Berlin (kobinet) "Ulrich Scheibner und seine Mitstreiter*innen lassen nicht locker. Und das ist gut so. 2021 veröffentlichten insgesamt acht Autoren das Buch "Werkstätten für behinderte Menschen. Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion“, das ebenfalls bei Kohlhammer erschien. Jetzt legen vier der damaligen Autoren mit drei neuen Autor*innen (immerhin sind dieses Mal zwei Frauen dabei) nach und bekräftigen ihre Sicht von 2021." Dies schreibt Prof. Dr. Sigrid Arnade in ihrer Besprechung des Buches, das von Ulrich F. Scheibner und Wilfried Windmöller herausgegeben wurde und den Titel "Von Behinderung befreit. Inklusive Alternativen zur Sonderwelt bei Arbeit, Bildung und Wohnen" trägt. Das Buch ist dieses Jahr im Verlag W. Kohlhammer erschienen.
Immer wieder: Keine Werkstatt ist das Beste
Eine Buchbesprechung von Sigrid Arnade
Ulrich Scheibner und seine Mitstreiter*innen lassen nicht locker. Und das ist gut so. 2021 veröffentlichten insgesamt acht Autoren das Buch „Werkstätten für behinderte Menschen. Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion“, das ebenfalls bei Kohlhammer erschien. Jetzt legen vier der damaligen Autoren mit drei neuen Autor*innen (immerhin sind dieses Mal zwei Frauen dabei) nach und bekräftigen ihre Sicht von 2021. Das damalige Werk ermöglichte einen detaillierten Blick in das System der „Werkstätten für behinderte Menschen“ (WfbM) und wurde von mir als Rezensentin zur Lektüre empfohlen.
Link zur Buchempfehlung vom 24.11.2021 in den kobinet-nachrichten
Was ist jetzt neu oder anders? Es ist ein Kapitel über das in weiten Teilen exkludierende deutsche Bildungssystem hinzugekommen. Die Autorin, Brigitte Schumann, beschreibt in historischen Rückblicken die sonderpädagogischen Kontinuitäten, die menschenrechtlichen Verpflichtungen sowie die Realität an deutschen Schulen. Und auch in diesem Sektor zeigt sich, dass Exklusionsquoten steigen und es keine systematischen Bemühungen gibt, tatsächlich ein inklusives Bildungssystem in Deutschland zu realisieren.
In den anderen Kapiteln geht es um Werkstätten. Zwei Erfahrungsberichte verdeutlichen genau wie die Analysen der anderen Autor*innen, dass WfbM Exklusionseinrichtungen sind und gegen Menschenrechte, insbesondere gegen die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) verstoßen. Verwirrend finde ich, dass die UN-Behindertenrechtskonvention nicht als solche benannt wird, sondern sich hinter GÜRMB verbirgt. Im Abkürzungsverzeichnis wird diese kryptische Buchstabenfolge aufgelöst als „Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21. Dezember 2008“. Geht es noch komplizierter, frage ich mich. Das Gesetz mag von 2008 sein, die UN-BRK ist seit dem 26. März 2009 geltendes Recht in Deutschland. Da die deutsche Fassung im Zweifelsfall vor Gericht aber gar keine Gültigkeit hat, zählt die UN-BRK und nicht primär das Gesetz von 2008.
Ansonsten wird vor allem mit etwas anderen Worten wiederholt, was bereits 2021 beschrieben wurde: WfbM sind Exklusionseinrichtungen, verletzen die Menschenrechte der behinderten Beschäftigten, verstoßen gegen die Bestimmungen der UN-BRK und müssen überwunden werden. So lautet eine Zwischenüberschrift wie schon in dem Buch von 2021 „Keine Werkstatt ist das Beste“ (S. 204). Über fehlende Veränderungen sind auch die Autor*innen erzürnt: „Längst hätten menschenrechtlich fundierte Alternativen zum derzeitigen Wohn- und Werkstätten-System erarbeitet werden müssen – und können!“ (S. 259).
Aber wie ließen sich die Werkstätten und andere Exklusionssysteme überwinden? Da lässt der Untertitel des Buches aufhorchen: „Inklusive Alternativen zur Sonderwelt bei Bildung, Arbeit und Wohnen“. Immerhin finden sich in dem Buch neben der Situationsbeschreibung und allgemeinen Forderungen eine Inklusionsstrategie mit sieben Punkten (S. 193/194) und eine ganze Reihe von konkreten Maßnahmen, die nach Ansicht der Autor*innen zu einer echten Veränderung beitragen könnten. Beispielsweise wird angeregt, die Aufgabenstellung der Integrationsämter zu erweitern, der Bundesagentur für Arbeit weitere Kompetenzen einzuräumen, Ausschüsse anders zu besetzen (S. 220/221).
Die Ungeduld und der gute Wille der Autor*innen sind spürbar. Aber wie schon bei der Rezension vor drei Jahren werde ich beim Lesen all der sicherlich korrekten Analysen ein ungutes Gefühl nicht los: Beide Herausgeber haben jahrelang das Werkstattsystem mit auf- und ausgebaut und entscheidend geprägt, Ulrich Scheibner 20 Jahre lang als Geschäftsführer der BAG WfbM, Wilfried Windmöller unter anderem acht Jahre lang als Vorsitzender der BAG WfbM. In diesen Zeiträumen ist die Zahl der behinderten Beschäftigten in WfbM deutlich gestiegen, wie die Tabelle auf S. 37 verdeutlicht. Und wieder frage ich mich: warum erst jetzt, warum nicht früher? Wie kann man jahrzehntelang in einem System arbeiten und dieses ausbauen, wenn einem bewusst ist, dass damit unentwegt die Menschenrechte der vielen Tausenden behinderter Beschäftigter verletzt werden? Als Geschäftsführer beziehungsweise als WfbM-Vorsitzender wären die Herren in einer viel mächtigeren Position gewesen, um etwas zu bewegen als jetzt in ihrer nachberuflichen Phase. Und warum dieser neuerliche Aufschlag, der über die fundierten Analysen von 2021 nicht wesentlich hinausgeht? Wollen sich die in die Jahre gekommenen Autor*innen einen Platz im Krüppelhimmel sichern?
Wie auch immer: Für die Leser*innen des Buches von 2021 hält das Buch vom Bildungskapitel abgesehen nicht allzu viele Neuigkeiten bereit. Für alle anderen empfiehlt sich die Lektüre, um einen Einblick in die Welt der Sonderstrukturen zu bekommen und mitreden zu können.
Ulrich F. Scheibner/Wilfried Windmöller (Hrsg.): Von Behinderung befreit. Inklusive Alternativen zur Sonderwelt bei Arbeit, Bildung und Wohnen. W. Kohlhammer, Stuttgart 2024, 278 Seiten, ISBN: 978-3-17-0450646, 42,00 Euro
Link zu weiteren Infos und zur Bestellmöglichkeit des Buches
Liebe Frau Arnade,
auch ich, Hans-Willi Weis, möchte sie auf meine differenzierende Sichtweise auf die Werkstättenproblematik aufmerksam machen und würde mich auf eine Rückmeldung freuen.
https://kobinet-nachrichten.org/2024/05/03/extrakolumne-zum-5-mai-empowerment-ohne-basisdemokratische-machtumverteilung-ist-nur-die-halbe-miete-und-inklusion-ohne-revolution-eine-illusion/
im Auftrag Silvia Hauser
Die Beleuchtung vergisst einige Punkte.
u.s.w. …….
Fazit: Wenn man sich schon mit dem Thema WfbM befasst, dann noch in der Position, Frau Arnade, dann bitte immer alle Menschen mit Behinderungen oder Einschränkungen berücksichtigen, denn sonst droht die Gefahr, dass man selbst andere Menschen exkludiert oder im Extremfall sogar diskriminiert.
Ich frage mich auch „Da die deutsche Fassung im Zweifelsfall vor Gericht aber gar keine Gültigkeit hat …“ ja, welche denn dann? War es nicht das Bundesverfassungsgericht das die Gültigkeit bestätigt hat? Oder irre ich mich da? Was ist mit Artikel 25 Grundgesetz?
Was ich nicht teilen kann: „Für alle anderen empfiehlt sich die Lektüre, um einen Einblick in die Welt der Sonderstrukturen zu bekommen und mitreden zu können.“, denn für einen Einblick bedarf es viel mehr, einen Betrachtungswinkel der weit über eine WfbM hinausgeht und vor allem die darin arbeitenden Menschen berücksichtigt. Berücksichtig in allen ihren verschiedenen Formen und Bedürfnissen, denn vielfallt ist eines der höchsten Güter des Menschen und vielleicht fehlt genau dieser Blick?
Für einen echten „Einblick“ in Sonderwelten, wie eine WfbM bedarf es mindestens einer Mitarbeit in Sondereinrichtung. Am besten über Jahre oder Jahrzehnte. Ich meine Mitarbeit. Im Sinne von Mittarbeit also von der Mitte aus arbeiten. Nicht vom Rand aus, als Geschäftsführer*in oder Vorsitz einer BAG oder LAG. Bei allem Respekt vor der Arbeit dieser Arbeitsgemeinschaften.
Beste Grüße
Stephan Laux
https://kbnt.org/scfkpr1
In dem Punkt muss ich Sigrid Arnade deutlich widersprechen. Natürlich muss der erste Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen stärker geöffnet werden. Fakt ist ist aber auch, dass viele Beschäftigte aufgrund derer Behinderungen mit den teils sehr harten Bedingungen überfordert wären. Es können und müssen immer Einzelfalls Entscheidungenbleiben. Richtig ist aber auch, dass das Einkommen der Beschäftigten deutlich verbessert und Bildungsangebote erhöht werden müssen. In diesem Zusammenhang müssen die dort erworbenen Abschlüsse durch die Industrie- und Handelskammer anerkannt werden.