
Foto: Michael Gerr
Kassel (kobinet) Wie nah Fiktion und Wirklichkeit beisammen sein können, darauf blickt kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul in einem Wochenrückblick in Sachen Beschäftigung behinderter Menschen in und außerhalb von Werkstätten für behinderte Menschen. In der am Montag in den kobinet-nachrichten bekanntgegebenen Veröffentlichung seines Reportage-Romans "Zündeln an den Strukturen" geht er der Frage nach: "Was wäre, wenn es keine Werkstatt für behinderte Menschen gäbe?" Hubert Hüppe kritisierte die Möglichkeit der Weiterförderung der Werkstätten aus Mitteln der Ausgleichsabgabe über 2023 hinaus. Die Regierung von Österreich wurde in Genf befragt, warum es so wenig Alternativen zur Werkstatt gibt und warum so wenig in Sachen Deinstitutionalisierung getan wird. Und dann ist da noch der Freistaat Bayern, der die Förderung weiterer Werkstattplätze als Inklusion von seiner Sozialministerin bejubelt. All das ist Ottmar Miles-Paul ein Kommentar über Fiktion und Wirklichkeit des Werkstättensystems wert.
Kommentar von Ottmar Miles-Paul
Gut zwei Jahre habe ich mich damit beschäftigt, wie man die in vielfacher Hinsicht diskriminierende Situation behinderter Beschäftigter in Werkstätten von der meist abgehobenen bürokratischen Diskussionsbene auf das konkrete Erleben von behinderten Menschen, die in Werkstätten meist ohne Alternative arbeiten (müssen), herunterbrechen könnte. Dafür habe ich mich letztendlich in die Fiktion eines Romans begeben, in dem behinderte Beschäftigte einer Werkstatt keinen anderen Weg des Umgangs mit ihrem Frust finden, als die Werkstatt anzuzünden. Die daraus entstehende Situation bildet dann den Rahmen der zentralen Frage des Romans: „Was wäre, wenn es keine Werkstatt mehr gäbe? Welche Energien könnten freigesetzt werden, um bessere Alternativen zur aussondernden Beschäftigung bei mieser Bezahlung am Rande der Gesellschaft zu ermöglichen?“ Das Schreiben des Romans hat mir großen Spaß gemacht. Ich hätte aber nicht gedacht, dass die dort geschilderte Situation sich anhand einiger Ereignisse so konkret zusammenfassen ließen, wie es die Nachrichten dieser Woche geliefert haben. Deshalb bietet dieser Wochenrückblick vielleicht einen Einblick in die Diskussion und den Stand der Inklusion im Bereich Arbeit für diejenigen, die bisher noch in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten (müssen).
„Rechtzeitig vor der Staatenprüfung Deutschlands zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention am 29. und 30. August durch den Ausschuss der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderungen bietet der nun erschienene Roman eine andere und lesenswerte Sichtweise über Ungerechtigkeiten in Werkstätten.“ Darauf wies Prof. Dr. Sigrid Arnade vom Vorstand des Verein für Menschenrechte und Gleichstellung Behinderter – NETZWERK ARTIKEL 3 – im Rahmen einer Presseinformation hin, die auch in den kobinet-nachrichten veröffentlicht wurde.
Link zum Bericht in den kobinet-nachrichten vom 21. August 2023
Uwe Heineker, ein langjähriger Streiter der Behindertenbewegung, der sich schon seit Jahrzehnten für Veränderungen im Werkstättensystem stark macht, bewertete den Roman auf Amazon mit der Überschrift „Mitreißende Aufdeckung wahrer Machenschaften und Zustände in Behindertenwerkstätten“ u.a. wie folgt: „Als besondere Stärke eröffnet dieser leicht verständlich verfasste Roman dem Leser eine andere und lesenswerte Sichtweise über Ungerechtigkeiten in Werkstätten, die der breiten Öffentlichkeit immer noch weitgehend unbekannt sind.“
Link zur Bewertung von Uwe Heineker auf Amazon
Soweit so gut zur Fiktion mit dem Versuch, Interessierten die Erfahrungen einiger behinderter Menschen in Werkstätten und das sie umgebende System in Form eines Romans näher zu bringen. Bereits am Dienstag und Mittwoch wurde bei der Staatenprüfung Österreichs in Genf auf ganz anderer Ebene deutlich, was die UN-Behindertenrechtskonvention auch von Staaten wie Österreich und Deutschland verlangt. Die Frage, warum es Österreich nicht möglich war, ernsthafte Strategien zur Deinstitutionalisierung zu entwickeln, legte offen, was man sich auch in Deutschland immer wieder fragt, zumal der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen Deutschland schon 2015 ins Stammbuch geschrieben hatte, dass dringende Veränderungen von der Werkstatt hin zum allgemeinen Arbeitsmarkt mit entsprechenden Strategien nötig sind. Gerade im Hinblick auf die Deinstitutionalisierung befindet sich Deutschland immer noch im tiefen Winterschlaf.
Wenn sich die Sondersysteme Förderschulen, Wohneinrichtungen und Werkstätten für behinderte Menschen schon kaum in Richtung Inklusion bewegen, kann man der Bundesregierung immerhin attestieren, dass Versuche für Veränderungen unternommen wurden und hoffentlich auch weiter unternommen werden. Die Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes im Jahr 2016 hat den Fokus auf die personenzentierte Unterstützung statt der Förderung von Einrichtungen verändert. Das Budget für Arbeit und Ausbilung hat immerhin ein paar Türen auf den allgemeinen Arbeitsmarkt geöffnet, auch wenn diese Unterstützungsmöglichkeiten zum Teil noch viel zu kompliziert angelegt sind. Und schließlich wurde dieses Jahr das Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts vom Bundestag und Bundesrat verabschiedet. Und daran zeigt sich, wie zäh Veränderungen in Deutschland sind und wie erfolgreich der Widerstand der Sondersystembefürworter*innen ist, wo auch die Kritik des CDU-Bundestagsabgeordneten Hubert Hüppe ansetzt.
Im Gesetz zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarktes wurde noch kaum etwas für die Verbesserung des Übergangs aus Werkstätten auf den allgemeinen Arbeitsmarkt geregelt, das soll in einem weiteren Gesetzgebungsverfahren angepackt werden. Es wurde aber festgeschrieben, dass ab 1. Januar 2024 keine Mittel aus der Ausgleichsabgabe mehr für Behinderteneinrichtungen, also zum Beispiel für Werkstätten verwendet werden dürfen. Das Geld soll endlich für einen inklusiven Arbeitsmarkt aufgewandt werden. Und siehe da, die Aussonderungsbefürworter*innen haben wieder einmal ein Schlupfloch gefunden, weiterhin an die Kohle zu kommen. Nun sollen auch über den 31. Dezember 2023 hinaus, Anträge beispielsweise für Werkstätten aus Mitteln aus der Ausgleichsabgabe bewilligt werden können, wenn diese bis 31. Dezember 2023 gestellt wurden. Und hier regen sich Hubert Hüppe und viele andere zu Recht auf. Das ist förmlich die Einladung an Werkstätten und so manche Bundesländer, noch mal richtig in die Vollen zu gehen und dieses Jahr noch kräftig Mittel aus der Ausgleichsabgabe für eine aussondernde Beschäftigung in Werkstätten für behinderte Menschen zu beantragen. Diese Anträge können dann auch noch nach dem 31. Dezember 2023 bewilligt werden. So mancher Euro für die Aussonderung in Werkstätten kann also noch eine Weile lang in die Sonderwelten fließen. Eine ernsthafte Umsteuerung in Richtung Inklusion sieht anders aus, zumal viele Projekte mit diesem Geld einiges in Sachen Inklusion bewegen könnten.
Link zum kobinet-Bericht vom 23. August 2023 über die Kritik von Hubert Hüppe
Und genau an diesem Punkt lohnt sich nun der Blick in den Freistaat Bayern. Hier wird nämlich weiterhin unverblümt und anscheinend unbelehrbar lauthals verkündet, dass die Werkstätten für behinderte Menschen Teil eines inklusiven Arbeitsmarktes sind. Als ob es keine UN-Behindertenrechtskonvention gäbe und die Kritik der letzten Jahrzehnte nie Bayern erreicht hätte. Das liest sich in der Pressemitteilung vom 22. August 2023 des Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales wie folgt: „In den Werkstätten steht der Mensch mit seinen individuellen Fähigkeiten im Fokus. Menschen mit Behinderung werden hier zielgerichtet unterstützt und die Weiterentwicklung gefördert. In den Werkstätten wird Inklusion gelebt!“ Das wird dann in schöne Worte der bayerischen Arbeitsministerin Ulrike Schaf verpackt und mit der Überschrift „Scharf: ‚Ja zu Teilhabe und sozialem Zusammenhalt in unserem Land – Berufliche Inklusion ist ein wichtiger Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben!“ per Pressemeldung verbreitet. Wären es nur Worte, könnte man es vielleicht beim Kopfschütteln über „die Bayern“ belassen. Aber weiter liest man in der Pressemeldung in der Unterüberschrift: „Fast 6,5 Millionen Euro für 120 Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderung in Einheit mit einer Förderstätte mit 24 Plätzen in Rosenheim“. Also 6,5 Millionen Euro zum Ausbau von Exklusion statt der Förderung inklusiver Arbeits- und Lebensbedingungen für behinderte Menschen. 6,5 Millionen Euro für die Wohlfahrtslobby, die sich angesichts der Regelungen der UN-Behindertenrechtskonvention nicht schämt, weiterhin auf Aussonderung zu setzen, wenn der Euro nur rollt.
Link zur Presseinformation vom 22. August 2023 des Bayerischen Sozialministeriums
Und so spannt sich der Bogen von der Fiktion zur bitteren Realität in Sachen Aussonderung in Werkstätten für behinderte Menschen im Laufe einer Woche. Wäre da nicht am Donnerstag ein Anruf bei mir eingegangen, dass es der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) gelungen ist, demnächst eine weitere behinderte Person mit der Förderung des Budgets für Arbeit einstellen zu können, der Frust wäre perfekt – nach so einer Woche. Zum Glück gibt es immer wieder solche Nachrichten, wie auch von den Sozialhelden und anderen Betrieben, über Alternativen zur Werkstatt. Auch wenn das nach wie vor Tropfen auf den heißen Stein sind, so bleibt die Hoffnung, dass wir dieses Rad der Aussonderung in Deutschland vielleicht doch einmal – auch gegen allen Unsinn aus Bayern – in Richtung Inklusion drehen können. Auch, wenn dies verdammt mühsam ist.
Gespannt darf man darauf sein, was die nächste Woche bringt. Am 29. August von 15:00 bis 18:00 Uhr und am 30. August 2023 von 10:00 bis 13:00 Uhr wird sich der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen mit der Situation – und damit sicher auch der Menschen, die in Werkstätten arbeiten (müssen), beschäftigen. Da werden sich die deutschen Vertreter*innen sicherlich warm anziehen müssen. Der konstruktive Dialog, wie dieser Teil der Staatenprüfung genannt wird, wird im Livestream übertragen.
Hier die von der Monitoringstelle UN-Behindertenrechtskonvention beim Deutschen Insitut für Menschenrechte bekanntgegebenen Links für die Live-Übertragungen des konstruktiven Dialogs zur Staatenprüfung Deutschlands:
– 29. August ab 15 Uhr: https://media.un.org/en/asset/k1a/k1aee33qdr
– 30. August ab 10 Uhr: https://media.un.org/en/asset/k1a/k1athepunl
Wie soll denn die Inklusion der Werkstattbeschäftigten denn ausschauen? Gerade in den Werkstätten für Menschen mit seelischer Behinderung ist aus meiner Sicht heraus begründet und zu Recht der Übergang in den allgemeinen Arbeitsmarkt gering.
Ich berichte hier aus meinen Erfahrungen die ich sammeln durfte als Werkstattbeschäftigter. Es ist erschreckender Weise an der Tagesordnung das in den o.g. Werkstätten ein gewisser Teil der Beschäftigten pro Monat Fehlzeiten von 10 Tagen bis knapp 6 Wochen haben.
Diesen Teil kann man nicht mehr fördern, daraus ergibt sich schon das nächste Problem. Der Rest der zuverlässigen kann man auch nicht individuell fördern, weil die Werkstätten Geld erwirtschaften müssen um daraus die Werkstattbeschäftigten zu bezahlen. Wenn zu wenig Werkstattbeschäftigte da sind, dürfen die Fachkräfte/Gruppenleiter*innen einspringen um Terminfristen einzuhalten!
Ergo fällt auch hier die Förderung aus.
Themenkomplex Entlohnung
Kurz und knapp wer heute aufgrund der Inflation glaubt dass der Mindestlohn das Allheilmittel ist wird früher oder später Ernüchtert aufwachen. Ein großer Teil meiner ehemaligen Kolleg*innen arbeiten in der WfbM auf Teilzeit. Das heißt wenn der Mindestlohn kommen sollte, sind sie immer noch auf aufstockende Grundsicherung angewiesen.
Umverteilung von unten nach oben
Die Werkstattbeschäftigten die noch aufstockende Grundsicherung beziehen zahlen im Endeffekt den Mehrbedarf für das Mittagessen quasi selber und damit genau den gleichen Betrag wie die Fachkräfte weil die Grundsicherung ein Teil des Werkstatteinkommens anrechnet.
Haben aber Werkstattbeschäftigte keinen Anspruch auf Grundsicherung vollkommen egal wie hoch dann das Einkommen durch volle Erwerbsminderungsrente ist bekommen sie ein vergünstigtes Angebot zur Teilnahm am Mittagessen, sofern die Werkstatt so was anbietet.
Deutschlandticket nicht für Anspruchsberechtigte auf das Sozialticket bzw. nur gegen mehr Bezahlung
Die Landschaftsverbände zahlen für die Werkstattbeschäftigten mit aufstockender Grundsicherung lediglich nur den Betrag für das Sozialticket, möchte ich das Deutschlandticket darf ich dann den noch offenen Betrag aus dem Werkstattlohn finanzieren Während aber dann ein kleiner Kreis die aus den unterschiedlichsten Gründen im Regelfall offene Beträge beim Verkehrsdienstleister haben. So mit kein Abo bekommen. Schließen die Werkstätten dann Jobtickets für diesen Personenkreis ab. Mir wird schlecht bei so einer ,,fairen“ Sozialpolitik.
Danke Ottmar für die Erwähnung meiner Person und möchte in diesen Zusammenhang hintegründig hierauf hinweisen – die Beschlußvorlage dieser „Deutzer Erklärung“ wurde von mir verfasst: „Werkstätten müssen sich zu Integrationsbetrieben weiterentwickeln, in denen sowohl Menschen mit als auch ohne Behinderung einen ihren Fähigkeiten und Neigungen entsprechenden Arbeitsplatz finden und volle Arbeitnehmerrechte haben. Das haben schon die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des 1. Alternativen Werkstättentages 1988 gefordert! Die Umwandlung in Integrationsbetriebe sollte schrittweise erfolgen und spätestens in zehn Jahren abgeschlossen sein.“ Diese schon seinerzeit richtungsweisende Kernforderung dieser Erklärung aus dem Jahr 2006 (!) wurde von der Politik bis heutzutage völlig ignoriert – und, wie peinlich, somit sogar ihre eigene darin zitierte Aussage aus dem seinerzeitlichen Koalitionsvertrag: https://t1p.de/wfbm
Ergänzung:ich hoffe – auch angesichts besagter UNO-Staatenprüfung Deutschlands (erneute Rüge?!) auf einen Flächenbrand – festgefahrene, scheinbar unauflösbare Strukturen SIND aufösbar, wie die DDR 1989 – klingelt’s – werde es wohl nicht mehr selbst erleben, habe aber zumindest mitgezündelt ?!
Man darf nur hoffen, dass da was passiert. Wenn man sich aber den Bericht anschaut, der am Dienstag der UN vorgelegt wird, dann habe ich wenig Hoffnung.
es gibt noch den https://www.vdk.de/deutscher-behindertenrat/mime/00134312D1692034122.pdf …