
Foto: Julia Lippert
Berlin (kobinet) Eine sogenannte Ethik-Tagung in Zwiefalten zu ambulanten Behandlungsweisungen – beschönigender und irreführender Begriff von ambulanten Zwangsmaßnahmen - veranlasst mich, mir um Entwicklungen Gedanken zu machen und dazu zu recherchieren, von denen ich nicht glauben kann, dass sie immer noch Thema in einer menschenrechtsorientierten – eigentlich sollte es eine menschenrechtsbasierte sein – psychiatrischen Versorgung sind.
Dem Inhalt der Tagung widmete ich mich bereits in einem anderen Artikel. Es sollte darum gehen, ambulante Behandlungsweisungen, wie es sie im Maßregelvollzug schon gibt (siehe später in diesem Artikel), auf die Allgemeinpsychiatrie auszuweiten. Zu der Tagung sprachen 12 Personen mit männlich konnotierten Namen, allesamt professionell Tätige und Politiker bzw. Vertreter der zuständigen Ministerien, und 2 Personen mit weiblich konnotierten Namen, eine betroffene Person und eine Angehörige. Partizipation war also in jeglicher Hinsicht Fehlanzeige.
Weltweite Zunahme von psychiatrischen Zwangsmaßnahmen und Einweisungen in die Forensik
Obwohl mehrere Länder weltweit ihre rechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen für freiheitsentziehende Maßnahmen, freiheitsentziehende Unterbringungen und ärztliche Zwangsmaßnahmen verschärft haben, sinken die Quoten nicht. Vielmehr nehmen sie zu, selbst in gut ausgestatteten psychiatrischen Versorgungssystemen. In einer Studie, die zwischen 2008 und 2017 durchgeführt wurde, zeigen die Daten, dass in 11 von 18 Ländern (die Daten meldeten) ein Anstieg der unfreiwilligen Krankenhauseinweisungen um bis zu 8,45 % zu verzeichnen ist (HR/PUB/23/3 (OHCHR), S. 14).
Zusätzlich nimmt weltweit die Besorgnis über die stetig ansteigende Anzahl von Menschen mit psychischen Erkrankungen und psychosozialen Behinderungen in forensischen Kliniken (Maßregelvollzug) zu. Insbesondere betrifft dies Angehörige ethnischer Minderheiten und oft wegen relativ geringfügiger Delikte. In einem gemeinsamen Bericht der WHO und UN (2023) werden als Gründe für diese Entwicklung verschiedene Faktoren beschrieben: diskriminierende Rechtsvorschriften, die wenige materielle und verfahrenstechnische Garantien bereithalten; die Umsetzung von Gesetzen, die vermeintlich belästigendes Verhalten unter Strafe stellt; die weit verbreiteten Vorurteile über psychische Krankheit im Zusammenhang mit Gewalt; die Intoleranz in der Gesellschaft gegenüber störendem und abweichendem Verhalten; die geringe Verfügbarkeit von Unterstützungsangeboten; und die systematische Diskriminierung marginalisierter Gruppen (HR/PUB/23/3 (OHCHR), S. 115).
Ambulante Zwangsmaßnahmen weltweit und Therapiezwang im StGB
Community Treatment Orders (CTOs) – ambulante Zwangsmaßnahmen – können als rechtliche Anordnungen eine*r Richter*in, Kliniker*in oder einer anderen gesetzlich befugten Stelle oder Person (z.B. Betreuer*innen) definiert werden, die eine Person mit psychischem Leid und resultierenden Problemen dazu zwingt, sich an Behandlungsvorgaben – insbesondere die Einnahme von Psychopharmaka – auch außerhalb der Klinik zu halten.
CTOs können auch verlangen, dass die Person, die einer richterlichen und/oder ärztlichen Anordnung unterliegt, andere Bedingungen erfüllen muss, z. B. an einem bestimmten Ort zu wohnen oder eine*n bestimmte*n Ärzt*in aufzusuchen. Wenn eine Person mit einem psychischen Problem die Bedingungen eines CTO nicht befolgt, kann sie aufgefordert werden, „freiwillig“ in eine psychiatrische Klinik zurückzukehren oder sie kann zwangsweise in eine psychiatrische Klinik eingewiesen werden. Die rechtliche Definition und die Zulässigkeitsvoraussetzungen von CTOs variieren von Land zu Land (Bericht MHE, S. 10). In Deutschland kann die Einführung von ambulanten Zwangsmaßnahmen bedeuten, dass Personen, die einer ambulanten Zwangsbehandlung unterliegen, auch ohne Vorliegen einer sogenannten Eigen- und/oder Fremdgefährdung ins Krankenhaus gezwungen werden.
Die rechtliche Möglichkeit Zwang auf Personen auch außerhalb einer Klinik vorzunehmen, existiert in einer Reihe von Ländern in Europa, obwohl sie in einigen Rechtsordnungen nur für forensische Patient*innen gilt. Die folgende Karte aus dem Bericht der MHE (S. 47) zeigt die Länder innerhalb Europas in denen medizinische Zwangsmaßnahmen im ambulanten Bereich rechtlich zulässig sind.

Die Zahlen ambulanter medizinischer Zwangsmaßnahmen in Ländern in denen sie rechtlich zulässig sind, sind teilweise sehr hoch. In Frankreich z.B. entfielen 2015 40 % aller Personen, die einer ärztlichen Zwangsmaßnahme ausgesetzt waren (das sind 37000 Menschen, siehe Bericht MHE, S. 96), auf ambulante Behandlungsanordnungen.
Seit der Gesetzesreform von 2011 in Frankreich, die ambulante Zwangsmaßnahmen reguliert, ist die Gesamtzahl der Personen, die einer medizinischen Zwangsmaßnahme unterliegen, d.h. sowohl im Rahmen einer Unterbringung als auch einer ambulanten Behandlungsanordnung, insgesamt um 15% gestiegen. Die Einführung der ambulanten Zwangsmaßnahmen hat also nicht dazu geführt, wie vielerorts spekuliert wird, ärztliche Zwangsmaßnahmen insgesamt zu reduzieren!
Einige der Gründe für diese massive Zunahme sind: die erstmalige Einführung von CTOs in Frankreich, die häufig als „Nachsorge“ nach einem erzwungenen Krankenhausaufenthalt eingesetzt werden; die Erleichterung der Zwangseinweisung in ein Krankenhaus durch das rechtliche Konstrukt der „unmittelbar drohenden Gefahr“ (imminent peril), die sich in vier Jahren mehr als verdoppelt hat (+ 128 %); und der verstärkte Fokus auf die Gewährleistung der öffentlichen „Sicherheit“ (Bericht MHE, S. 96).
Auch in Schottland waren in den Jahren 2015/16 etwa 40 % aller Zwangsmaßnahmen erzwungene ambulante Behandlungsanordnungen. In Malta beläuft sich der Anteil an ambulanten Zwangsmaßnahmen auf ein Drittel aller zwangsbehandelten Menschen (Bericht MHE, S. 46).
In Deutschland sind die sogenannten (Therapie-/Behandlungs-) Weisungen bereits im Strafgesetzbuch reguliert. Nach dieser gesetzlichen Fassung können Menschen die sich in der Bewährungszeit befinden, dazu verpflichtet werden: „sich psychiatrisch, psycho- oder sozialtherapeutisch betreuen und behandeln zu lassen“ (StGB § 56c Abs. 2 Satz 6 – Weisungen). Außerdem ist geregelt, dass Personen die sich in der sogenannten Führungszeit befinden, dazu verpflichtet werden können: „sich zu bestimmten Zeiten oder in bestimmten Abständen bei einer Ärztin oder einem Arzt, einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten oder einer forensischen Ambulanz vorzustellen“ (StGB § 68b, Abs. 1 Satz 11).
Forderungen durch den Bericht von der WHO und UN
Der Bericht konstatiert, dass die Länder, um die Abschaffung unfreiwilliger und erzwungener Krankenhausaufenthalte und -behandlungen voranzubringen, eine Überprüfung ihrer rechtlichen Rahmenbedingungen zur Aufhebung von CTOs veranlassen müssen. (Und eben nicht deren Einführung!!!, A.d.A)
„Überwältigende Beweise deuten darauf hin, dass diese Anordnungen unwirksam sind, sie also keinen Rückgang der Krankenhausaufenthalt bewirken.“ ((HR/PUB/23/3 (OHCHR), S. 67) Umgekehrt stellt der Bericht fest, dass die Anwendung solcher Formen der Nötigung und Zwang Menschenrechtsbedenken aufwerfen und zu erheblichen Menschenrechtsverletzungen führen, wie der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (A/HRC/40/54/Add.1, S. 15, Punkt 65) und der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe bereits dokumentiert haben (HR/PUB/23/3 (OHCHR), S. 67).
Während die Gesetze eine entscheidende Rolle bei der Beendigung von Zwang in der psychiatrischen Versorgung spielen können, sind der Systemwandel, die Beendigung gesellschaftlicher Stigmatisierung und der niedrigschwellige Zugang zu wirksamen Möglichkeiten der Wiedergutmachung und Rechenschaftspflicht unerlässlich, um (medizinische) Unterstützungsformen ohne Zwang zu gewährleisten (HR/PUB/23/3 (OHCHR), S. 67).
Anmerkung durch die Autorin:
Viele Länder haben die zwangsweise Behandlungs- Anweisung/Anordnung/Weisung/ambulante Zwangsmaßnahme eingeführt, um die Anzahl von unfreiwilligen und erzwungenen Krankenhauseinweisungen zu reduzieren. Die Zahlen zeigen das nicht! Vielmehr dient dieses Vorgehen dazu, Personen zu zwingen regelmäßig Medikamente, insbesondere Psychopharmaka, zu nehmen und psychiatrische und psychotherapeutische Behandlungen aufzusuchen, auch wenn sie sich in ihren vermeintlich sicheren eigenen vier Wänden befinden und das Recht auf eine selbstbestimmte und informierte Entscheidung haben. Siehe UN-BRK falls das jemand vergessen haben sollte.
Dabei ist die Grundlage jeglicher sinnhaften therapeutischen Beziehung zum einen Vertrauen, und nicht die zwanghafte Einhaltung von Terminen oder die erzwungene Einnahme oder Depot-Spritzung von Psychopharmaka, und zum anderen die Freiwilligkeit seine Sorgen, Probleme und Nöte zu besprechen und gegebenenfalls und falls möglich zu verändern oder einen neuen Umgang zu finden. Es kann sich bei diesen ambulanten Anweisungen/ Anordnungen/ Weisungen/ Zwangsmaßnahmen also nicht um eine sogenannte „Heilbehandlung“ drehen, vielmehr ist davon auszugehen, dass sie der Ruhigstellung dienen und einer vermeintlich kosteneffizienteren Lösung als die stationäre Behandlung bieten.
In Bezug auf ambulante Zwangsmaßnahmen ist es eine weit verbreitete Erfahrung, dass sich die Betroffenen gezwungen und kontrolliert fühlen, sich an die Anordnungen zu halten und keine andere Wahl gegeben wird. Auch wenn einige die ambulante, zwangsweise Behandlung der zwanghaften Einweisung in ein Krankenhaus vorziehen, zeigen viele Einschätzungen, dass es bei der erzwungenen Behandlung im ambulanten Bereich vor allem darum geht, die Medikamente/ Psychopharmaka einzunehmen. Und nicht darum, eine vertrauensvolle psychotherapeutische oder psychiatrische Beziehung aufzubauen (Corring et al., 2017).