
Foto: MattLaws (Creative Commons BY-ND 2.0)
Staufen (kobinet) So meine Parolen zum Europäischen Protesttag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderung. Auf die Barrikaden gehen für eine tiefgreifende und umfassende Veränderung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse. Demokratisierung von Macht und Besitz. Gleiche Zugangs-, Teilnahme- und Teilhabebedingungen für alle. An erster Stelle Zugang zum öffentlichen Diskurs, um mit eigener Stimme Bedürfnisse und Interessen zum Ausdruck bringen zu können. Was bedeutet, der vor allem über die Medien stattfindenden Bevormundung durch meritokratische Eliten eine Ende zu bereiten. – Für einen Protesttag, der nach griffigen Parolen und markigen Worten verlangt, ist das schon eine ganze Menge. Und bevor ich mich zurücklehne in dem guten Gefühl, als Kolumnist tagesaktuell behindertenpolitisch geliefert zu haben, anschließend noch die eine und andere nützliche Konkretisierung.
Welcher Behinderte spricht hier anlässlich des Europäischen Protesttags für die Gleichstellung behinderter Menschen?
Zumal ich soeben auf die „eigenen Stimme“ hingewiesen habe, mit der behinderte Menschen sprechen wollen, muss die Frage, welcher Behinderte hier in dieser Kolumne spricht bzw. schreibt, als erstes beantwortet werden. Den anderen am öffentlichen Diskurs Teilnehmenden mitteilen, wer das ist, der oder die spricht und von welcher gesellschaftlichen Position und individuellen Lebenslage aus er oder sie spricht, hat weniger mit Selbstdarstellung zu tun, aber viel mit Glaubwürdigkeit. Beziehungsweise mit der Verstehbarkeit oder besseren Nachvollziehbarkeit dessen, was gesagt wird. – 73-jährig und seit Jahrzehnten erblindet bin ich unter meinen Mitbehinderten, flapsig gesagt, ein älterer Knochen, der einiges an politischer Protesterfahrung (angefangen mit den sog. Achtundsechzigern) auf dem Buckel hat. Und vor diesem Hintergrund das Gegenwärtige betrachtet, einordnet und bewertet. Dass ich von einem bescheidenen sozial-staatlichen Transfereinkommen lebe oder anschaulicher gesprochen „in der Armutsfalle sitze“, dies verdankt sich zu einem gewissen Teil auch meiner eigenen freien Entscheidung; denn mich anstrengen oder am Riemen reißen, um in den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen Karriere zu machen, wollte ich nicht. So habe ich bar allen wirtschaftlichen oder sozialen Kapitals (Geld plus Beziehungen) lediglich ein wenig kulturelles Kapital angesammelt, an dem ich mich als der sprichwörtlich „brotlosen Kunst“ persönlich erfreue und im Urteil der Außenstehenden, insbesondere der sogenannten Erfolgreichen, als ein verträumter oder versponnener Sonderling gelte.
Nach dem lebensgeschichtlich Allgemeinen über mich und meinen gesellschaftlichen Blickwinkel nun noch ein Wort zur aktuellen Befindlichkeit, aus der heraus ich diese Extrakolumne zum Behindertenprotesttag schreibe. Was mich behindertenpolitisch gerade besonders nachdenklich gestimmt hat, sind zwei kürzlich gehörte Radiofeatures zum Thema Behinderung. Im ersten erzählt eine geburtsblinde Musikjournalistin ihre berufliche Erfolgsgeschichte beim Rundfunk. Sie berichtet begeistert von ihrem wiederholten Durchstarten und schubweisen Vorankommen im medialen Betrieb – einem hart umkämpften Betrieb, möchte ich hinzufügen, wie auch der Ausdruck „durchstarten“ aus der neoliberalen Karrieristensprache an dieser Stelle von mir stammt, er hat sich mir beim Zuhören aufgedrängt (im Beitrag ist viel von „promoten“, „Promotern“, „Promo“ die Rede). – Das zweite Feature, von einer (wie ich annehme) nicht der Behindertencommunity zugehörigen Journalistin redaktionell verantwortet, handelt von Menschen in Behindertenwerkstätten, den WfbM (Werkstätten für behinderte Menschen). Die Sendung geht nicht „über“ Behinderte (mehrheitlich Lernbeeinträchtigte), vielmehr kommen Betroffene mit eigener Stimme ausführlich zu Wort. Und wovon bei ihnen gar keine Rede ist ( sorry Ottmar), ist „Zündeln“, der Wunsch, ihre Arbeitsstätte am liebsten abfackeln zu wollen. Beide Feature sind als Podcasts in der ARD-Audiothek abrufbar: https://www.deutschlandfunkkultur.de/blinde-pop-journalistin-amy-zayed-vielleicht-stelle-ich-die-100.html,
Wozu Empowerment? Zu Wettbewerbs- und Aufstiegsverhalten oder zu Selbstausdruck und Selbstverwirklichung?
Jetzt aber zu dem, was mich aus Anlass des Protesttags gedanklich umtreibt. Zunächst zu unserer Lieblingsrede von Empowerment. Sich und andere – Peers aus der Behindertencommunity – zum selbstbewussten Handeln ermuntern und ermutigen, „ermächtigen“, ist umso mehr eine gute Sache, wo es den Betreffenden erforderlichen Falls an Selbstbewusstsein und Handlungsmacht, an „agency“, mangelt. Für Angehörige marginalisierter und diskriminierter Minderheiten gilt dies im Persönlichen und Privaten und einmal mehr im politischen Kampf um Gleichstellung, um Rechte und gesellschaftliche Teilhabe. „Get up, stand up, stand up for your right, dont give the fight“, sangen in den 1970er Jahren die jamaikanischen Reggae-Musiker Bob Marley und Peter Tosh und wurden mit diesem und anderen Politsongs, durch die sie ihrer indigenen Community die politische Stimme einer Befreiungsbewegung verliehen, zu internationalen Popgrößen.
Von solch politischem Enthusiasmus eines musikalisch zum Ausdruck gebrachten Emanzipationswillens schwingt für meine Ohren noch etwas mit im Radiofeature der blinden Amy Zayed (geb.1974), die wegen ihrer ägyptischen Eltern zugleich eine Person of Colour ist. Wenn sie etwa über ihre positiven Erfahrungen im Team und Redaktionsbetrieb der BBC in London berichtet, von den ungleich behindertenfreundlicheren Arbeitsbedingungen dort als hier in Deutschland, der wie selbstverständlich vorgehaltenen Arbeitsplatzausstattung. Und was diese inklusionsförderliche Ausstattung und Atmosphäre in der dortigen Arbeitswelt mit einer starken und kämpferischen behindertenpolitischen Bewegung zu tun hat. Deren Hartnäckigkeit und langer Atem haben allererst die Veränderung der politischen Strukturen wie auch der arbeitsweltlichen Verhältnisse in Richtung Gleichstellung und Inklusion bewirkt. Der hierzulande vielbeschworene vorrangige „Abbau der Barrieren in den Köpfen“ ist der Autorin zufolge in Großbritannien eher als eine Folge dieser strukturellen und institutionellen Veränderungen zu beobachten denn als deren Voraussetzung. – Von wem oder was, um auf unser Stichwort, unsere Parole, zurückzukommen, geht nun hier Empowerment aus, wovon strahlt die Kraft und Wirkung einer Ermächtigung aus? Es sind, kurz gesagt, die von der behindertenpolitischen Emanzipationsbewegung durchgesetzten realen, spürbaren Verbesserungen am Arbeitsplatz, arbeitstechnisch und zwischenmenschlich kommunikativ, die in diesem Zusammenhang (die von Deutschland her zunächst einmal mit behindertenunfreundlichen bis -feindlichen Umständen rechnende) Amy Zayed so empowern und enthusiasmieren.
Dass das Konzept „Empowerment“ auch in anderer Hinsicht nicht voraussetzungslos ist – nach dem Motto, „ich ermächtige mich jetzt mal“ oder an jemand anderen gerichtet „ich möchte dich empowern“ –, illustriert ebenfalls Amys Geschichte. Wenn wir uns jetzt nämlich der Frage zuwenden, Empowerment wozu? Wozu haben die für behinderte Menschen bemerkenswert freundlichen und inklusiven Arbeitsplatzverhältnisse bei der englischen BBC die blinde Mitarbeiterin empowert? Dazu, durch ihre musikredaktionelle Tätigkeit beim Sender ihre Neigungen, ihr Können, ihr Talent, ihre kreativen Interessen zum Ausdruck zu bringen. Und sich in den Ergebnissen dieser Arbeit, durch ihre Projekte, beruflich zu verwirklichen. Empowert wurde Amy – und ich denke, dies würde sie als das Hauptsächliche des von ihr erfahrenen Empowerments genau so bestätigen – zu Selbstausdruck und Selbstverwirklichung, dazu, arbeitsmäßig ihr kreatives Können auszudrücken und beruflich (und damit gesellschaftlich) sich durch die gelungenen und sozial anerkannten Projekte ihres Musikjournalismus zu verwirklichen.
Selbstausdruck in der Arbeit und Selbstverwirklichung im Berufs- und Gesellschaftsleben haben allerdings eine individuelle oder subjektive Voraussetzung, mit der wir bei der Vorbedingung jeglichen Empowerments angelangt sind. Es handelt sich um Selbstbewusstsein im basalen Sinne von Selbstbejahung, ja sagen können zur eigenen Existenz, mich zu existieren berechtigt selber anerkennen, mir zugestehen, ich darf so sein wie ich bin. Wer sozusagen kein Selbst hat, sich nicht als ein solches anerkennt und wertschätzt, kann dasselbe auch nicht empowern. Und ebenso wenig kann er oder sie Empowerment zu Selbstausdruck und Selbstverwirklichung durch gute Arbeitsbedingungen und freundliche Kollegen erfahren. Selbstaffirmation wiederum lässt sich nicht durch Empowerment erzeugen oder hervorrufen, weder politisch agitatorisch, noch durch empowernde Umstände wie ein behindertengerecht ausgestatteter Arbeitsplatz. – Über den Mangel an Selbstaffirmation als der großen klaffenden Wunde bei behinderten Menschen (und überhaupt bei Menschen, die marginalisierten und diskriminierten Minderheiten angehören) wird später Entscheidendes zu sagen sein.
Doch zuerst muss noch eine weitere Antwort (oder Teilantwort) auf die Wozu-Frage beim Empowerment nachgeliefert werden. In gewisser Weise bildet sie die Rückseite zur Vorderseite der auf Selbstausdruck und Selbstverwirklichung lautenden Antwort. Die bereits weitgehend auf Gleichstellung und Inklusion zugeschnittenen Verhältnisse bei ihrem britischen Rundfunkarbeitgeber haben Amy auch zu Wettbewerbs- und Aufstiegsverhalten empowert. Wie könnte es auch anders sein unter den bestehenden arbeitsmarktlichen Rahmenbedingungen des globalisierten kapitalistischen Wirtschaftssystems. Die herrschenden Konditionen im Job und am Arbeitsmarkt lassen ArbeitnehmerInnen und Beschäftigten nicht die Wahl, ob sie alternativ zu Selbstausdruck und Selbstverwirklichung oder zu Wettbewerb und Aufstiegsstreben empowert werden möchten. Beides wird als ineinander verschränkt erfahren, wer beruflich und gesellschaftlich bestehen und reüssieren will, muss sich nolens volens den Anforderungen von Konkurrenz und Karriereorientierung unterwerfen. Umso besser, wenn er oder sie auch als behinderter Mensch sich von den nachteilsausgleichenden arbeitstechnischen, organisatorischen und atmosphärischen Betriebsbedingungen eben dazu (bzw. auch dazu, außer der das innerste Selbst befriedigenden Verausgabung in der Tätigkeit an der Sache ) ermuntert, ermutigt, angefeuert, sprich empowert fühlt. Erst dann und nur dann ist man voll und ganz in der gegenwärtigen Arbeitswelt und an ihrem Puls angekommen – „willkommen im Haifischbecken“, mögen einem diejenigen maliziös zuraunen, die schon ausgiebig einschlägige Erfahrungen am Ort des Geschehens gemacht haben.
Empowern zum neoliberalen „Mich-nach-vorne-bringen-Habitus“?
„Sich-nach-vorne-bringen“, wissen, wie das geht und sich zutrauen, es zu können, darin besteht der neoliberale Habitus. Ob man das auch wollen sollte, „Sich-nach-vorne-bringen“, diese Frage stellt sich denjenigen überhaupt nicht, die diesen Habitus verkörpern, denen er in Fleisch und Blut übergegangen ist. Wer sagt, möchte ich gar nicht, „mich-nach-vorne-bringen“, Karriere machen ist mir nicht wichtig, der oder die erscheint ihnen ein wenig verrückt, gestört, weil es für sie das Selbstverständlichste und Natürlichste von der Welt ist. Menschen, zumal wenn sie mitten in der Gesellschaft stehen und mitmischen wollen, das Repertoire des Konkurrenz-, Durchsetzungs- und Karriereverhaltens aber nicht verinnerlicht haben, sind im beruflichen und gesellschaftlichen Leben im Hintertreffen. Sie müssen, um nicht an den gesellschaftlichen Rand gedrängt zu werden, schleunigst aufholen, sich den Wettbewerbs- und Aufstiegshabitus „drauf schaffen“. Sollten sie es aus irgendeinem Grund nicht vermögen – was auf viele behinderte Menschen und chronisch Kranke zutreffen dürfte –, so sehen sie, umgangssprachlich gesagt, alt aus.
Amy, die Autorin des Radiofeatures, zählt nicht zu ihnen. Was sie von sich und ihrem beruflichen Vorankommen berichtet (in dem nichtsdestoweniger einiges noch besser laufen könnte), zeugt auch unter Gleichstellungs- und Inklusionskriterien von einer Erfolgsstory. Die conditio sine qua non, die Ermöglichungsbedingung dafür ist (vom Glücksfall ihrer Einladung in ein BBC-Studio bereits als Pubertierende abgesehen), dass ihr die Wettbewerbs- und Aufstiegsorientierung habituell von Anfang an zu eigen ist. – Einen gegenüber Behinderten reserviert eingestellten Redaktionskollegen überzeugt schließlich, so bekennt er, ihre unglaubliche „Fokussiertheit“ und ihre unbeirrbare Zielstrebigkeit. Selber schwärmt sie von einem kleinwüchsigen Model, das es aufs „Cover der Woke“ geschafft hat. Was könnte die ultimative Zielmarke fürs Sich-nach-vorne-Bringen derart perfekt versinnbildlichen wie das Erscheinen einer Behinderten „vorne“ auf der Titelseite eines internationalen Modemagazins!
So sucht sich die erfolgsorientierte Amy ihre Vorbilder unter den öffentlich und medial bereits Erfolgreichen. Seit langem bewundert sie die (in ihren Worten) „Stilikone“ Nina LaGrande, eine andere kleinwüchsige Popgröße. Das persönliche Treffen und Gespräch mit ihr, so betont Amy in ihrem Feature, war „absolutes Empowerment“ für sie. – Damit man meinen skeptischen, leicht ironischen Unterton nicht missverstehe: Ich gehe völlig daccord mit Nina LaGrande, wenn sie im Gespräch mit Amy deren Einschätzung bekräftigt, dass Vorurteile Behinderten gegenüber „automatisch verschwinden, wenn wir entsprechende gesellschaftliche Voraussetzungen haben“ und dies, so ergänzt Nina Lagrande, „auch viel viel schneller ginge, wenn Medien dabei eine Vorreiterrolle übernehmen würden“.
„Du musst Eier (Eierstöcke) haben“. Aber wer hat die und wenn nicht, wie kriegst du sie?
Ihr Vorkommen in den Medien bedeutet Sichtbarkeit, eine nicht bloß flüchtige und zufällige, ortsgebundene Sichtbarkeit des Daseins und der teilhabenden Tätigkeit behinderter Menschen. Eine Präsenz, die vorerst nicht Realität ist, sondern nur das, was sich Amy am Schluss ihrer Sendung wünscht. „Ich würde mir wünschen, irgendwann nicht mehr der Alien zu sein und mehr von meiner Sorte da draußen zu sehen. Behinderte als KünstlerInnen, JournalistInnen, PolitikerInnen ….“ – Medial sichtbare Behinderte würden aber selbst dann dünn gesät sein, einfach weil sie demographisch eine Minorität sind und überdies, weil das Segment persönlicher Medienprominenz (Beispiel Nina LaGrande) einer nochmals zahlenmäßig begrenzten Elite vorbehalten bleibt. Wenig optimistisch, was Amys Wunsch nach deutlich größerer Sichtbarkeit behinderten Lebens und insbesondere behinderter Menschen in medial prominenter Tätigkeit und Funktion betrifft, bin ich allerdings vor allem hinsichtlich der Startbedingungen Behinderter, um sich auf den medienbetrieblichen Arbeitsmarkt zu begeben und auf ihm voranzukommen. Ist hierzu doch in ganz besonderen Maße die selbstbewusste Haltung derjenigen gefordert, die sich unbedingt „nach vorne bringen“ wollen, wissen, wie man das anstellt und sich zutrauen, es durchzuziehen. So wie die ehrgeizige und fokussierte Amy Zayed, die das nötige Rüstzeug mitgebracht hat. Ihr bildungsbürgerliches Elternhaus (Mutter aus einer Diplomatenfamilie, Vater Apotheker, „Vorzeigeausländer“ in der Paderborner Provinz) hat es ihr mitgegeben. Bei ihr zuhause waren „Kultur und Musik so präsent wie nirgendwo sonst“ und mit drei hatte ich meine erste Single im Schrank“, sagt sei stolz. Außerdem, für die berufliche Karriere im Medienbetrieb unendlich wichtig, lernte sie, „schon früh in der Öffentlichkeit zu stehen“.
Wie viele von uns Behinderten bringen von ihrer Herkunft und ihrem Sozialisationshintergrund vergleichbare Bestvoraussetzungen mit? Eine, auf die es cum grano salis zutrifft, ist Verena Bentele, die prominente Verbandspolitikerin. Ihre frühe familiäre Förderung schuf gewiss eine wesentliche Grundlage für ihre Sportlerinnenkarriere bei den Paralympics. Höchst aufschlussreich für den Habitusaspekt finde ich die kurze Gesprächssequenz zwischen ihr und Amy in deren Radiofeature. Leite sie in ihrer VDK-Präsidentinnenfunktion Sitzungen, sei sie „genervt“, wenn andere ihr Dinge abnehmen möchten, die sie ihr wegen ihrer Blindheit nicht zutrauen und sie bestehe dann erst recht darauf, „wir machens nach meinen Regeln“. Wozu freilich – und ich denke, hier untertreibt sie ein wenig– „ein bisschen Stehvermögen“ erforderlich sei. Dem Amy beipflichtet mit den Worten, „in meinem Musikjargon würd ich eher sagen, man braucht die Eier oder Eierstöcke“. Dem Bentele wiederum mit „die braucht man auf jeden Fall“ zustimmt und hinzufügt, „man braucht leider auch ne hohe Resilienz, also Widerstandsfähigkeit“. – Kurzum, gegenseitige Bestätigung zweier Geistesverwandter, von ihrer Herkunft und Sozialisation bestens ausgestattet für das Stehvermögen in der öffentlichen Arena, der medialen wie der politischen. Zwei super fitte und taffe „high potentials und high performer“, die über die nötige Aggressivität verfügen, sich auch in einem Haifischbecken durchzusetzen und zu behaupten.
Zum neoliberalen Habitus aggressiven Wettbewerbs- und Aufstiegsverhaltens gehört also auch – um Benteles Stichwort von der „hohen Resilienz“ aufzunehmen – die Bereitschaft, sich unschönen Herausforderungen zu stellen, sich Zumutungen auszusetzen, die an die Substanz gehen. Ihr sei klar geworden, „unter welchem Druck ich mein ganzes Leben lang stand“, sagt Amy und zwar in erster Linie dadurch, aufgrund der Behinderung ihre gleichrangige Fähigkeit und Qualifikation zur Übernahme bestimmter Aufgaben anderen im Redaktionsteam gegenüber unter Beweis stellen zu müssen. Die ihrerseits über die ableistische Projektion, sie könne dies oder jenes doch sicher nicht, für sich die Chance einer Vorteilsnahme wittern beim Gerangel ums Ergattern interessanter Aufträge im Sender. Sie möchte nicht geschont werden bekennt Amy, sondern ihrer Leistungen wegen vom Sender gewollt und beauftragt werden. – Für mich ein irgendwie schräges Bekenntnis zur herrschenden Leistungsideologie von jemandem, der es doch ihre individuelle Schicksalssignatur, pathetisch gesprochen, nahelegen könnte, eben dieses Treiben und Getriebe einmal kritisch infrage zu stellen. Statt dessen verfällt sie in ein Lob schonungslosen Gefordert-werden-Wollens, das dem neoliberalen Agenda-2010-Gerede, dem Hartz IV Jargon vom angeblichen „Fördern“, realiter aber vor allen Dingen „Fordern“, aufs Haar gleicht. Ausdrücklich möchte Amy Gebrauch machen von ihrem „Recht darauf, Fehler zu machen, zu scheitern und wieder aufzustehen“. Auch sich selbst nicht schonen, gewissermaßen ohne Rücksicht auf Verluste oder wie es im Management-Sprech heißt, „gescheitert? Macht nichts, das nächste Mal besser scheitern!“
Vom gesellschaftlichen Rand oder aus der Sondereinrichtung hinein ins inkludierende Hamsterrad
Immerhin räumt Amy ein, als sie sich entschloss, ihre „Komfortzone zu verlassen“ und beim WDR ein Volontariat zu beginnen, davor bereits „psychisch kurz vor dem Burnout“ gewesen zu sein. Selbstausbeutung und die Abwertung, die Diskreditierung eines nicht selbstausbeuterischen Lebens- und Berufsalltags als „Komfortzone“, die es zu verlassen gelte, dies gehört gleichsam zum Geschäftsmodell aufstiegs- und karriereorientierter Berufstätigkeit im Neoliberalismus. In the long run aber führt permanente Selbstausbeutung – im Fall intellektueller oder kommunikativer Tätigkeit wie beim Rundfunk oder Journalismus speziell nervliche oder psychische Selbstausbeutung – zur Selbsterschöpfung. „Das erschöpfte Selbst“ war bezeichnender Weise der Titel eines der ersten Bücher zum Thema. Im Zustand Burnout sind Selbstausbeutung und Selbsterschöpfung an die Stelle von Selbstausdruck und Selbstverwirklichung getreten. – Lapidar erwähnt die Feature-Autorin, zwischen 2012 und 2019 legte sie eine Autoimmunerkrankung, so wörtlich, „komplett lahm“. Das einzige, was sie dazu sagt oder eigentlich nicht sagt, „als ich wieder gesund war, stand für mich fest, ich möchte dringend herausfinden, wie man Dinge in Deutschland verändern kann“. Okay, ohne spekulieren zu wollen, ob ihre Krankheitsanfälligkeit möglicherweise auch Folge von extremem beruflichen Stress ist, deutet uns Amy mit ihrem Veränderungswunsch an, dass sie doch nicht endlos bereit ist, Raubbau an sich selbst und ihrer Gesundheit zu treiben? Jedenfalls frage ich mich, sieben Jahre krankheitshalber quasi weg vom Fenster, steckt niemand so leicht weg und wenn jemand biographisch dazu kein weiteres Wort verliert, wäre dies dann nicht ein bedenkliches Anzeichen schizoider Gefühlsabwehr?
Zuhörende aus der Behindertenpopulation im allgemeinen wie auch aus dem Milieu des behindertenpolitischen Aktivismus, die Amy Zayeds Geschichte empowert und für das eigene berufliche Fortkommen oder auch für Beharrlichkeit in der Behindertenpolitik sich an ihr ein Beispiel nehmen möchten, dürfen meines Erachtens eines nicht außer Acht lassen: „Hohe Resilienz“ (Verena Bentele) plus „Eier haben“ (Amy Zayed) ist die Doppelressource, die jemand immer schon mitbringen muss, wenn speziell im Job und auf dem Arbeitsmarkt für ihn oder sie nicht alle Erfolgsanstrengung von vornherein zu einem aussichtslosen Unterfangen verurteilt sein soll. Und selbst diejenigen, die im Besitz dieser subjektiven Güter (Aggressivität und Widerstandsfähigkeit) sind, begeben sich dabei noch auf eine berufliche und biographische Gratwanderung, bei der sie den Burnout riskieren, nicht gefeit sind gegen den gesundheitlichen Zusammenbruch. – Was tun, wenn man wie mutmaßlich die meisten Behinderten und chronisch Kranken nicht oder nur sehr ungenügend über jene doppelte Ressource verfügt? Und wenn ein Teil der Betreffenden sich zudem seit je quasi abgeschlagen am gesellschaftlichen Rand aufhält oder in Sondereinrichtungen untergebracht ist, wie in den oben erwähnten „Werkstätten für behinderte Menschen“? Kann die Antwort lauten, man müsse sich die kostbaren Güter „aggressiver Habitus“ und „Resilienz“ halt irgendwie beschaffen?
Wir müssen die Frage gar nicht beantworten, denn sie ist durch einen ihr vorausliegenden Sachverhalt oder gesellschaftlichen Tatbestand beantwortet, ehe sie sich in unserem Zusammenhang überhaupt stellt. „Eier haben“ und „hohe Resilienz“ (in dem ihnen von Zayed und Bentele verliehenen Bedeutungshorizont und Richtungssinn) sind eine soziale oder Klassenressource. Als charakterliche Prägung oder subjektive Ausstattung ist sie eine Habituseigenschaft herrschender Klassen generell, hier im besonderen der bildungsbürgerlichen Schicht und der neuen akademischen Mittelschicht oder Klasse der „Kulturell Kreativen“. Deren Angehörige werden als Kinder und Jugendliche in das entsprechende Selbstverständnis und Verhaltensrepertoire hinein sozialisiert. Im Erwachsenenalter ist er ihnen zur zweiten Natur geworden. – Wer nicht in den bildungsbürgerlichen bzw. kulturell kreativen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aufgewachsen ist und deren Charaktererziehung und Verhaltensdressur nicht durchlaufen hat, kann sich den hier zur Diskussion stehenden Habitus nicht nachträglich beschaffen, man kriegt ihn nirgendwo auf dem Waren- und Dienstleistungsmarkt. Gut gemeinte Trainingsprogramme fruchten wenig und eine an die je Einzelnen adressierte Empowermentrhetorik richtet an der habituellen Defizitstelle gleichfalls kaum etwas aus.
Spätestens an diesem Punkt drängt sich die Frage auf: Wenn Gleichstellung und Inklusion auf berufliche und gesellschaftliche Zugehörigkeit zu und Teilnahme an einer Wettbewerbs- und Karrierewelt hinausläuft, wie sie sich bei Zayed und Bentele abzeichnet – erscheint dies vom Standpunkt der gesellschaftlichen Randexistenz behinderter Menschen, die sozial nicht nach dem neoliberalen Habitus programmiert sind, überhaupt ein behindertenpolitisch verlockendes und erstrebenswertes Ziel? – Für mich kann ich nur sagen, der Einblick in jene Welt, die mir beide mitihren persönlichen Erfahrungen und Wertungen geben, überzeuget mich diesbezüglich nicht. Dies ist nicht die Welt oder Gesellschaft, in der ich leben möchte und in die inkludiert zu werden mir kein behindertenpolitisch sinnvolles Ziel erscheint, zu dem ich auch nicht empowert werden möchte. – Raul Krauthausen hat in einem seiner Fahrstuhl-Podcasts gemeinsam mit einem Promi aus der queren Community über ihr beider Promi-Leid mit den nie genügenden Klickzahlen auf den eigenen Sozial-Media-Accounts geklagt. Dass man immer noch mehr wolle, nie sagen könne, jetzt ist es mal gut und wie er sich dabei selber, so wörtlich, in einem „Hamsterrad“ gefangen fühlt. Raul Krauthausens Lebensgeschichte, sein Aufstieg zu öffentlicher Bekanntheit und medialer Sichtbarkeit und seine Rolle in der Behindertenbewegung wird sicherlich von vielen Behinderten als vorbildlich empfunden. Von ihm zu hören, dass er sich auf seinem Erfolgsweg in einem Hamsterrad angekommen sieht, sollte uns allerdings zu denken geben. Die Ankunft in einer Tretmühle kann nicht im Ernst als behindertenpolitisches Leitbild dienen. Falls die realisierte Gleichstellung und Inklusion, zugespitzt formuliert, auf den Nenner gebracht werden kann: Vom gesellschaftlichen Rand oder aus der Sondereinrichtung hinein in ein inkludierendes Hamsterrad, so ist es höchste Zeit, sich Gedanken zu machen über einen behindertenpolitischen Perspektivwechsel und eine grundsätzliche gesellschaftliche Alternative.
Redaktioneller Hinweis. Fortsetzung folgt, darin: Was es mit der Revolution auf sich hat, von der ich im Teaser gesprochen habe und mit der meritokratischen Elite, in die unsere Promis Verena und Raul schon aufgestiegen sind, Amy einstweilen noch unterwegs ist und die Frage auf der Hand liegt, wo wir übrigen Behinderten abbleiben … Also, es bleibt spannend, dran bleiben!
Zugeeignet ist diese Kolumne und ihre Fortsetzung den kobinet Mitarbeitern Gerhard Bartz und Andreas Vega.