Villmar - Weyer (Kobinet) Anstatt einer neuen Kolumne versucht sich Stephan Laux in seinem Beitrag an einem Interview. Dafür hat er sich ausgerechnet Ralph Milewski ausgesucht. Der Fotokünstler hat das Cover von Stephan Laux Buch gestaltet und mit Fotografien aus seiner Serie Rearseat Diaries bereichert. Ralph ist in seinem Landkreis aktiv, wenn es um Barrierefreiheit geht. Hier nervt er die lokale Presse, die Kommunalpolitik und kommunale Beauftragte unermüdlich und hartnäckig. Diese Kampagne nennt er >INFORME<. Denn wenn schon eine barrierefreie Umgebung an Grenzen zu stoßen scheint, möchte er wenigstens darüber informiert werden.
kobinet: Lieber Ralph, was wäre die blödeste Frage, die ich Dir, als Aktivisten, in Bezug auf Barrierefreiheit, Teilhabe oder Inklusion stellen könnte?
RM: Die „dümmste Frage“, die Du suchst, wurde mir tatsächlich bereits gestellt – und zwar vom Amt für Senioren und Menschen mit Behinderung in Vorbereitung auf meinen Gastauftritt bei einer Podiumsdiskussion mit dem Thema „Wie barrierefrei ist der Landkreis Rhön-Grabfeld“. Die Frage lautete: „Ist der barrierefreie Zugang zu allen lebensnotwendigen Gebäuden möglich?“
Damit war mein Landkreis und dessen Einrichtungen zur öffentlichen Daseinsvorsorge gemeint. Zu diesen gehören u.a. im Einzelnen:
· Verwaltungsgebäude (z. B. Rathäuser)
· Bildungseinrichtungen (Schulen, VHS, Universitäten)
· Gesundheitseinrichtungen (Krankenhäuser, Arztpraxen, Apotheken)
· Pflegeeinrichtungen (Alten- und Pflegeheime)
· Öffentliche Verkehrsmittel und Bahnhöfe
· Finanz- und Postdienste (Banken, Postämter)
· Kulturelle Einrichtungen (Museen, Bibliotheken, Theater)
· Sporteinrichtungen (Schwimmbäder, Sporthallen)
· Freizeit- und Erholungseinrichtungen (Parks, Freizeitzentren)
· Notfall- und Sicherheitsdienste (Polizei, Feuerwehr)
· Soziale Dienste (Arbeitsagenturen, Sozialämter)
· Einzelhandels- und Dienstleistungsgeschäfte (Supermärkte, Friseure, etc.)
Noch Fragen?
*Die Frage „Ist der barrierefreie Zugang zu allen lebensnotwendigen Gebäuden möglich?“ ist in jedem Fall dämlich, egal, wie man sie versteht, verstehen möchte oder verstehen kann. Entweder man meint, ob der Zugang vorhanden ist, oder ob es möglich ist, es zugänglich zu machen.
kobinet: Bekommst Du öfter solche blöden Fragen gestellt und was antwortest Du dann?
RM: Blöde Fragen sind das eine, Anschuldigungen und Anwürfe, dass man jemanden angeblich aus dem Stadtrat, seinem Amt als Behindertenbeauftragter und 3. Bürgermeister jagen möchte, weil man in einem harmlosen Leserbrief in der Lokalpresse, in dem es um ein Bau- bzw. Sanierungsprojekt von Straßen in der Kreisstadt geht, allgemein (nicht persönlich!) auf die Barrierefreiheit hinweist, das andere.
„Was Sie schreiben, ist Stimmungsmache gegen die Stadt und gegen mich als Behindertenbeauftragter. Ich finde es schade, dass Sie hier als ‚Lehrmeister‘ auftreten, anstatt in Ihrer Heimatkommune die Barrierefreiheit voranzubringen. Oder wollen Sie mich aus dem Stadtrat ‚jagen‘? Einen kräftigen ‚Schubser‘ haben Sie mir schon gegeben.“
kobinet: Ich habe eine systemische Ausbildung. Als systemischer Berater stellt man manchmal Fragen nach einer Vision, die auf den ersten Blick absurd anmutet.
Hier meine absurd anmutende, systemische, visionäre Frage:
Angenommen, Deutschland wäre ebenerdig (Okay! Diese Vision wäre gerade in Bezug auf Oberbayern extrem absurd!). Also angenommen, Deutschland wäre barrierefrei. Was würde das für Dich bedeuten?
RM: Was bedeutet barrierefrei? Für mich im Einzelnen: Alles machen zu können, was Fußgänger tun könnten? Also die Option darauf zu haben, es tun zu können? Mit meinem 230 kg schweren E-Rolli die Türme vom Kölner Dom besteigen? Natürlich nicht. Ich möchte nur einfach am Alltag teilnehmen können. Ins Kino gehen, in Gaststätten, Klamotten kaufen, auf Toilette gehen können, den ÖPNV nutzen, öffentliche Einrichtungen wie die VHS, Bibliotheken, das Rathaus, die Verwaltung, Galerien, Museen – also mich dort aufhalten und mitmachen können, wo der Großteil der Gesellschaft dran teilnimmt.
kobinet: Ist z.B. der öffentliche Nahverkehr nicht eine Barriere an sich? Was nützt mir der barrierefreie Einstieg in den Zug, wenn er nicht kommt?
RM: Ich lebe auf dem Land, in meinem Dorf gibt es nicht mal ÖPNV, geschweige denn barrierefrei. Deshalb ist man hier, wo ich wohne, auf einen eigenen fahrbaren Untersatz angewiesen. Aber tatsächlich ist der ÖPNV im ländlichen Raum völlig unzureichend, egal ob barrierefrei oder nicht. Wenn es keinen ÖPNV gibt, ist alles gut – was nicht vorhanden ist, muss man auch nicht barrierefrei gestalten!
kobinet: Meine Rangfolge der 3 aktuell größten Barrieren an sich in Deutschland ist:
Platz 1: FDP
Platz 2: CDU
Platz 3: SPD
(Die AFD ist für mich, leider im Gegensatz zu aktuellen Wahlergebnissen, abgeschlagen auf den hinteren Rängen, wobei sie in der Rangfolge der unzumutbaren Zeiterscheinungen, eindeutig auf Platz 1, noch weit vor der ‚Deutschen Bahn‘ rangiert)
Wie ist Deine Rangfolge?
RM: Meine Rangfolge der 3 aktuell größten Barrieren in Deutschland ist:
1. Bürokratie
2. Reformallergie, starre und verkrustete Strukturen in den Institutionen und Einrichtungen und das vorsätzliche Verhindern/Verweigern der Umsetzung von Rechten und Gesetzen.
3. Falsches Verständnis von Barrierefreiheit, Inklusion und Teilhabe in der Gesellschaft.
Wobei alles ineinander greift und sich gegenseitig bedingt.
kobinet: Als ich noch vollzeitbeschäftigt war, benutzte ich fehlende zeitliche Ressourcen oft als Ausrede für mein mangelndes politisches Engagement. Benutzt Du fehlende Barrierefreiheit manchmal als Ausrede?
RM: Bist Du Dir sicher, dass es bei Dir tatsächlich Ausreden waren? Es kommt doch immer auf die persönliche Situation an. Nicht jeder hat immer die Energie oder die Möglichkeiten, sich so einzusetzen, wie man es gerne tun würde oder für richtig hält. Vom rein menschlichen Standpunkt aus gesehen: Natürlich nutze ich auch Ausreden wie jeder andere Mensch. Das hat nichts mit fehlender Barrierefreiheit zu tun. Wenn es mir in den Kram passt, dann würde ich auch diese Ausrede nutzen – natürlich! Aber in Sachen (fehlender) Barrierefreiheit höre ich die meisten Ausreden von Menschen ohne Behinderung … „So einfach wie Sie sich das vorstellen, geht das nicht, Herr Milewski.“
kobinet: Ist Barrierefreiheit nur etwas für behinderte Menschen?
RM: Echt jetzt? Die Frage muss ich wirklich nicht beantworten, oder?
kobinet: Wie würdest Du reagieren, wenn Du eine Behindertentoilette benutzen wolltest und ich draufsitzen würde?
RM: Ich würde fragen, wo Du herkommst und warum ich nicht wusste, dass Du hier bist. Alternativ: „Bist Du bald fertig? Ich muss auch mal!“
kobinet: Darf man Menschen zur Teilhabe zwingen?
RM: Nein!
Davon abgesehen ist es bei Zwang keine Teilhabe mehr. Teilhabe basiert auf Freiwilligkeit, Selbstbestimmung und dem Recht zur Mitgestaltung. Teilhabe bedeutet, dass Menschen die Möglichkeit haben, sich aus eigenem Antrieb und nach ihren eigenen Interessen und Fähigkeiten aktiv an gesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen.
kobinet: Welcher Begriff (welche Floskel) ist am abgedroschensten? „Inklusion“, „Teilhabe“ oder „Barrierefreiheit“?
RM: INKLUSION! Wenn Inklusion draufsteht, ist meistens keine drin. Wenn man Inklusion überhaupt erst draufschreiben muss, ist das schon sehr verdächtig. Echte Inklusion findet dort statt, wo man sie nicht hervorhebt und am besten gar nicht bemerkt.
Zusatzfrage: Hat es eine meiner Fragen zur blödesten Frage, die ich Dir, als Aktivisten, in Bezug auf Barrierefreiheit, Teilhabe oder Inklusion stellen könnte, geschafft?
RM: Ja, fast: „Ist Barrierefreiheit nur etwas für behinderte Menschen?“
kobinet: Super! Das hat sich gelohnt! Herzlichen Dank für dieses Interview!