
Foto: Jörg Fretter
Kassel (kobinet) Auch wenn es in den letzten Wochen vorrangig die Kritiker*innen der heute am 15. April 2023 erfolgenden Abschaltung der letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland in die Medien geschafft haben, erinnert kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul daran, welch großer Erfolg diese Abschaltung für die Anti-Atomkraft-Bewegung und letztendlich für unser aller Sicherheit ist. Vor allem zieht er die Parallele dieses Erfolgs zum Einsatz für die Umwandlung von Behinderteneinrichtungen zugunsten eines selbstbestimmten Lebens behinderter Menschen mitten in der Gemeinde. "Reisst die Mauern nieder!" lautete ein Slogan der Selbstbestimmt Leben Bewegung behinderter Menschen bereits vor über 20 Jahren. Der Erfolg lässt hier allerdings noch auf sich warten, wie Ottmar Miles-Paul in seinem Kommentar schildert.
Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul
Viele derjenigen, die wie ich schon ein paar Lenze mehr in ihrem Leben zählen können und sich an die massiven Proteste gegen die Nutzung der Atomkraft in den letzten 45 Jahren erinnern, hätten wahrscheinlich nicht geglaubt, dass sie es noch erleben, dass die Atomkraftwerke in Deutschland abgeschalten werden. Heute, am 15. April 2023, passiert genau das. Auch wenn es am Schluss noch ein ziemliches Gewürge war, als die Laufzeit der verbliebenen drei Atomkraftwerke wegen der Herausforderungen mit der Energieversorgung aufgrund des Angriffs Russlands auf die Ukraine noch einmal vom 31. Dezember 2022 auf den 15. April 2023 verschoben wurde. Nun ist es soweit! Und damit kann die Anti-Atomkraft-Bewegung zumindestens in Deutschland einen großen Erfolg verbuchen. Auch wenn uns der produzierte Atommüll noch sehr viele Generationen lang beschäftigen wird und weltweit noch viele Kernkraftwerke am Netz sind.
Viele derjenigen, die vor den Gefahren der Atomkraft warnten, wurden diffamiert, kassierten Schläge bei Protesten, wurden observiert und mussten auch viele Niederlagen einstecken. Der Super-Gau in Tschernobyl am 26. April 1986 zeigte ganz praktisch und auf erschreckende Weise, wie gefährlich die Nutzung der Atomkraft sein kann. Die Erinnerung an die Tage der massiven Verunsicherung und des Luft-Anhaltens Ende April 1986 verblaste jedoch schnell wieder. Es bedurfte leider einer weiteren Nuklearkatastrophe am 11. März 2011 in Fukushima, die zeigte, wie verheerend ein solcher Unfall sein und welche Gefahren dies für die Menschenheit bedeuten kann.
Unter der Regentschaft von Angela Merkel wurden nach dieser Katastrophe die von Rot-Grün bereits vorher eingeleiteten Weichen für den Atomausstieg endgültig gestellt. Also die Kanzlerin der damaligen Regierungskoalition aus CDU und FDP, die heute die Atomkraftwerke am liebsten weiterlaufen lassen wollen. Und dies im Schatten einer massiven Bedrohung eines riesigen Kernkarftwerkes im Kriegsgebiet in der Ukraine. Doch nun werden die letzten Atomkraftwerke in Deutschland abgeschalten – und das ist auch gut so, auch wenn weiterhin und verstärkt die alternative Energiegewinnung gefördert werden muss.
Und was hat das nun mit der Behindertenpolitik zu tun? Das fragen sich vielleicht so manche kobinet-Leser*innen. Ganz viel, finde ich. Denn auch die Behindertenbewegung führt seit vielen Jahren einen verzweifelten Kampf gegen die Aussonderungsstrukturen und -einrichtungen in diesem Land. Oft verzweifeln wir dabei daran, dass die Lobby der Einrichtungsbetreiber so übermächtig und mit dem politischen System bis in die Wurzeln verwoben ist, dass unsere Argumente im luftleeren Raum verhallen und dass Alternativen für ein selbstbestimmtes Leben mitten in der Gemeinde so mühsam aufgebaut werden, wie das bei der Solar- und Windenergie war und immer noch ist. Hier geht es genauso um Geld, um vielfältige verschiedene Eigeninteressen, bei denen die Interessen behinderter Menschen, die selbstbestimmt mitten in der Gesellschaft leben wollen, meist ganz hinten anstehen.
Auf dem Weg dieses Kampfes gab es zwar Zwischenerfolge, wie die Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention oder einzelner gesetzlicher Verbesserungen, aber die Veränderung ist hier eine Schnecke, wie es im Energiesektor auch lange Zeit der Fall war. Wenn laut dem Kennzahlenvergleich der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe und der Eingliederungshilfe (BAGüS) für die Eingliederungshilfeleistungen im Jahr 2021 immer noch 194.565 Menschen mit Behinderungen in einer besonderen Wohnform ihre Unterstützungsleistungen bekommen, dann ist dies immer noch eine riesige Gruppe, die am Rande der Gesellschaft in Heimen leben muss. Zu Bedingungen, die meist nichts mit Inklusion zu tun haben. Der Rückgang der Vergleichszahl von 2020 betrug gerade einmal 0,2 Prozent. Man kann sich also ausrechnen, wieviele Generationen in Deutschland noch von diesen Aussonderungsstruktruen betroffen sein werden, in die jährlich über acht Milliarden Euro aus der sogenannten Eingliederungshilfe fließen. Für die Assistenzleistungen außerhalb der besonderen Wohnformen waren es 2021 übrigens gerade einmal drei Milliarden Euro.
Link zum kobinet-Bericht vom 14. April 2021 zum Kennzahlenvergleich
Auch die Hoffnung auf die nächste Generation, die Inklusion von Anfang an leben könnte, wird darüberhinaus systematisch durch das Sonderschulwesen untergraben, das genauso beständig wie die Atomkraft zu sein scheint, obwohl den meisten klar ist, wie unsinnig dieses System ist. Nicht zu vergessen sind die Werkstätten für behinderte Menschen, in die jährlich zusätzlich über fünf Millarden Euro aus den Mitteln für die sogenannte Eingliederung für die Ausgliederung in einem System ohne Mindestlohn und Arbeitnehmerrechte gepumpt werden.
Bei dieser Betrachtung könnten wir uns genauso ohnmächtig fühlen, wie dies in der Anti-Atomkraft-Bewegung viele angesichts des übermächtigen Atomstaats getan haben. Aber die Anti-Atomkraft-Aktiven sind immer wieder aufgestanden, haben nicht locker gelassen und haben heute trotz der Tatsache, dass die Atomkraft in anderen Ländern weiter munter genutzt und sogar vorangetrieben wird, durchgehalten. Wir in Deutschland haben immerhin einen Anfang gemacht und unseren Teil getan. Jetzt muss weiter an Alternativen für die Energiegewinnung gearbeitet werden. Aber ohne die vielfältigen Aktivitäten zur Steigerung der erneuerbaren Energien in den letzten Jahrzehnten wäre der Atomausstieg nie und nimmer möglich gewesen.
Auch beim Ausstieg aus den Sondereinrichtungen muss die Behindertenbewegung weiter ansetzen und unermüdlich für den Aufbau von Angeboten für ein selbstbestimmtes Leben mitten in der Gemeinde streiten. Gleichzeitig muss der vor über 20 Jahren angestimmte Ruf „Reisst die Mauern nieder!“ laut durch die Republik schallen. Denn jeder Mensch, dem die Möglichkeit für ein selbstbestimmtes Leben mitten in der Gemeinde mit der nötigen Unterstützung genommen wird, ist einer zu viel. Die UN-Behindertenrechtskonvention gibt uns hierbei Rückendeckung und hilft uns, dass wir uns nicht in die Ecke von Spinnern stellen lassen. Ein selbstbestimmtes Leben behinderter Menschen und die Überwindung aussondernder, abhängig haltender Angebote ist die Zukunft – und dafür lohnt es sich, auch weiter engagiert zu streiten. Lassen wir uns dabei nicht von der immer lauter werdenden Öffentlichkeitsmaschinerie der Sondereinrichtungen blenden, die Aussonderung in Inklusion ummünzen wollen. Nicht überall, wo Inklusion draufsteht, ist auch Inklusion drin!
An einem Tag wie heute bin ich trotz aller Herausforderungen zuversichtlich, dass ich auch die Schließung der letzten Sondereinrichtung in Deutschland noch erleben werde. Ein Ziel, für das es lohnt, morgens aufzustehen und die Stimme zu erheben, finde ich. Lasst und Alternativen auf- und ausbauen und die Mauern niederreißen!
Das Kuriose an der Geschichte ist, dass die Wohlfahrtsverbände so tun, als ob sie Vorreiter wären, obwohl sie ja die eigentlichen Profiteure des aktuellen Systems sind und sich sogar einen Großteil der EUTB-Beratungsstellen unter den Nagel gerissen haben.
Leider kann ich Otmar-Miles Paul da nicht so ganz zustimmen.
Die Brücke vom Atomausstieg zur Behindertenpolitik ist im Beitrag misslungen, genauso wie die erreichten Ziele. Selbstbestimmtes Leben ist ein Grundrecht und das ist einklagbar, auch für Menschen in Einrichtungen. Zur Finanzierung gibt es PKH.
Der Atomausstieg selber mag zwar gut sein, aber zur Ehrlichkeit gehört auch, dass wir momentan einen Großteil des Stroms aus Kohle gewinnen und da sind wir dann auch bei der Umwelt und Verantwortung für unsere Kinder, denn die müssen die Konsequenzen für die Kohleverstromung tragen.
Also ein Beitrag mit schönen Ansätzen, aber nicht zu Ende gedacht, was man bei einer Analyse eigentlich erwarten sollte.
Das hoffentlich diesmal endgültige Ende der Atomenenergie in Deutschland ist vor allem einmal ein Tag zum Feiern und ein Grund zur Ermutigung, dass es sich auch in anderen Belangen wie denen der Behinderten, zu kämpfen lohnt und nicht alles aussichtlos ist. Dies zum Ausdruck zu bringen ist Otmar Miles-Paul gelungen. Um Feinheiten der Analyse (Kohleverstromung ist natürlich ärgerlich) kann es in einem Ermutigungstext nicht gehe,darüber wäre bei anderer Gelegenheit zu debattieren. Wir wollen uns beim einander Ermutigen keine Stöcke zwischen die Beine werfen, auch nicht unbeabsichtigt!
Hans-Willi Weis
Das sehe ich ganz anders, denn beim Atomausstieg handelte es sich um einen Gesetzesbeschluss, der aber keine völkerrechtliche Grundlage hatte, somit musste darum gekämpft werden.
Beim BTHG und den SGB handelt es sich im Ergebnis um Belange, die eine völkerrechtliche Grundlage haben und somit aus dem Völkerrecht heraus auch einklagbar sind, egal ob es Regelungen im deutschem Recht geben, denn die UN-BRK ist bereits durch das Grundgesetz, ein Bundesgesetz. Verstöße gegen Bundesgesetze lassen sich immer einklagen. Dabei spielt es keine Rolle, ob Landesrechte etwas anderes regeln, denn Völkerrecht steht immer über Bundesrecht.
Genau aus diesem Grund ist der Vergleich zum Atomausstieg nicht gegeben, da wir hier von unterschiedlichen Rechtsgrundlagen reden.