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Zukunft ohne Barrieren?! Zum Stand der politischen Diskussion

Jessica Schröder
Jessica Schröder
Foto: Franziska Vu ISL

Berlin (kobinet) Wo wir heute am Europäischen Protesttag zur Gleichstellung behinderter Menschen in der Diskussion um das voraussichtlich in zwei Wochen am 20. oder 21. April im Bundestag zur Abstimmung anstehende Barrierefreiheitsstärkungsgesetz stehen, macht ein Video von Gesprächen am Mehr Barrierefreiheit Wagen vom Nachrichtendienst EU Schwerbehinderung und ein Bericht über eine Veranstaltung von Mechthild Rawert deutlich. Sie zeigen, wo wir in den verbleibenden zwei Wochen noch nachhaken können und müssen.



Entscheidend ist derzeit die Frage, wie sich die Koalitionsfraktionen zu möglichen Änderungen am Gesetzentwurf der Bundesregierung für ein Barrierefreiheitsstärkungsgesetz stellen. Ein Eindruck zur Denkweise der CDU/CSU Fraktion bietet ein Video-Bericht von EU Schwerbehinderung über Gespräche am Mehr Barrierefreiheit Wagen. Neben einer Zwischenbilanz der bisherigen Aktivitäten im Rahmen der Aktion kommen dabei Dr. Britta Schlegel und Dr. Leander Palleit von der Monitoringstelle zur UN-Behindertenrechtskonvention zu Wort. Danach erläutert Peter Weiß, Vorsitzender der Arbeitsgruppe Arbeit und Soziales der CDU/CSU Bundestagsfraktion und Mitglied des Fraktionsvorstandes, die derzeitige Position der Unionsfraktion. Er spricht dabei u.a. vom Belastungsmoratorium für die Wirtschaft, also darüber, dass die Wirtschaft in der Pandemie nicht weiter belastet werden darf.

Link zum Video von EU Schwerbehinderung über die Gespräche am Mehr Barrierefreiheit Wagen vom 3. Mai

Video von EU Schwerbehinderung über Gespräche am Mehr Barrierefreiheit Wagen

Soweit die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite hat die Referentin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL), Jessica Schröder, die Online-Diskussion am 28. April verfolgt, zu der die SPD-Bundestagsabgeordnete Mechthild Rawert eingeladen hatte. Ihr Bericht macht die verschiedenen Sichtweisen in der aktuellen Diskusison gut deutlich.

Bericht von Jessica Schröder

„Zukunft ohne Barrieren?!“ – ein digitaler Polit-Talk zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz

Die SPD-Bundestagsabgeordnete Mechthild Rawert, Mitglied im Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, veranstaltete am 28.04.2021 einen Polit-Talk zum aktuellen Gesetzgebungsverfahren des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes. Geladen waren Gäste aus Politik und der Selbstvertretung behinderter Menschen, wie Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen, Dr. Annette Tabara, Abteilungsleiterin Teilhabe und Belange von Menschen mit Behinderungen, Soziale Entschädigung und Sozialhilfe im Bundesministerium für Arbeit und Soziales und Dominik Peter, Vorstand des Berliner Behindertenverbands „Für Selbstbestimmung und Würde e.V.“

Die Veranstaltung verdeutlichte den gesellschaftlichen und rechtlichen Stellenwert von gesetzlich geregelter und praktisch gelebter Barrierefreiheit und machte im gleichen Atemzug wieder einmal deutlich, dass trotz eines ausreichenden Bewusstseins für die Brisanz dieses Themas gesetzliche Regelungen zur vollumfänglichen Barrierefreiheit, die auch privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen zur Barrierefreiheit verpflichten, eher zögerlich und wenig ambitioniert angegangen werden.

Mechthild Rawert hatte sich schon in der Vergangenheit durch ihr Engagement in anderen Gesetzgebungsverfahren, beispielsweise zum Betreuungsrecht, mit dem Ziel unterschiedliche Interessenträger an einen Tisch zu bringen, um Möglichkeiten und Grenzen einer ambitionierten Gesetzgebung auszuloten, positiv hervorgetan.

Der Kommentar von Frau Dr. Tabara fokussierte sich neben einem Abriss der Gesetzesinhalte des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes auf Ausführungen zum ambitionierten Wirken des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, das einen ersten Gesetzesvorschlag erarbeitet hatte, der dann mit den anderen Bundesministerien abgestimmt werden musste. Für das federführende Ministerium war klar, dass laut vereinbartem Koalitionsvertrag keine Umsetzung über eine reine eins zu eins-Umsetzung der EU-Richtlinie möglich gewesen wäre. Alle Versuche, etwas ambitionierter vorzugehen, z. B. die Übergangsfristen auf 10 Jahre abzukürzen oder die Marktüberwachung des Gesetzes auf Bundesebene zu organisieren und den Geltungsbereich des Gesetzes zu erweitern, stießen bei den anderen Ministerien auf taube Ohren. Das barrierefreie Produkte und Anwendungen zwingend eine barrierefreie gebaute Umgebung voraussetzen, damit sie von allen Menschen aufgefunden, betreten und genutzt werden können, ist für Frau Dr. Tabara zwar nachvollziehbar und logisch, jedoch wird hier seitens aller Ministerien immer das Argument vorgeschoben, dass Regelungen zur baulichen Umwelt, nur durch die einzelnen Bundesländer erlassen werden können. Frau Tabara feierte ihr Ministerium als Initiator dieses Gesetzes, obwohl natürlich augenscheinlich ist, dass die Bundesregierung verpflichtet ist, die europäische Barrierefreiheitsrichtlinie in nationales Recht umzusetzen. Da bedarf es keiner Initialzündung, sondern es ist für Deutschland als EU-Mitglied eine gewöhnliche Verpflichtung, die bei Nichteinhaltung ein Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission nach sich zöge – mit empfindlichen Geldstrafen, auf die der Bundeshaushalt natürlich keine Lust hat.

Da sich das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz lediglich auf wenige ausgewählte digitale Bereiche wie Bankautomaten und Bankterminals, Ticketautomaten, Check-in-Automaten, Telefone und Fernsehgeräte und Spielkonsolen, Ebookreader und entsprechender Anwendungen wie Telekommunikationsdienste, Bankdienste (Abschluss von Kreditverträgen, Geldtransfers), Fernverkehrsdienste wie den Erhalt von Reiseinformationen, den Onlinehandel und den Erwerb von Fahrausweisen bezieht, fordert eine Vielzahl von Behindertenverbändden eine konsequente Ausweitung des Gesetzes zu einer umfassenden Verpflichtung der Privatwirtschaft, ihre Güter und Dienstleistungen, sowie die sie umgebende bauliche Umwelt barrierefrei zu gestalten.

Frau Dr. Tabara plädierte hier für maßvolle Forderungen und verwies kontinuierlich auf den Umstand, dass die Bundesregierung nicht mehr umsetzen könne, als die Richtlinie bereits vorgibt. Dass dem mitnichten so ist, haben viele andere EU-Mitglieder bereits bei der Umsetzung von EU-Gesetzen bewiesen. So hat beispielsweise Schweden bei der Umsetzung der EU-Richtlinie zur Barrierefreiheit von Webseiten öffentlicher Stellen die Verpflichtung auch auf eine Vielzahl von privater Unternehmen ausgeweitet, die Aufgaben der Daseinsvorsorge wahrnehmen. Mitgliedsstaaten sind also frei, selbst zu entscheiden, ob sie mehr als die geforderten Richtlinienbestimmungen umsetzen.

Jürgen Dusel konterte sogleich in seinem Statement, dass nicht Deutschland ein neues Gesetz auf den Weg bringt, sondern das Europa endlich Vorgaben zur Verpflichtung privater Unternehmen macht, ihre Produkte und Dienstleistungen barrierefrei zu gestalten. Ferner erkenne die EU an, dass Barrierefreiheit einer konsequenten Kontrolle und Überwachung durch die Länder bedarf und dass ihre Nichteinhaltung sanktioniert werden muss. Europa ermächtigt die Mitgliedsstaaten ebenfalls Privatunternehmen zu verpflichten, die bauliche Umwelt ihrer Produkte barrierefrei zu gestalten. Also beispielsweise den Eingang zu einer Bank mit einem Geldautomaten oder das Geschäft, in dem man barrierefreie Telefone und Fernsehgeräte kaufen kann.

Jürgen Dusel verweist auf das Recht auf eine umfassende Barrierefreiheit nicht nur als ein zwingend umzusetzendes Recht des Artikels 9 der UN-Behindertenrechtskonvention, sondern als ein Qualitätsmerkmal, das Bedienungskomfort, soziale Zugehörigkeit, Teilhabe, einen modernen und zeitgemäßen Lifestyle und soziale Inklusion verspricht. Viele Länder hätten diesen Reiz und die mit der Barrierefreiheit verbundenen Chancen bereits erkannt und implementieren Barrierefreiheit vor allem in touristischen und kulturellen Einrichtungen (Restaurants, Bars, Hotels, Kinos, Theater). Laut Dusel hat Deutschland jedoch immer noch die sprichwörtliche „German Angst“ in den Knochen, die bei einer allgemeinen Barrierefreiheitsverpflichtung privater Anbieter, den Untergang des Abendlandes heraufbeschwört. Dusel sieht auch gute pragmatische Ansätze zur Berücksichtigung einer barrierefreien baulichen Umwelt. Diese Verpflichtung könnte in der Gewerbeordnung verbindlich festgeschrieben werden. Auch sind die Übergangsfristen zur Barrierefreiheit von Selbstbedienungsterminals viel zu lang und völlig unzumutbar. Deutschland hat auch auf Bundesebene die Verpflichtung für gleichwertige Lebensverhältnisse zu sorgen. Dazu gehören der Lebenswirklichkeit behinderter Menschen angemessene Übergangsfristen und barrierefreie bauliche Zugänge. Mechthild Rawert und Jürgen Dusel setzen ihre Hoffnung in die Bundestagsabgeordneten, die die Chance haben, „das gute Gesetz noch besser zu machen und zu veredeln.“

Dominik Peter, selbst Rollstuhlfahrer, Journalist und Chefredakteur der Berliner Behindertenzeitung verweist in seinem Statement auf die abschließenden Bemerkungen des UN-Fachausschusses zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die Deutschland nachdrücklich auffordern auch private Anbieter von Produkten und Diensten zur Barrierefreiheit zu verpflichten. Barrierefreiheit dürfe nicht nur in diesem gesetzlich sehr begrenzten Bereich geregelt werden, sondern muss Bereiche wie Bildung, Gesundheit, Mobilität, Kultur und den Arbeitsmarkt konsequent und umfassend miteinbeziehen. Viele Bereiche der Daseinsvorsorge müssen so geregelt werden, dass sie barrierefrei auffindbar, zugänglich und nutzbar sind und dürfen nicht einfach dem freien Markt überlassen werden. Mangelnde Barrierefreiheit verhindert Inklusion, berufliche Teilhabe und verdammt viele behinderte Menschen immer noch zu einem menschenunwürdigen Leben. Für Dominik Peter ist es völlig unverständlich, dass der Kohle- und Atomausstieg zügig angegangen, aber die ebenso lebenswichtige Barrierefreiheit durch unzumutbare und unverständliche Übergangsfristen hinausgezögert wird.

Lilian Kroneicher, Rechtsreferentin der Lebenshilfe, betonte die Wichtigkeit eines intensiven Beteiligungsprozesses der Zivilgesellschaft an diesem Gesetzgebungsprozess. Auch die Verordnung, die nach der Verabschiedung des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes erarbeitet werden soll und die Barrierefreiheitsanforderungen für die im Anwendungsbereich enthaltenen Produkte und Dienstleistungen beschreibt, muss zwingend unter Beteiligung von Organisationen von und für behinderte Menschen erarbeitet werden.

In seinem Schlusstatement mahnte Jürgen Dusel an, dass Barrierefreiheit unbedingt zu einem Querschnittsthema gemacht werden muss, dass alle Ministerien etwas angeht und von der alle Teile der Gesellschaft profitieren werden. Es darf kein soziales Sonderthema bleiben, sondern ist eine zwingende Komponente zur Umsetzung der Grundrechte aller Bürger*innen auf Mobilität und Zugänglichkeit. Dieses Recht darf nicht nur ein abstraktes Versprechen bleiben und muss zügig und konsequent gelebt werden. Barrierefreiheit ist ein Menschenrecht und ein zwingendes Gebot, die Menschen in ihrer Vielfalt zu begreifen und angemessen zu beteiligen. Das muss auch für private Anbieter von Produkten und Dienstleistungen gelten, denn laut Artikel 14 Grundgesetz, verpflichtet Eigentum und soll auch dem Wohle der Allgemeinheit dienen.

Frau Rawert betont die Herausforderung an den Deutschen Bundestag, ein gutes Gesetz auf den Weg zu bringen, das durch vielfältige Diskussionen und Beteiligungen geformt und veredelt werden kann.

Fazit: Eine interessante und durchaus kontroverse Veranstaltung, die durch eine breitere Beteiligung von anderen Ministerien (Wirtschaft, Verkehr), sicher noch an Fahrt aufgenommen hätte. Es wird sich zeigen, ob hinter den Lobpreisungen für eine barrierefreie Gesellschaft auch echte Taten stecken, die dem Gesetzentwurf endlich den nötigen Schwung verleihen, hin zu einem Menschenrecht, das von allen gesellschaftlichen Akteur*innen umgesetzt werden muss. Die Zeit der Ausreden und Hinhaltetaktiken muss endlich vorbei sein. Durch die Corona-Pandemie hat die Bundesregierung eindrucksvoll bewiesen, dass gesetzliche Änderungen hin zu mehr Wachstum und Klimafreundlichkeit möglich und durchsetzbar sind. Es wird Zeit, dass auch Barrierefreiheit endlich so ambitioniert und aktiv umgesetzt wird. Um wieder einmal mit den Worten von Dunja Fuhrmann zu sprechen: „Barrierefreiheit geht uns alle an.“

Link zu weiteren Infos zur Kampagne für ein gutes Barrierefreiheitsrecht