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Zivilgesellschaft is moving: Gegen die Ambulantisierung des ärztlichen Zwangs

Schlängellinie mit Pfeil
Normenkontrollverfahren Bundesverfassungsgericht
Foto: Julia Lippert

Berlin (kobinet) Wie das Bundesverfassungsgericht im Normenkontrollverfahrens 1 BvL 1/24 entscheiden wird, bleibt abzuwarten. Es geht um die entscheidende Frage, ob ärztlicher Zwang außerhalb eines stationären Aufenthalts rechtlich ermöglicht wird. Dafür wäre eine Gesetzesänderung des Betreuungsrechts notwendig, da nach deutscher Gesetzgebung ärztlicher Zwang nur im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthalts rechtlich möglich ist.

Das Bundesverfassungsgericht hatte im März dieses Jahres zu Stellungnahmen aufgerufen (1 BvL 1/24). Die Fragen setzten sich hauptsächlich damit auseinander, ob ärztliche Zwangsmaßnahmen (§1832 BGB) im Rahmen eines Betreuungsverhältnisses aus medizinischer Sicht auch außerhalb eines stationären Aufenthalts in einer Klinik zulässig sein könnten, insbesondere in Heimen und (geschlossenen) Einrichtungen (zum vorausgegangenen Beschluss des Bundesgerichtshofs (BGH)). Dabei wird die Verbringung ins Krankenhaus als zusätzliche gesundheitliche Belastung konstruiert, ohne dass dafür belastbare Belege vorliegen.

Selbstvertretungsorganisationen von Menschen mit psychosozialen Behinderungen und Psychiatrieerfahrungen wurden nicht aufgerufen Stellung zu beziehen. Dies entspricht nicht den in der UN-BRK normierten und von der BRD ratifizierten Partizipationsrechten von Menschen mit Behinderungen (Art. 4 Abs. 3 und Art. 29 UN-BRK).

Diese besorgniserregende Entwicklung kann als Rückschritt in der menschenrechtsorientierten Veränderung des psychiatrischen Versorgungssystems verstanden werden. Statt zwangsfreie Möglichkeiten des Umgangs mit Menschen in starken Krisensituationen oder länger anhaltenden Problemlagen weiterzuentwickeln, flexible, zügige und ausprobierende Finanzierungsmöglichkeiten zu implementieren und Menschen mit psychosozialen Behinderung maßgeblich in diese Veränderungen der Versorgungsstrukturen miteinzubeziehen, wird der Glauben an die „Hilfe durch Psychopharmaka“ weiter geschürt.

Überlegungen, wie eine Behandlung und Begleitung ohne Zwang aussehen könnte, treten dagegen in den Hintergrund. Vielmehr wird versucht den medizinischen Zwang, z.B. die Spritzung mit Neuroleptika gegen den eigenen Willen und unter Anwendung physischer Gewalt, im durch das Grundgesetz geschützten, unantastbaren Wohnraum umzusetzen. Je mehr (rechtlich legitime) Mittel zur Verfügung stehen, den Willen des Gegenübers zu überwinden, desto weniger wahrscheinlich wird eine kreative Kommunikation, die ohne Zwang auskommt, gleichberechtigt ist und im Ergebnis offen bleibt.

Daran ändert auch nichts, dass solche Überlegungen zunächst nur für betreute Menschen die in geschlossenen Einrichtungen leben erwogen werden. Über die exkludierende Lebenssituation, den Personalmangel und wiederkehrende Gewalt in geschlossenen Einrichtungen ist genug berichtet worden. Diese Orte als angemessen für zwangsweise medizinische Untersuchungen, Behandlungen und Eingriffe zu verstehen, zeigt wie wenig in den Alltag und die Bedingungen der geschlossenen Einrichtungen geschaut wird.

In diesem Zusammenhang sei eine Veröffentlichung empfohlen, die aus Mitarbeiter-Perspektive die Situation in Einrichtungen der Behindertenhilfe beschreibt. Roland Frickenhaus berichtet über Erlebnisse aus 40 Jahren Tätigkeit in der Behindertenhilfe. Die Geschichten werden von Heinz Becker durch fachliche und historische Einordnungen ergänzt: Heinz Becker I Roland Frickenhaus: „Wer nun weiß, Gutes zu tun…“, Beltz-Verlag, ISBN: 978-3-7799-8491-7

Zahlreiche Stellungnahmen sprechen sich gegen die Ausweitung der rechtlichen Optionen auf den ärztlichen Zwang aus

Zahlreiche Organisationen in Deutschland haben die potentiell den ärztlichen Zwang ausweitende Entwicklung wahrgenommen, und selbst Organisationen, die weder zum schriftlichen Stellungnahmeverfahren noch zur mündlichen Anhörung geladen waren, haben Stellung bezogen gegen die Ambulantisierung des psychiatrischen Zwangs.

Alle online verfügbaren Stellungnahmen und Positionspapiere zum Normenkontrollverfahren die sich gegen die Ausweitung des Zwangs aussprechen, sind auf der Internetseite der Gruppe Aktion Artikel 16 zu finden (darin auch Stellungnahmen gegen Behandlungsweisungen).

In fundierten Bedenken und vielfältigen Argumentationen sprechen sich folgende Organisationen gegen die Einführung des ärztlichen Zwangs im eigenen Wohnumfeld aus (ob nun im Rahmen einer stationsäquivalenten Behandlung oder Behandlungsweisung). Es sind an die 20 Organisationen:

der und die BPE/ Werner-Fuss-Zentrum gegen Zwangspsychiatrie, Landesverband Psychiatrieerfahrener Nordrhein-Westfalen, Kellerkinder, Liga Selbstvertretung, Landesverband Psychiatrieerfahrener Baden-Württemberg, Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie, Dachverband Gemeindepsychiatrie, Deutsches Institut für Menschenrechte, Betreuungsgerichtstag, Aktion Artikel 16, Bundes-Angehörigenverband, Diakonie Deutschland, Diakonie RWL, Evangelischer Fachverband für Teilhabe BeB, Der Paritätische Gesamtverband, die Beauftragten von Bund und Ländern für die Belange von Menschen mit Behinderung, BODYS Bochum.

(Zu den Stellungnahmen)

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