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Peter Marx referiert über seine Erfahrungen als Werkstattrat

Porträt von Peter Marx
Peter Marx
Foto: ISL

Berlin/Halberstadt (kobinet) Peter Marx lebt in Sachsen-Anhalt und ist CASCO-Referent der ersten Stunde. Er ist seit 27 Jahren in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) tätig und darüber hinaus sehr aktiv im Werkstattrat. Mit seinen Erfahrungen ist er nicht nur Experte in eigener Sache, sondern nutzt als Basis für seine Fachvorträge rund um das Thema "WfbM“ stets die menschenrechtliche Perspektive. Das Projekt "CASCO – Vom Case zum Coach“ ist ein vierjähriges Projekt der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL), das 2020 erfolgreich endete. In dieser Zeit wurden insgesamt 32 Menschen mit Behinderungen zu fachlich qualifizierten Referent*innen für eine menschenrechtsbasierte Behindertenpolitik ausgebildet. Unter http://www.referenten-mit-behinderung.de/ kann man sie für Veranstaltungen, Seminare und Workshops buchen.

Maria Trümper, die in der Projektkoordination mitwirkte, sprach für die kobinet-nachrichten mit Peter Marx über sein Wirken als CASCO-Referent und eine Reihe anderer Fragen:

kobinet-nachrichten: Hallo Peter. Schön, dass du die Zeit für dieses Interview gefunden hast. Wie geht es dir? Wie hat sich dein Alltag seit Corona verändert?

Peter Marx: Tja, Corona ist auch nicht an mir vorbeigegangen. Was den Einsatz als CASCO-Referent angeht, sind natürlich auch keine Aufträge zustande gekommen. Da ich ja nun noch einige andere Ehrenämter im Bereich der Behindertenhilfe habe, wie zum Beispiel im Landesbehindertenbeirat und im Psychiatrieausschuss, so wurde mir auch nicht langweilig. So wurden ja nun auch die Präsenztermine nicht mehr durchgeführt. Und da standen plötzlich neue Herausforderungen auf dem Plan, wie zum Beispiel die digitalen Treffen, die Video- und Telefonkonferenzen. Das war schon eine interessante Erfahrung. Aber mit der Zeit gewöhnte auch ich mich an diese Form der Treffen. Dass sich nun in meinem Alltag, in der Corona-Zeit sich etwas geändert hat, kann ich nicht richtig sagen. In meinem Umfeld und unter meinen Freunden gingen und gehen wir auch ohne Corona rücksichtsvoll miteinander um.

kobinet-nachrichten: Die CASCO-Weiterbildung ist zum Glück lange vor Corona durchgeführt worden. Du hast von 2017 bis 2018 daran teilgenommen – was hat dir gut an der Ausbildung zur CASCO-Referent*in gefallen und warum hast du dich damals beworben?

Peter Marx: Ich hatte ja 2016 an einer Empowerment-Schulung der ISL in Erfurt teilgenommen und war somit im Verteiler der ISL mit aufgeführt. Als ich die Ausschreibung zum CASCO-Referenten gelesen habe, entschied ich mich, mich auch gleich zu bewerben. Als ich die Benachrichtigung bekam, ein Teil dieser Ausbildung sein zu dürfen, war ich einfach nur noch happy. Ich gebe gerne Seminare und Vorträge zum Thema Behindertenpolitik, und da kommt man mit der Betitelung „Referent“ doch viel weiter, als ohne ihn. Ich unterstütze, helfe und berate gerne Menschen mit Behinderungen. Da ich in einer Werkstatt für behinderte Menschen arbeite, sehe und erlebe ich, wie mit den beschäftigten Menschen mit Behinderungen umgegangen wird. Bevor ich zum CASCO-Projekt kam gab ich bereits Vorträge in Werstätten zum Thema Bundesteilhabegesetz (BTHG) und Werkstättenmitwirkungsverordnung (WMVO). Da ich einen LAG Werkstattrat in Sachsen-Anhalt leite, hatte ich auf den Mitgliederversammlungen bereits Vorträge gehalten. Eines Tages hatten wir einen Diplom-Psychologen eingeladen, der zu einem bestimmten Thema eine Schulung machen sollte. An dieser Veranstaltung nahmen alle unsere Mitglieder teil. Allerdings ein Jahr später bot ich eine Schulung an und komischerweise kamen dort nur ¼ der Mitglieder zu der Veranstaltung. Da kam die Ausschreibung zur Ausbildung zum CASCO-Referenten genau richtig. An der Durchführung der Ausbildung fand ich gut, dass man als Mensch mit Behinderung auch respektiert wurde. Man konnte so sein, wie man ist und musste sich nicht verstellen. In diversen Gruppenarbeiten und Gesprächen mit den erfahrenen Referenten, merkte ich, dass mein Selbstvertrauen stärker wurde.

kobinet-nachrichten: Peter, du bist seit 27 Jahren in einer WfbM tätig und auch sehr aktiv im Werkstattrat. Kannst du uns etwas über deine Zeit und deine Erfahrungen berichten?

Peter Marx: Ja, 27 Jahre ist eine lange Zeit mit vielen Höhen und Tiefen. Bevor ich in die Werkstatt kam, hatte ich mich auf dem 1. Arbeitsmarkt mehrmals beworben, aber niemand wollte mich einstellen. Die verrückteste Antwort, die ich je bekam, war: „Wenn ich Sie einstelle, dann muss ich noch jemanden einstellen, der auf Sie aufpasst.“ Ich bekam also nur Absagen. Nun blieb nur noch die Werkstatt, in die ich nie wollte. Mit Beginn der Werkstattarbeit erfuhr ich auch Benachteiligungen. Denn ein Kollege von mir hatte die gleiche Behinderung und wie ich die gleiche Ausbildung zum Gärtner absolviert, aber er wurde bevorzugt. Als mein damaliger Chef mich fragte, ob ich mich gerne für meine Kollegen einsetze, bejahte ich dieses. So wurde ich in den Werkstattrat gewählt.

Die Arbeit im Werkstattrat macht mir bis heute viel Spaß, weil man dadurch auch Veränderungen erzielen kann. Damit machte ich mich natürlich bei meinen damaligen Chefs ziemlich unbeliebt. Diese Unbeliebtheit spürte ich dann über die Gruppenleiter, sogar bis runter zu meinen Kollegen. Zurückblickend war es eine sehr schwere Zeit. Auch wenn es heute mit meiner neuen Chefin gut läuft, habe ich meine Kollegen trotzdem verloren. Ja, ich habe viele harte Niederlagen erlebt und das ging stark zu Lasten meiner Gesundheit. Werkstätten arbeiten einrichtungszentriert. Also nicht im Sinne der behinderten Beschäftigten. Sondern das Fürsorgesystem hat weiterhin Bestand. Mit dem Bundesteilhabegesetz steht ja nun auch die Personenzentriertheit im Mittelpunkt, nur die Umsetzung sehen viele Werkstätten als kompliziert an. Hier scheint es schwierig, sich aus dem Fürsorgesystem zu lösen.

Der UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen hat bei seiner Prüfung Deutschlands festgestellt, dass die Sonderwelten, also die Werkstätten und Behindertenschulen, abgeschafft werden müssen. Wer Inklusion möchte, braucht keine Sonderwelten mehr. Was die Werkstätten angeht, haben diese den Auftrag, die Menschen mit Behinderungen auf den ersten Arbeitsmarkt vorzubereiten und sie auch in den 1. Arbeitsmarkt hineinzubringen. Aber ist der Arbeitsmarkt überhaupt darauf vorbereitet? Nein! Ja, nicht nur die 700 Werkstätten in Deutschland müssen sich ändern, sondern auch der Arbeitsmarkt.

kobinet-nachrichten: Welche Themen sind aufgrund deiner Erfahrung und Expertise deine Steckenpferde und warum?

Peter Marx: Ich arbeite ja nun mittlerweile seit 27 Jahren in einer WfbM und genau so lange bin ich im Werkstattrat. Ja, ich kann sagen: Seit Gründung des Werkstattrates bin ich dabei. Im Laufe der Zeit bekam ich Schulungen zur Werkstätten-Mitwirkungsverordnung (WMVO). Aber nur das, was dort vermittelt wurde, war zwar wichtig, aber es reichte mir nicht. Ich wollte mehr wissen. Somit fing ich an im Selbststudium das System Werkstätten und Werkstatträte intensiver zu betrachten. Nun berate ich Werkstatträte zur Werkstätten-Mitwirkungsverordnung und zum Bundesteilhabegesetz und den Menschenrechten. Ja, warum mache ich das? In verschiedenen Gesprächen mit den Menschen mit Behinderungen höre und erfahre ich immer wieder, dass mit diesen Menschen nicht respektvoll umgangen wird. Leider ist immer noch das alte Denken der Fürsorge in den Köpfen vorhanden. Ganz nach dem Motto: „Ich mache das schon für dich“. Das ist eine Denke, die ich nicht nachvollziehen kann. Denn meine Devise ist: „Es gibt nur eine Spezies Mensch. Somit sind für mich alle gleich.“

kobinet-nachrichten: Dein Einsatz als Referent mit Behinderungen ist nicht immer ganz einfach, weil oft wird die Peer-Perspektive (noch) nicht als Expertise anerkannt oder zumindest in Frage gestellt. Was ist dein schlagendes Argument, warum überall dort, wo über Behinderung gesprochen wird, auch Behinderte mitreden müssen nach dem Motto: „Nichts über uns ohne uns!“?

Peter Marx: Niemand darf benachteiligt werden. Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen. Sie sollen nicht nur mitreden, sondern auch mitgestalten. Denn aus den Erfahrungen und Erlebnissen mit der eigenen Behinderung, die diese Menschen gemacht haben, können sie behindertenpolitische Themen besser bearbeiten und vortragen.

Es ist mir wichtig, dass die Menschenrechte umgesetzt werden. Ich weise in meinen Vorträgen aber auch in meinem Alltag immer wieder auf die UN-Behindertenrechtskonvention hin. In meinen Gesprächen mit der Politik erlebe ich, dass die Politik etwas ändern muss; nur, wenn man das Geschehen näher betrachtet, passiert nichts. Bestes Beispiel ist die aktuelle Forderung nach Home-Office. Warum sträuben sich Werkstätten so etwas umzusetzen? Es gibt gute Beispiele, dass es auch funktioniert. Was sagt aber nun das Land dazu, wenn die Beschäftigten in den Werkstätten Home-Office durchsetzen möchten? Da bekommt man nur zur Antwort, dass man die Beschäftigten betreuen und schützen muss. Wo ist hier die Selbstbestimmung oder das Wunsch- und Wahlrecht? Auch Menschen in der WfbM haben Rechte! Daher brenne ich dafür, dass die Menschenrechte auch in den Werkstätten für behinderte Menschen umgesetzt werden.

kobinet-nachrichten: Wo siehst du den größten Aktionsbedarf im Bereich Behinderung? Welche Themen müssen deiner Meinung nach unbedingt in der Gesellschaft und Politik diskutiert, sich für eingesetzt oder (endlich) angegangen werden?

Peter Marx: Barrierefreiheit ist ein ganz großes Thema. Die Sensibilisierung der Gesellschaft in Bezug auf Menschen mit Behinderungen ist zwingend nötig. Denn leider gibt es noch zu viele Barrieren in den Köpfen der Gesellschaft. Daher muss die Inklusion endlich auch umgesetzt werden. Dass Inklusion funktionieren kann, haben einige Schulen schon bewiesen. Leider nur sehr wenige. Inklusion heißt für mich, dass je früher man damit anfängt, umso besser. Denn wenn man rechtzeitig damit beginnt, Menschen mit und ohne Behinderungen zusammenzubringen von der Kindertagesstätte an, ist das Verständnis gegenüber Menschen mit Behinderungen ganz anders.

kobinet-nachrichten: Welche Rolle spielen Menschenrechte in deinem privaten Leben und im Arbeitsalltag? Wo erfährst du durch deine Beeinträchtigung Diskriminierung und wirst an der Wahrnehmung deiner Menschenrechte behindert?

Peter Marx: Menschenrechte spielen für mich eine große Rolle. Allerdings wussten die anderen das nicht. Denn durch meine Behinderung wurde ich von Verboten geplagt mit Aussagen wie: „Du kannst das nicht!“, ohne es mal auszuprobieren. Das sind heftige Rückschläge, die man erstmal verdauen muss. In meinem ersten Praktikumsbetrieb, das war eine Gärtnerei, spürte ich, was Diskriminierung ist. Obwohl ich den Beruf des Gärtners gelernt hatte wurde ich in dem Betrieb nur für Arbeiten herangezogen, die die anderen Kollegen nicht machen wollten. Selbst bei Bewerbungen bei anderen Betrieben wollte man einen Menschen mit Behinderung nicht. Daher setze ich mich für die Umsetzung der Menschenrechte ein.

kobinet-nachrichten: Ist eine Veranstaltung, bei der du als Referent eingeladen bist, in 2021 geplant? Wenn ja, welche und zu welchem Thema referierst du dort?

Peter Marx: Im November 2020 bekam ich die Anfrage, in einer WfbM die Änderungen des Bundesteilhabegesetzes bzw. Gesamt- und Teilhabeplanverfahrens im Werkstattbereich den Gruppenleitern dort näher zu bringen. Und nun musste es wegen Corona auf Frühjahr 2021 verschoben werden. Ich bin nun gespannt, ob nun im Frühjahr 2021 der Vortrag durchgeführt werden kann. Leider habe ich auch schon die Erfahrung gemacht, dass wenn Anfragen kommen und man schon ein telefonisches Gespräch hatte, der Auftrag manchmal auch wieder entzogen wurde. Sowas kommt auch mal vor. Was nun 2021 noch kommt, steht bisher nur in den Sternen. Worüber und worauf ich mich schon sehr freue, sind zwei Seminare im Jahr 2022 mit dem Thema „Ausbildung zur Fachkraft zur Arbeits- und Berufsförderung (FAB) für den Bereich der WfbM“. Dort bin ich bereits fest geplant.

kobinet-nachrichten: Lieber Peter, herzlichen Dank für das spannende und auch sehr persönliche Interview, indem du uns einen Einblick in dein Leben gewährt hast. Da wir ja eine CASCO-Interviewreihe starten: Welche*n CASCO-Referent oder Referentin möchtest du für das nächste Interview nominieren und warum?

Peter Marx: Ich würde mich sehr auf ein Interview mit Natalie Geese freuen. Sie lebt mit einer Sehbehinderung und ich unterstütze ihr Anliegen zu zeigen, dass Körpermerkmale, die als Beeinträchtigung gelten, das eigene Leben auch bereichern können. Sie beschäftigt sich mit Kommunikation im Zusammenhang mit Behinderung – das finde ich sehr spannend.