Berlin (kobinet) Dr. Sigrid Arnade hat sich intensiv mit dem von Heinrich Greving und Ulrich Scheibner herausgegebenen Buch mit dem Titel "Werkstätten für behinderte Menschen. Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion" befasst und für die kobinet-nachrichten folgende Rezension verfasst. Dabei wird deutlich, dass Werkstätten nicht nur Orte der Absonderung, sondern auch Orte von Menschenrechtsverletzungen sind.
„Werkstätten sind Orte der Absonderung“
Eine Buchempfehlung von Sigrid Arnade
Schockt Sie dieses Zitat aus dem Buch „Werkstätten für behinderte Menschen. Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion“ (S.37)? Keine Sorge, es kommt noch heftiger: Da ist beispielsweise von „Intransparenz“ (S. 154), „regelmäßig auftretenden Gewaltformen“ (S. 157), einem „eklatanten Demokratiedefizit“ (S. 194) und „Ausbeutung“ (S. 213) die Rede. Oder wie gefällt Ihnen folgender Satz: „Die Missachtung elementarer Menschenrechte ist im ‚Werkstätten‘-Bereich systembedingt“ (S. 19)?
Wer nun meint, solch ein Buch könne nur von radikalen Behindertenaktivist*innen geschrieben worden sein, die die Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) schon immer in Grund und Boden stampfen wollten, reibt sich bei einem Blick auf die Autoren (richtig: alles Männer) verwundert die Augen: Herausgeber und Autoren sind die besten Kenner ihres Sujets, nämlich teils ehemals in Geschäftsführung oder Vorstand der BAG WfbM oder in anderen WfbM aktiv, teils als soziale Dienstleister oder im universitären Kontext mit der Materie vertraut sowie der ehemalige Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Hubert Hüppe, und last not least ein behinderter ehemaliger Beschäftigter einer WfbM. Hüppe bringt seinen Ärger deutlich zum Ausdruck, wenn er schreibt „Es ist an Dreistigkeit nicht mehr zu überbieten, wenn das Führungspersonal der Bundesarbeitsgemeinschaft der Werkstätten (BAG WfbM) die heutigen Einrichtungen als ‚Wegbereiter der Inklusion‘ etikettiert“ (S. 57).
So fundiert wie in diesem Werk kann nur eine Kritik aus erster Hand ausfallen. Beispiel Intransparenz: „Diese unternehmerische Sonderwelt, in der inzwischen über 300.000 behinderte Menschen in rd. 3.000 Betrieben arbeiten, ist ein Buch mit sieben Siegeln: Die Informationen sind dürftig“ (S. 153). Die Autoren schreiben zwar von „der großen Zahl kompetenter und engagierter ‚Werkstatt‘-Leitungen“ (S. 156), kritisieren aber gleichzeitig, dass „die Strukturen des für die Öffentlichkeit undurchsichtigen Gesamtsystems der „‚Werkstätten‘-Sonderwelt“ (S. 156) versagt hätten. Sie untermauern ihre Kritik mit der stichpunktartigen Aufzählung von 17 Skandalen der letzten Jahre, von denen immerhin die Medien berichteten (S. 154-156). Dabei geht es um materielle Bereicherung von Einzelpersonen oder Verbänden, um sexuelle Übergriffe, körperliche und psychische Gewaltanwendungen, aber auch um unmenschliche Arbeitsbedingungen.
Kritisiert werden auch die geringen Übergangsquoten von den WfbM auf den allgemeinen Arbeitsmarkt, die im Promillebereich liegen (S. 55), die vorenthaltenen Arbeitnehmerrechte (S. 290) sowie der geringe Verdienst der behinderten Werkstattbeschäftigten. Er lag 2018 durchschnittlich bei monatlich 214,99 Euro, wobei in dieser Summe sogar noch der staatliche Subventionsbetrag von 52,00 Euro enthalten war (S. 53). Wenn die Herren Herausgeber und Autoren schon über so genaues Detailwissen verfügen, hätten mich auch geschlechtsdifferenzierte Zahlen sowohl bei den Übergangsquoten als auch bei den Löhnen interessiert.
Aber zurück zum Buch und damit zu der Kritik an den exkludierenden WfbM-Strukturen: Dass es auch anders geht, zeigt ein Blick ins europäische Ausland: Während in Deutschland ein inklusiver Arbeitsplatz (in einem Inklusionsbetrieb) auf 6.676 Einwohner*innen kommt, beträgt dieses Verhältnis in Spanien 1 : 530 und in den Niederlanden 1 : 570. Spitzenreiter bei diesem Vergleich ist Belgien mit 1 : 120-382 (S. 221). Dieses schlechte Abschneiden Deutschlands läge daran, dass den Bedürfnissen von Institutionen Vorrang vor den Bedürfnissen beeinträchtigter Menschen eingeräumt werde, heißt es (S. 265).
Die neuere gesetzliche Initiative des Budgets für Arbeit, das seit 2018 den Übergang aus WfbM auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verbessern soll, wird als halbherzig bezeichnet, was in drei Punkten begründet wird (S. 276). Gleichzeitig bemängeln die Autoren, dass mit dem Budget für Arbeit das Werkstattsystem ausdrücklich nicht in Frage gestellt wurde, obwohl sowohl die UNO als auch das Deutsche Institut für Menschenrechte die gegenteilige Auffassung vertreten (S. 277). So wird an verschiedenen Stellen im Buch betont und erläutert, dass das WfbM-System sowohl gegen die UN-Behindertenrechtskonvention als auch gegen das Benachteiligungsverbot im deutschen Grundgesetz verstößt. Während Erstere seit Ende März 2009 geltendes Recht in Deutschland darstellt, gilt das Benachteiligungsverbot bereits seit Mitte November 1994.
Für die Autoren ist die Konsequenz aus alledem klar. So lautet denn auch eine Zwischenüberschrift „Der Weg aus den ‚Werkstätten‘ ist ein Weg der Befreiung“ (S. 199). Als eine Kapitelüberschrift wurde sogar „Keine ‚Werkstatt‘ ist das Beste“ (S. 291) gewählt. Die Autoren sehen die Politik in der Pflicht, aus dem Werkstattsystem auszusteigen und Alternativen anzubieten. Sie halten es aber für verantwortungslos, mit konkreten Veränderungsschritten bis zum Ende eines derzeit in Arbeit befindlichen Forschungsprojekts abzuwarten (S. 290). Die Autoren haben klare Vorstellungen davon, welche Rechtsnormen wie verändert und angepasst werden müssten, um den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention gerecht zu werden und das exkludierende Werkstatt-System schrittweise zu beenden (S. 290-318).
So sehr ich inhaltlich mit der Kritik am Werkstattsystem und den meisten im Buch genannten Thesen übereinstimme, so sehr befremdet mich die späte Einsicht. Wieso lassen diejenigen, die das Werkstattsystem zum Teil über Jahrzehnte in leitender hauptamtlicher Funktion geprägt, auf- und ausgebaut haben, daran im Nachhinein kein gutes Haar? Hat hier eine kollektive Erleuchtung vieler Saulusse zu Paulussen stattgefunden, könnte man sich fragen. Die (in meinen Augen beschämende) Antwort geben die Autoren in ihrem Vorwort mit dem Titel „Sozusagen aus dem Hinterhalt“ selbst: In der Lebensphase nach dem aktiven Berufsleben bräuchte man keine Kompromisse mehr zu schließen oder sonstige Rücksichten zu nehmen, sondern man könne unbestechlich sagen wie es ist – so lassen sich die wortreichen Ausführungen zu dieser Frage zusammenfassen. Mein Kommentar: Unfassbar – sie wussten es die ganze Zeit und haben nichts dagegen unternommen? Feiglinge!
Aber auch Feiglinge können Recht haben, und das ist meiner Ansicht nach hier der Fall. Deshalb sei das Buch allen dringend ans Herz gelegt beziehungsweise als Pflichtlektüre empfohlen, die sich politisch mit sozialen oder menschenrechtlichen Fragen beschäftigen, die mit behinderten Menschen arbeiten oder selbst behindert sind und natürlich all denjenigen, die direkt oder indirekt mit dem Werkstattsystem in Berührung kommen. Eine absolut empfehlenswerte Lektüre!
Heinrich Greving/Ulrich Scheibner (Hrsg.): Werkstätten für behinderte Menschen. Sonderwelt und Subkultur behindern Inklusion. W. Kohlhammer, Stuttgart 2021. 379 S., ISBN: 978-3-17-038496-5, 39,00 Euro
Bravo Sigrid für die hervorragende Rezension, der nichts mehr hinzuzufügen ist. Nun bin ich gespannt, ob und wie dieses Thema im Koalitionsvertrag der neuen Regierung behandelt und dann auch hoffentlich umgesetzt wird. Aufgrund meiner Erfahrung der völligen politischen Ignoranz der richtungsweisenden „Deutzer Erklärung“ ( https://t1p.de/sh29 ) von 2006, in der im Kern die Umwandlung von Werkstätten in Inklusionsbetriebe innerhalb von 10 Jahren gefordert wurde, ist allerdings gesunde Skepsis angebracht …