Berlin (kobinet) Es gibt Öffentlichkeit, die es nicht in die Öffentlichkeit schafft! Engagierte Teile der Zivilgesellschaft -ihre Organisationen und Menschen- hatten im Verfahren auf breiter Basis Stellung bezogen, sich vernetzt und gegen die Ausweitung der Durchführungsorte ärztlicher Zwangsmaßnahmen gestellt. Selbsthilfe- und Selbstvertretungsorganisationen Psychiatrieerfahrener -obwohl nicht zur Stellungnahme aufgerufen-, Berufsverbände, Menschenrechtsinstitutionen und Wissenschaft haben kritisches Erfahrungswissen, rechtliche Bestimmungen und internationale Evidenz der Unwirksamkeit zusammengetragen. Diese Kooperationen sollten intensiviert werden, denn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26.11.2024 zur Ausweitung der rechtlichen Optionen ärztlicher Zwangsmaßnahmen nach BGB hinsichtlich ihrer möglichen Durchführungsorte – nun auch in Einrichtungen der Behindertenhilfe und stationären Altenpflege- zeigt auch die Schwächen einer ungleichen öffentlichen Meinungsbildung.
Gegenstimmen – und ihre Unsichtbarkeit
Die Ressourcen sind ungleich verteilt. Stimmen, die kritisch argumentieren, dringen kaum in die Öffentlichkeit vor, während Organisationen wie die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (DGPPN) mühelos Gehör finden. Ein Beispiel dafür ist der ZDF-Bericht zum Urteil: mit den gleichen Aufnahmen und O-Tönen von einer Betroffenen wie schon zur mündlichen Verhandlung und im Bericht des Morgenmagazins, bei dem immerhin auch eine kritische Perspektive gezeigt wird- aber der Tenor bleibt insgesamt einseitig. Die medizinische Sicht beschränkt sich ausschließlich auf die Position der DGPPN. Angehörige dürfen Gesicht in die Kamera halten, aber der regelmäßige, über Jahre durchgeführte ärztliche Zwang selbst wird nicht hinterfragt – nicht einmal ansatzweise.
Was sagt das über unsere Öffentlichkeit, wenn solche Berichte ein Bild vermitteln, das den medizinischen Zwang einseitig als Schutz -vielleicht sogar noch der Selbstbestimmungsrechte der Betroffenen- darstellt? Dass diese Darstellung unkommentiert bleibt, ist alarmierend. Schließlich handelt es sich oft um Menschen, die über Jahre oder sogar ihr Leben lang in Abhängigkeiten leben – sei es durch Betreuung, dauerhaften Wohnen in geschlossenen Einrichtungen, lebenslange psychopharmakologische Behandlungen oder den Lebensabend in Pflegeeinrichtungen.
Verdrängter Kernkonflikt
Erschreckend bleibt, dass kaum ein Wort über die Langzeitfolgen psychopharmakologischer Zwangsbehandlungen fällt. Was ist nach Jahren des Zwangsmedikamentierens überhaupt noch als Heilbehandlung zu verstehen? Ein undefiniertes Bild entsteht, von Menschen -die mitunter exkludiert in geschlossenen Institutionen leben- bei denen jahrzehntelange Zwangsmaßnahmen als selbstverständlich und gerechtfertigt angesehen werden. Dabei wird weder der Begriff „Behandlung“ kritisch hinterfragt noch die menschliche Distanz, diese suggerierte Normalität, dass manche Menschen eben „so behandelt werden müssen“.
Besonders bedrückend ist der Gedanke, dass medizinischer Zwang künftig direkt im Wohnumfeld – im Zimmer, das auch Rückzugsort und Schlafraum ist – vollzogen werden könnte. Oder wird der Mensch in einen Nebenraum gebracht, um dort mit Überredung oder physischer Gewalt „behandelt“ zu werden? Wo geschieht das alles? Solche Szenarien drängen sich angesichts der rechtlichen Ausweitung doch auf. Aber die Öffentlichkeit ist steril, keine kritischen Fragen, kein Überlegen.
Es ist hinreichend bekannt, dass Neuroleptika in Pflegeeinrichtungen[1] und sogenannten besonderen Wohnformen[2] häufig nicht primär medizinisch, sondern zur Organisation von Abläufen und Kompensation fehlenden Personals eingesetzt werden. Schon jetzt zeigen Studien eine übermäßige und oft fragwürdige Medikamentenvergabe.
Systemfragen Zeit und Geld
Im gegenwärtigen neoliberalen -dem Menschlichen fernen- Gesamtstrudel, der (kollektives) Handeln zu oft -vor dem Denken- auf schnelle, emotionalisierte und vulgär-ökonomische Lösungen reduziert, verlieren Freiheitsrechte und Antidiskriminierung immer mehr an Priorität. Der Staat zeigt sich als erbbedingter Schutzpatron, der für die kleinen Lieben mitdefiniert was er unter Schutz versteht. Jetzt auch gleich in den eigenen vier Wänden. Denn „die“ Öffentlichkeit vergisst, wie hier der Staat seine Eingriffrechte in die Intims- und Privatsphäre, den unantastbaren Wohnraum, die freie und informierte Entscheidung in Bezug auf die eigene Gesundheit und die freie Entfaltung der Persönlichkeit ausweitet…bähm.
Wer glaubt zwei Jahre für Gesetzgebung wären lang, wenn sich zwischendurch noch eine neue Regierung bildet und die öffentliche-politische Debatte sich auf Festkrallen und Abriegeln runterbringt…dann…ach genau:
Nicht entmutigen lassen… Denken und Handeln bleiben entscheidend, um solidarische Gemeinschaften zu erhalten und weiterzuentwickeln. Die rechtliche Ausweitung von Zwangsmaßnahmen fordert nicht nur den Gesetzgeber heraus, sondern auch uns als Alle…Durchhalte-Parolen…
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Warum die Ausweitung des medizinischen Zwangs keine Option sein kann
Fassungslos im Bundesverfassungsgericht – Ambulante Zwangsbehandlungen bei betreuten Menschen in langfristiger Unterbringung: https://kobinet-nachrichten.org/2024/07/29/fassungslos-im-bundesverfassungsgericht-ambulante-zwangsbehandlungen-bei-betreuten-menschen-in-langfristiger-unterbringung/
Ambulante Zwangsbehandlung – Wie nun auch der Bundesgerichtshof den ärztlichen Zwang nach Hause bringen will: https://kobinet-nachrichten.org/2024/02/13/ambulante-zwangsbehandlung-wie-nun-auch-der-bundesgerichtshof-den-aerztlichen-zwang-nach-hause-bringen-will/
Keine Evidenz und mehr Zwang statt Menschenrecht – Über ambulante Zwangsmaßnahmen: https://kobinet-nachrichten.org/2023/10/17/keine-evidenz-und-mehr-zwang-statt-menschenrecht-ueber-ambulante-zwangsmassnahmen/
Warum mehr statt keinem Zwang? Ambulante Zwangsmaßnahmen: Psychosoziale Problemlagen auf den einzelnen Menschen abwälzen: https://seeletrifftwelt.de/2024/02/07/warum-mehr-statt-keinem-zwang-ambulante-zwangsmassnahmen-psychosoziale-problemlagen-auf-den-einzelnen-menschen-abwaelzen/
[1] Falk et al. 2021: Modellprogramm zur Weiterentwicklung der Pflegeversicherung gemäß § 8 Abs. 3 SGB XI Psychopharmaka in der stationären und ambulanten Pflege Herausforderungen im Umgang und Voraussetzungen für die Implementierung von Handlungsalternativen (PhasaP)
Richter et al. (2012): Prevalence of psychotropic medication use among German and Austrian nursing home residents: a comparison of 3 cohorts. In: Journal of the American Medical Directors Association, 13 (2), 187.e7-187.e1
Thürmann P Einsatz von Psychopharmaka bei Pflegebedürftigen, Pflege-Report 2017, Wissenschaftliches Institut der AOK, 2017
[2] Hennicke (Hrsg.): Psychopharmaka in der Behindertenhilfe – Fluch oder Segen?, Materialien der DGSGB Band 17 (2008), S. 7f
Ritzi et al. (2022): Menschen mit einer geistigen Behinderung und altersassoziierter Pflegebedürftigkeit– Ausgewählte Aspekte für die professionelle Pflege und Begleitung
Schützwohl et al. (2022): Psychopharmakotherapie bei Menschen mit intellektueller Entwicklungsstörung, Die Sicht von Betreuungspersonal aus stationären Wohneinrichtungen
Stölting et al. (2021) Auf dem Weg zu einem zielgruppenspezifischen Einschätzungsinstrument: Eine explorative Studie zur gesundheitlichen und pflegerischen Bedarfserhebung bei Menschen mit soge-
nannter geistiger Behinderung im Rahmen des Projektes EIBeMeB. In: Ding-Greiner C (Hrsg) Betreuung und Pflege geistig behinderter und chronisch psychisch kranker Menschen im Alter. Beiträge
aus der Praxis. Kohlhammer, Stuttgart, S. 81
Weber G, Rojahn J (2009) Intellektuelle Beeinträchtigung. In: Schneider S, Margraf J (Hrsg) Lehrbuch der Verhaltenstherapie. Springer, Berlin Heidelberg