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Berlin (kobinet) Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) hat am 4. August 2023 die Aktion Schichtende in Werkstätten für behinderte Menschen gestartet. Ziel der Aktion ist es, die verstärkte Nutzung des Budget für Arbeit als Alternative zu einer Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen voranzutreiben. An jedem vierten Arbeitstag eines Monats weist die ISL darauf hin, dass an diesem Tag bei einer Beschäftigung von 6 Stunden pro Arbeitstag das durchschnittlich gezahlte Entgelt in einer Werkstatt für behinderte Menschen von 225 Euro pro Monat bereits erwirtschaftet wäre, wenn in den Werkstätten Mindestlohn gezahlt würde. Um behinderte Menschen zu ermutigen, den Schritt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu wagen, zeigt die ISL konkrete Beispiele auf, wo und wie dies bereits gelungen ist. Innerhalb von zwei Wochen wurde einer behinderten Frau aus Wiesbaden das Budget für Arbeit bewilligt, so dass sie am 1. September 2023 ihre Arbeit bei der ISL aufnehmen konnte.
Während behinderte Menschen, die in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten, monatlich lediglich ein durchschnittliches Entgelt von 225 Euro bekommen, werden sie bei einer Beschäftigung im Rahmen des Budget für Arbeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht nur sozialversicherungspflichtig beschäftigt, sondern erhalten natürlich auch den Mindestlohn, wie alle anderen Arbeitnehmer*innen auch.
„Für uns ist es wichtig, dass wir nicht nur theoretisch über Alternativen zur Werkstatt für behinderte Menschen reden, sondern selbst Anstrengungen unternehmen, um behinderten Menschen, die sonst in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten, echte Arbeitsplätze zu bieten. Deshalb freue ich mich, dass wir seit 1. September eine dritte Person im Rahmen des Budget für Arbeit beschäftigen können, die sonst wahrscheinlich in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeiten würde. Und das tolle daran war, dass dieses Budget für Arbeit innerhalb von zwei Wochen bewilligt wurde, so dass die neue Mitarbeiterin wie geplant am 1. September ihre Arbeit beginnen konnte“, berichtet Alexander Ahrens von der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL). Die Frau, die selbst Beatmung und Persönliche Assistenz nutzt, wird nun ihre Erfahrungen mit der Situation beatmeter Menschen nutzen und andere beatmete Menschen unterstützen und beraten sowie an der Interessenvertretung für eine menschenrechtlich orientierte außerklinische Intensivpflege mitwirken.
Dass es so schnell und so unkompliziert mit der Bewilligung des Budgets für Arbeit funktionierte, das ist für die ISL auch neu. Denn bei der ersten Beschäftigung im Rahmen des Budgets für Arbeit war das Ganze noch ziemlich zäh und an anderer Stelle muss die ISL mit den Betroffenen noch kämpfen, um das Budget für Arbeit bewilligt zu bekommen. „Wir können andere behinderte Menschen und Arbeitgeber aber ermutigen: es lohnt sich dran zu bleiben“, erklärte Alexander Ahrens. Gemeinsam mit einigen Projektpartnern betreibt die ISL seit kurzem ein Projekt mit dem Titel „Budgetkompetenz – Initiative zum Budget für Arbeit und Ausbildung“. Die Initiative Budgetkompetenz verfolgt das Ziel, die Nutzung der Budgets für Arbeit oder Ausbildung bundesweit zu verbessern. Im Mittelpunkt stehen Menschen mit Behinderungen, die sich für die Budgets interessieren, sich dazu unabhängig beraten lassen wollen und ein Unterstützungsangebot vor Ort suchen. Zudem wendet sich das Modellprojekt an Arbeitgeber*innen, die sozialversicherungspflichtige Arbeits- bzw. Ausbildungsplätze im Rahmen der Budgets verwirklichen wollen.
„Mit diesem Projekt wollen wir gemeinsam mit unseren erfahrenen Projektpartnern auf diesem Gebiet einen einfacheren Zugang zum Budget für Arbeit oder Ausbildung ermöglichen. Wir wollen eine kompetente Beratung für die praktische Umsetzung anbieten und behinderte Menschen dazu befähigen, auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu gelangen,“ fasst es Wiebke Schär, Projektleiterin bei der ISL zusammen. Sie betont weiter: „Zudem wendet sich das Modellprojekt an Arbeitgeber*innen, die sozialversicherungspflichtige Arbeits- bzw. Ausbildungsplätze im Rahmen der Budgets verwirklichen wollen. Besondere Aufmerksamkeit wird auf Betriebe gelegt, die Werkstattbeschäftigte bereits auf Außenarbeitsplätzen beschäftigen.“ Bestehende Unterstützungsangebote für Fachdienste oder Beratungsstellen erhalten zudem Informationen, Schulungsangebote und Praxisbeispiele, um die Umsetzung der Budgets zu fördern. Für Budgetnutzer*innen wird eine Interessenvertretung im Sinne des Peer-Supports aufgebaut. Komplettiert werden die Projektangebote durch eine Informations- und Vernetzungsplattform.
Das Budget für Arbeit ist für Menschen gedacht, die aufgrund ihrer Behinderung bisher nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten, weil sie entweder voll erwerbsgemindert bzw. werkstattberechtigt sind. Damit soll die Möglichkeit geschaffen werden, ihr Recht aus Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) wahrzunehmen, als behinderter Mensch Arbeit frei wählen zu dürfen und seinen Lebensunterhalt durch Arbeit selbst zu verdienen.
Das Projekt wird aus Mitteln des Ausgleichsfonds gefördert und ist auf vier Jahre ausgelegt. Projektpartner sind Access (Erlangen), die BAG UB, BBD Neuss und integra Lübeck.
Link zu weiteren Infos zum Budget für Arbeit: www.budgetfuerarbeit.de
Hintergrund:
Bei einer Beschäftigung von 6 Stunden pro Tag bei einem Mindestlohn von 12 Euro werden in vier Arbeitstagen 288 Euro erwirtschaftet. In der Werkstatt für behinderte Menschen liegt das durchschnittlich ausgezahlte Monatsentgelt bei 225 Euro. Selbst unter Berücksichtigung der Sozialabgaben wäre damit nach vier Tagen Schichtende.
„Der Ausschuss ist besorgt über (a) Segregation auf dem Arbeitsmarkt des Vertragsstaates; (b) finanzielle Fehlanreize, die Menschen mit Behinderungen am Eintritt oder Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt hindern; (c) den Umstand, dass segregierte Werkstätten für behinderte Menschen weder auf den Übergang zum allgemeinen Arbeitsmarkt vorbereiten noch diesen Übergang fördern“, heißt es in den Abschließenden Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands vom 13. Mai 2015 vonseiten des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Und weiter heißt es dort: Der Ausschuss empfiehlt dem Vertragsstaat, durch entsprechende Vorschriften wirksam einen inklusiven, mit dem Übereinkommen in Einklang stehenden Arbeitsmarkt zu schaffen, durch (a) die Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten an zugänglichen Arbeitsplätzen gemäß der Allgemeinen Bemerkung Nr. 2 (2014) des Ausschusses, insbesondere für Frauen mit Behinderungen; (b) die schrittweise Abschaffung der Werkstätten für behinderte Menschen durch sofort durchsetzbare Ausstiegsstrategien und Zeitpläne sowie durch Anreize für die Beschäftigung bei öffentlichen und privaten Arbeitgebern im allgemeinen Arbeitsmarkt; (c) die Sicherstellung, dass Menschen mit Behinderungen keine Minderung ihres sozialen Schutzes bzw. der Alterssicherung erfahren, die gegenwärtig an die Werkstätten für behinderte Menschen geknüpft sind (…)“
Der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen hat diese Haltung und vor allem die Notwendigkeit echter Inklusion und von Deinstitutionalisierung bei der Staatenprüfung Deutschlands am 29. und 30. August 2023 in Genf bekräftigt.
Link zu den Abschließende Bemerkungen über den ersten Staatenbericht Deutschlands vom 13. Mai 2015
Die ISL weist auch auf den Roman „Zündeln an den Strukturen“, der sich mit der Situation behinderter Menschen in und vor allem mit Alternativen zur Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt, hin.
Link zum kobinet-Bericht zur Aktion Schichtende vom 4. August 2023