auf Fremdzuschreibung basiert.

Die eigene Identität gestalten

Ein zentraler Schritt zur Befreiung liegt in der bewussten Gestaltung der eigenen Identität. Menschen mit Behinderungen können ihre Behinderung als einen Aspekt ihres Lebens akzeptieren, ohne sie zum zentralen Merkmal ihrer Persönlichkeit zu machen. Indem sie ihre Interessen, Talente und Ziele in den Vordergrund stellen, schaffen sie eine Narrative, die unabhängig von gesellschaftlichen Kategorien funktioniert.

Beispiel: Eine Person, die sich künstlerisch betätigt, kann ihre Leidenschaft und Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellen, anstatt durch die Behinderung definiert zu werden. Es geht darum, eigene Geschichten zu erzählen, die über die von außen zugeschriebene Identität hinausgehen.

Fremdzuschreibungen kritisch hinterfragen

Es ist wichtig, gesellschaftliche Zuschreibungen nicht als unveränderlich zu akzeptieren. Menschen sollten sich regelmäßig fragen, welche Rollen und Identitäten tatsächlich Teil ihrer Persönlichkeit sind und welche lediglich von außen auferlegt wurden.

Grenzen setzen: Die bewusste Entscheidung, sich von bestimmten Zuschreibungen zu distanzieren, schafft Freiraum für die persönliche Identitätsentwicklung. Diese Abgrenzung erfordert Mut, kann aber einen erheblichen Beitrag zur inneren Freiheit leisten.

Freiwillige Gemeinschaften suchen

Ein wichtiger Schritt aus der erzwungenen Gruppenzugehörigkeit ist der Beitritt zu freiwilligen Gemeinschaften. Solche Gruppen – sei es in der Kunst, im Sport oder in anderen Interessensbereichen – bieten Raum für Austausch und Identifikation, der nicht auf die Behinderung beschränkt ist.

Tipp: Der Fokus sollte auf den eigenen Interessen und Leidenschaften liegen, um die persönliche Identität zu bereichern und sich nicht nur über die Kategorie „Behinderung“ zu definieren.

Der innere Frieden

Die Akzeptanz der eigenen Situation und der äußeren Umstände kann ebenfalls ein befreiender Schritt sein. Nicht jede gesellschaftliche Struktur lässt sich sofort ändern, doch die bewusste Reflexion über die eigenen Werte und Ziele kann helfen, ein Gleichgewicht zwischen Anpassung und Selbstbehauptung zu finden.

Balance schaffen: Es ist nicht immer notwendig, gegen jede Zuschreibung zu kämpfen. In manchen Situationen kann es klug sein, sie pragmatisch zu nutzen, ohne sie als Kern der eigenen Identität anzunehmen.

Fazit: Die Kraft der Selbstbestimmung

Der Weg aus der Identitätsfalle der erzwungenen Gruppenzugehörigkeit ist ein individueller Prozess, der Reflexion und Selbstbewusstsein erfordert. Durch die bewusste Gestaltung der eigenen Identität, das kritische Hinterfragen von Fremdzuschreibungen und die Suche nach freiwilligen Gemeinschaften können Menschen mit Behinderungen ihre persönliche Freiheit stärken. Dies ist nicht nur ein Schritt zu mehr Selbstbestimmung, sondern auch ein Beitrag zur Veränderung gesellschaftlicher Strukturen und Wahrnehmungen.

Für diejenigen, die die vorherigen Teile verpasst haben, hier die Links:

Teil 1: Wer oder was bin ich?
Teil 2: Freiwilligkeit und Zwang in der Gruppenzugehörigkeit

Lesermeinungen

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5 Lesermeinungen
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Stephan Laux
17.12.2024 15:46

Drei! 😉

Silvia Hauser
17.12.2024 14:53

Diese Ausführungen fände ich noch besser, würde an einigen Stellen klarer und konkreter, was und wer gemeint ist. Beispielsweise mit „wir“. In der Behindertenhilfe und ihren Verbänden Beschäftigte oder die Behindertencommunity und ihr Aktivismus oder die Gesellschaft ingesamt oder alle drei?
Mit ihrer Kernforderung jedoch nach behinderterpolitischer Debatte, auch einer kontrovers geführten,
treffen sie ins Schwarze. Da bin ich dabei und wir sind schon zwei, lieber Ralph, hoffentlich werden wir noch mehr.

i.A.v. Hans-Willi Weis

Ralph Milewski
Antwort auf  Silvia Hauser
17.12.2024 16:09

Lieber Hans-Willi,

vielen Dank für deinen Kommentar und deine kritische Rückmeldung. Du hast recht: In einer so komplexen Debatte wie dieser muss genau hingeschaut werden, wer gemeint ist. Mein Fokus in diesen Beiträgen liegt klar bei den Betroffenen selbst – bei denjenigen, die durch Fremdzuschreibungen in eine Rolle gedrängt werden, die sie nicht für sich gewählt haben.

Veränderungen beginnen selten von außen. Sie entstehen, wenn wir Betroffenen selbst unsere Identität bewusst gestalten, uns wehren und unsere Stimmen in die Gesellschaft tragen. Ohne diesen Schritt wird sich nichts bewegen. Das war schon immer so – leider.

Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass nicht alle Menschen die Kraft oder die Möglichkeit haben, sich selbst zu äußern oder zu wehren. Für sie müssen diejenigen vorangehen, die es können – die Starken, die das Feld bestellen, Raum schaffen und die notwendigen Impulse setzen. Nur so entsteht ein Nährboden, auf dem auch die leisen Stimmen sichtbar werden und ihre Perspektiven gehört werden können. Das erfordert Solidarität und ein Verständnis dafür, dass Veränderungen schrittweise wachsen.

Zudem darf man nicht vergessen, dass auch Beschäftigte in Verbänden oft in einem System agieren, das von der Gesellschaft und ihren Strukturen diktiert wird. Gesetze, bürokratische Vorgaben und gesellschaftliche Zuschreibungen setzen den Rahmen, innerhalb dessen gehandelt wird. Dadurch bleibt für die individuellen Bedürfnisse der Betroffenen häufig zu wenig Raum. Solange die Gesellschaft diese Normen und Strukturen nicht ändert, bleibt auch die Arbeit der Verbände begrenzt.

Was deine Anmerkung zur „Community“ betrifft: Ich persönlich fühle mich hier nicht als Teil einer „Community“ – und das ist auch völlig in Ordnung so. Auch wenn ich Teil einer „Widerstandsbewegung“ sein mag, in der man Gleichgesinnte, Freunde und Mitkämpfer findet, bleibe ich weit davon entfernt, mich in einer solchen Gemeinschaft wirklich wohlzufühlen. Denn oft sind es genau solche kollektiven Zuschreibungen, die das Individuum verschwimmen lassen – und darum geht es mir ja gerade: sichtbar zu bleiben als Mensch mit eigener Identität und eigenen Werten.

Natürlich kann und darf das nicht die alleinige Verantwortung der Betroffenen bleiben. Die Gesellschaft hat die Pflicht, zuzuhören, sich zu hinterfragen und die bestehenden Strukturen zu ändern. Doch der erste Impuls, der Mut zur Reflexion und zur Handlung – der muss aus uns selbst kommen.

Herzliche Grüße,
Ralph

Zuletzt bearbeitet am 1 Monat zuvor von Ralph Milewski
Silvia Hauser
Antwort auf  Ralph Milewski
18.12.2024 17:20

Meine These: Ökonomie plus Klasse schlägt Zuschreibung plus Identitätsfalle
(ableistische Exklusion).
Zwei Belegbeispiele: Johann König (wirtschaftlich erfolgreicher blinder Galerist) sowie
Pozzo di Borgo, steinreich im Rollstuhl („Ziemlich beste Freunde“).

Beste Grüße
Hans-Willi

Ralph Milewski
Antwort auf  Silvia Hauser
18.12.2024 19:35

diese Liste lässt sich tatsächlich fortführen, und natürlich hast du recht: Deine These, dass „Ökonomie plus Klasse Zuschreibung plus Identitätsfalle schlägt“, wird durch zahlreiche Beispiele eindrucksvoll gestützt. Hier einige prominente Persönlichkeiten, die sie untermauern:

Frida KahloStephen HawkingWolfgang Schäuble (Bemerkung: Schäuble wurde gerade deswegen anders wahrgenommen, weil er sich nicht aktiv für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzte. Dies machte ihn in der öffentlichen Wahrnehmung zu einem Politiker, der unabhängig von seiner Behinderung agierte, was ihn in gewisser Weise von der typischen Zuschreibung „behindert“ distanzierte.)Ludwig van BeethovenAndrea BocelliFranklin D. RooseveltChristopher Reeve
Diese Namen stehen dafür, dass Talent, sozialer Status oder finanzielle Mittel es ermöglichen können, die Zuschreibung „behindert“ zu relativieren oder sogar in den Hintergrund zu drängen. Sie zeigen auch, dass es möglich ist, gesellschaftliche Wahrnehmungen zu durchbrechen und andere Aspekte der eigenen Persönlichkeit in den Fokus zu stellen.

Deine These regt jedoch auch dazu an, weiter über die strukturellen Herausforderungen nachzudenken, die Menschen ohne vergleichbare Ressourcen daran hindern, ähnliche Erfolge zu erzielen. Es bleibt spannend, wie sich diese Perspektive in zukünftigen Debatten einsetzen lässt.

Zuletzt bearbeitet am 1 Monat zuvor von Ralph Milewski