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Annika Stiglic baut barrierefreie Brücken zwischen Digitalisierung, Beruf und psychischer Beeinträchtigung

Porträt von Annika Stiglic
Annika Stiglic
Foto: ISL

Berlin/Düsseldorf (kobinet) Annika Stiglic ist nicht nur Grafikerin mit langjähriger Erfahrung in der Medienbranche, Ex-In-Genesungsbegleiterin und EUTB-Beraterin, sondern nutzt ihre Peer-Perspektive, um Empowerment im digitalen Raum aktiv voranzutreiben. Sie initiiert Projekte und eine Medienwerkstatt, in der Menschen mit seelischen Hindernissen sich ihre digitale Teilhabe selbstbestimmt zu eigen machen und eröffnet so auch neue Job-Chancen für Betroffene. Maria Trümper vom Projekt "CASCO – Vom Case zum Coach“ der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) führte mit Annika Stiglic ein Interview über ihr Wirken als Referentin und ihr Engagement.

Das Projekt „CASCO – Vom Case zum Coach“ ist ein vierjähriges Projekt der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL), das 2020 endete. In dieser Zeit wurden insgesamt 32 Menschen mit Behinderungen zu fachlich qualifizierten Referent*innen für eine menschenrechtsbasierte Behindertenpolitik ausgebildet. Unter http://www.referenten-mit-behinderung.de/ kann man sie für Veranstaltungen, Seminare und Workshops buchen.

Maria Trümper: Liebe Annika, schön, dass du die Zeit für ein Interview finden konntest. Wie geht es dir? Wie hat sich dein Alltag seit Corona verändert?

Annika Stiglic: Corona hat für mich zwei Seiten. Zunächst hatte mich die ganze Situation zu Beginn der Corona-Pandemie sogar empowert, das heißt, ich empfand den ersten Lockdown als totale Entschleunigung und als ein „zur Ruhe kommen“. Das hat mich – letztlich – gestärkt, auf mich und meine Wahrnehmungen zu vertrauen. Den Alltag in meinem Tempo und für mich günstige Bedingungen zu gestalten.

Ich muss aber auch sagen, dass durch die AHA-Formel, die Beziehungsarbeit mit Ratsuchenden und Klient*innen etwas leidet. Viele der Menschen, mit denen ich arbeite, und die ich begleite, erlebten Krisen und Rückschläge. Die mit der Pandemie einhergehende Isolation und die damit entstandene Einsamkeit war und ist bei Vielen ein großes Thema.

Maria Trümper: Die CASCO-Weiterbildung ist – zum Glück – noch deutlich vor Corona durchgeführt worden. Du hast von November 2018 bis Juni 2019 daran teilgenommen – was hat dir gut an der Ausbildung zur CASCO-Referent*in gefallen?

Annika Stiglic: Mich hat die Vielfalt der Teilnehmer*innen und deren unterschiedlichen Erfahrungshintergründe und Beweggründe, beeindruckt. Auch habe ich selten eine so gut durchdachte und organisierte Weiterbildung/ Seminarangebot erlebt. Es war wirklich an alles gedacht. Die Atmosphäre war sehr vertraut unter uns Teilnehmenden, der respektvolle Umgang untereinander. Und vor allem: die Normalität, die ich in Allem wahrgenommen habe. Das ist ja im Alltag leider nicht der Fall, Stichwort Teilhabe.

Maria Trümper: Warum wolltest du CASCO-Referent*in werden?

Annika Stiglic: Ich wollte über meinen „eigenen Tellerrand“ hinüber- und rausschauen. Als Ex-In Genesungsbegleiterin habe ich überwiegend mit Menschen mit psychischer Erkrankung und deren Angehörigen zu tun. Da ich 2019 ebenfalls in der EUTB Neuss als Peer- und Teilhabe-Beraterin angefangen habe, fand ich es unglaublich wichtig, mich in diesen Austausch mit anderen zu begeben.

Ich verstehe mich und mein Wirken dahingehend, „Teilhabe zu ermöglichen“ und „Möglichkeiten zu gestalten“. Als CASCO-Referentin habe ich noch einmal ganz andere Möglichkeiten, meine Erfahrungen und mein Anliegen vorzutragen, sichtbar zu machen, und – stellvertretend für viele andere – „gesehen“ zu werden. Wir müssen voneinander lernen, trialogisch denken, mehr aufeinander zugehen, in unseren verschiedenen Professionen, aus unseren unterschiedlichen Blickwinkeln und Erfahrungsweisen heraus. Die Tätigkeit als Referentin, und nicht nur als „Betroffene“ wahr genommen zu werden, gibt mir eine Stimme, die auch gehört wird.

Maria Trümper: Du warst ebenfalls „Inklusionsbotschafterin“ des ISL. Inwiefern hatte dies ebenfalls Einfluss auf deine Teilnahme an der CASCO-Weiterbildung?

Annika Stiglic: Richtig, das war eine wertvolle Erfahrung. Das Mitwirken in verschiedenen Projekten und Zusammentreffen sowie Arbeiten mit unterschiedlichsten Menschen mit und ohne Behinderung hat mich darin bestärkt, meinen Weg einerseits in der Selbsthilfe wie auch in beruflicher Hinsicht weiterzugehen. Neben CASCO habe ich zwei weitere Herzensaufgaben: Seit 2019 bin ich ein Mal die Woche als Peer- & Teilhabe-Beraterin in der EUTB Neuss tätig. Zudem bin ich seit letztem Jahr auch mit dem Aufbau und der Umsetzung eines tagesstrukturierenden Angebotes im Bereich „digitaler Teilhabe“ für Menschen mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen betraut (siehe dazu den Artikel „Arbeit“ des Sozialpsychiatrischen Verbunds der Graf Recke Stiftung)

Maria Trümper: Das klingt interessant, was genau ist dort deine Aufgabe?

Annika Stiglic: Ich begleite Menschen mit kognitiven und psychischen Beeinträchtigungen bei der Heranführung an die Arbeit mit „neuen Medien“. In unserer „Medienwerkstatt“ unterstütze ich nicht nur fachlich, sondern ermutige und nehme Ängste. Hier kann ich meine eigenen Erfahrungen aus Rehabilitation und beruflichem Wiedereinstieg miteinbringen. Die „Expertin aus Erfahrung“ in mir ist dabei genauso gefragt wie mein Fachwissen aus der Medienbranche. Ich vereine auf eine gewisse Art und Weise quasi mein „altes“ und meine „neues“ Berufsleben miteinander.

Maria Trümper: Du hast es ja eben schon anklingen lassen – welche Themen sind deine Steckenpferde und warum?

Annika Stiglic: Ich lebe selbst mit einer neurologischen und psychischen Erkrankung. Als „Expertin aus Erfahrung“ weiß ich um den „Seitenwechsel“, sich plötzlich auf der anderen Seite im System wiederzufinden, und weiß, wie steinig der berufliche (Wieder-)Einstieg und, ganz allgemein, der Weg zurück in die Gesellschaft sein kann. Daher liegt mir die Teilhabe von Menschen mit nichtsichtbarer Behinderung/Einschränkung, sowie seelischer bzw. psychischer Behinderung, vor allem in den Bereichen „Berufliche Teilhabe“, sehr am Herzen. Ich möchte – nicht nur – selbst Betroffene ermutigen, auf sich selbst und die eignen Fähigkeiten zu vertrauen. Aber genauso wichtig ist es mir, Einrichtungen, und potenziellen Arbeitgebern die Möglichkeiten aufzuzeigen, die sie selbst für einen Menschen mit Beeinträchtigung noch nicht erkannt haben, oder bisher keine Möglichkeit sahen, ihn zu beschäftigen. Damit verbunden, die Anti-Stigma Arbeit und Aufklärung über das Leben mit seelischer Erkrankung. Es gibt nach wie vor zu viele Vorurteile und Unwissenheit. Die Medien befeuern dies oftmals geradezu.

Maria Trümper: Weil du über Aufklärung sprichst – wie erklärt man Nicht-Betroffenen, warum die Peer-Perspektive eine qualifizierte Expertise ist?

Annika Stiglic: Mein Erfahrungswissen sehe ich als Zusatzqualifikation, sozusagen als „Zusatz-Expertise“, welche ich mit einbringe. Ich lebe aktiv den Perspektivwechsel, und erlebe täglich in meinem Alltag, wie auch in meinem beruflichen Wirken, wie sich Teilhabe aktiv mitgestalten lässt. Es macht einen Unterschied zu sagen: „Ich bin mittendrin“ oder bloß „Ich bin dabei gewesen“. Ich weiß, worüber ich referiere, weil ich dieses Leben, mein Leben, zu 100% lebe, Tag für Tag, weil ich die „Symptome“, Empfindungen und Wahrnehmungen, über die andere Vorträge halten, am eigenen Leib erfahre. Man könnte sagen, weil ich die Seiten der Bücher mit Leben füllen kann.

Maria Trümper: Und für welches behindertenpolitische Thema brennst du?

Annika Stiglic: Aufklärung über seelische Gesundheit und damit verbunden, den Abbau der Stigmata, die damit verbunden sein können. Ich möchte mit meiner Arbeit Ängste nehmen, und Möglichkeiten/Perspektiven aufzeigen. Jeder, kann (wieder) zum Regisseur seines eigenen selbstbestimmten Lebensweges werden. Auch, die berufliche Teilhabe von Menschen mit nichtsichtbarer Erkrankung und psychischer Behinderung ist mir eine Herzensaufgabe.

Maria Trümper: Was denkst du: Welche sozialen Themen sollten in der Zukunft unbedingt weiter debattiert werden und warum?

Annika Stiglic: Da gibt es viele. Um ein ganz praktisches Beispiel zu nennen: In meiner Tätigkeit als Peer-Beraterin merke ich, dass die EUTB-Angebote eine Lücke schließen. Viele Ratsuchende, denen ich dort begegne, hätten unter Umständen sonst nicht die Hilfen und Unterstützungsangebote bekommen, die ihnen zustehen. Im letzten Jahr wurde viel über die Weiterbewilligung dieses Angebotes diskutiert. Für viele EUTB-Angebote waren jedoch die bürokratischen Hürden zu hoch, um ihr Angebot fortsetzen zu können. Gerade kleinere Anbieter und Selbsthilfegruppen fielen dabei hinten ab. Eine Idee wie die der „Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung“, gerade im Hinblick auf das „Peer Counseling“, der Beratung von „Betroffenen für Betroffene“, darf dem nicht zum Opfer fallen. Ich werde mich weiter stark machen, damit diese Beratungsform weitere Bekanntheit erlangt. Zudem würde ich mir wünschen, dass mit Schlagworten wie z.B. „Inklusion“ weniger inflationär umgegangen wird.

Maria Trümper: Wo siehst du den größten Aktionsbedarf im Bereich Behinderung?

Annika Stiglic: Ganz aktuell, auch aufgrund der Corona-Pandemie (im Hinblick auf Depressionen, Burn-Out, Einsamkeit …) empfinde ich Aufklärung über seelische Gesundheit wichtig. Aber auch allgemein sind wir mit der Wahrnehmung über seelische Erkrankung in unserer Gesellschaft noch lange nicht am Ziel. Der Umgang in den Medien mit diesem Thema. Und die damit verbundene Vor-Verurteilung macht mich oft sprachlos bis wütend! Und noch ein Thema, für das ich aufmerksam machen will: Das persönliche Budget. Ich erlebe oft in meiner Tätigkeit als Peer- und Teilhabe-Beraterin, dass noch viel, viel mehr über das „PB“ aufgeklärt, aber auch bei der Beantragung unterstützt werden sollte. Die Menschen wissen teils gar nicht, welche individuellen Möglichkeiten der Unterstützung ihnen zustehen oder möglich sind. Ebenso wird darüber nicht ausreichend informiert seitens der Träger.

MariaTrümper: Welche Rolle spielen Menschenrechte in deinem privaten Leben und im Arbeitsalltag? Wo erfährst du durch deine Beeinträchtigung Diskriminierung und wirst an der Wahrnehmung deiner Menschenrechte behindert?

Annika Stiglic: Wie bereits gesagt, sind Einschränkungen, die man nicht „sieht“ oder bemerkt, für viele „nicht echt“. Ich empfand und empfinde dies im Arbeitsleben daher oft als starke Beeinträchtigung. Die Bedarfe, die damit einhergehen, z.B. flexiblere Arbeitsweisen zuzulassen, um „Arbeit gut zu ermöglichen“, werden leicht „wegargumentiert“; „Sich-beweisen-müssen“ gegenüber Arbeitgebern und Kollegen. Selbst in meiner Tätigkeit als Peer-Beraterin ist die Anerkennung des „Erfahrungswissens“, als eigene Expertise, nicht immer gegeben.

Ich bin mir aber auch bewusst, dass dies ein Prozess ist, den beide Seiten aktiv mitzugestalten haben.

Maria Trümper: Ist eine Veranstaltung, bei der du als Referent*in eingeladen bist, in 2021 geplant? Wenn ja, welche und zu welchem Thema referierst du dort?

Annika Stiglic: Ich werde im Frühjahr/Sommer, wenn es die Pandemie-Lage erlaubt, bei den Düsseldorfer Psychiatrie-Gesprächen, einer trialogischen Veranstaltungsreihe, über das Thema „Digitale & berufliche Teilhabe von Menschen mit psychischer Erkankung“ referieren. Ein weiterer Einsatz zur „Zukunft der SPZ’s (Sozialpsychiatrischen Zentren) ist in Vorbereitung. Weitere Impulsvorträge und Diskussionen, auch im Rahmen von Weiterbildungsangeboten, sind geplant, jedoch noch unklar.

Maria Trümper: Liebe Annika, herzlichen Dank für das Interview und den spannenden Einblick, den du uns in vielerlei Hinsicht gewährt hast! Da wir ja eine CASCO-Interviewreihe sind: Welche*n CASCO-Referent oder Referentin möchtest du für das nächste Interview nominieren und warum?

Annika Stiglic: Ich fände es spannend, wenn ihr über Frank Belling berichtet, da er das Thema Behinderung noch einmal aus anderen Perspektiven beleuchtet, wie ich. Frank Belling arbeitet schon lange in den Elbe-Werkstätten in Hamburg und ist dort aktives Mitglied im Werkstattrat. Nicht nur dort setzt er sich für die Belange von Menschen mit Behinderung ein. Neben seiner Tätigkeit als Prüfer für Leichte Sprache ist er politisch sehr aktiv.

Link zu weiteren Infos über Annika Stiglic

Links zu weiteren Interviews mit CASCO-Referent*innen

Interview mit Fabian Kittel – kobinet-nachrichen vom 10.3.2021 – Fabian Kittel informiert fachkundig über Barrierefreiheit

Interview mit Natalie Geese – kobinet-nachrichten vom 3.3.2021 – Natalie Gesse vermittelt gerne Wissen zum Thema Behinderung

Interview mit Peter Marx – kobinet-nachrichten vom 24.2.2021: Peter Marx referiert über seine Erfahrungen als Werkstattrat