Staufen (kobinet)
Hier sind wichtige Gedanken aus meiner Gegen-Meinung.
Ich schreibe das als Beobachter.
Ein Beobachter ist jemand, der etwas anschaut und darüber nachdenkt.
Ich denke über Politik nach.
Was ich hier schreibe:
Das kann man nicht sofort in der Politik umsetzen.
Aber wir müssen jetzt darüber nachdenken.
Und wir müssen mutig handeln.
Vielleicht ist es schon zu spät für eine Rettung.
Von Gewehren zu Kriegs-Maschinen
Ich schaue auf mein Leben zurück.
Ich schaue auf die Zeit von 1914 bis heute.
Das sind über 100 Jahre.
Als Beobachter sage ich:
Krieg und Militär sind keine guten Mittel für Politik.
Militär ist eine Gruppe von Soldaten mit Waffen.
Auch bewaffnete Verteidigung ist nicht gut.
Bewaffnete Verteidigung bedeutet, sich mit Waffen zu schützen.
Das war früher anders für mich.
In den 1970er Jahren war ich Student.
Ich studierte in Marburg.
Damals sah ich ein Theater-Stück von Brecht im Fernsehen.
Brecht war ein berühmter deutscher Theater-Autor.
Das Stück heißt: Die Gewehre der Frau Carrar.
In dem Stück geht es um den Spanischen Bürger-Krieg.
Der Spanische Bürger-Krieg war ein Krieg in Spanien von 1936 bis 1939.
Menschen aus dem gleichen Land kämpften gegeneinander.
Eine Frau will zuerst nicht kämpfen.
Sie ist Christin.
Sie sagt: Wer Gewalt benutzt, stirbt durch Gewalt.
Aber dann wird ihr Sohn getötet.
Da gibt sie doch die Gewehre her.
Damals dachte ich:
Manchmal muss man kämpfen gegen das Böse.
Heute denke ich anders.
Krieg hat sich sehr verändert.
Früher kämpften Menschen mit Gewehren gegeneinander.
Heute gibt es Kriegs-Maschinen.
Diese Maschinen können sehr viel zerstören.
Ein Verteidigungs-Krieg in ganz Europa wäre sehr gefährlich.
Die NATO gegen Russland:
Die NATO ist ein Bündnis von vielen Ländern, die sich gegenseitig beschützen wollen.
Das könnte alles zerstören.
Was nützt eine Verteidigung, die uns selbst vernichtet?
Falsche Vergleiche mit dem Alltag
Viele Menschen sagen:
Wenn mich jemand auf der Straße angreift, wehre ich mich auch.
Also müssen wir auch unser Land verteidigen.
Aber das ist ein falscher Vergleich.
Ein Streit zwischen Menschen ist anders als ein Krieg zwischen Ländern.
Die Polizei kann bei einem Streit helfen.
Aber bei einem Krieg gibt es keine Polizei.
Wenn Länder Krieg führen, kann alles außer Kontrolle geraten.
Außer Kontrolle geraten bedeutet, dass niemand mehr bestimmen kann, was passiert.
Es kann sogar Atom-Waffen geben.
Atom-Waffen sind sehr gefährliche Waffen, die ganze Städte zerstören können.
Das ist ganz anders als ein Streit auf der Straße.
Wir müssen anders denken.
Wir brauchen neue Ideen.
Aber die Politik will das nicht hören.
Erst Egoismus fördern, dann Solidarität fordern
Egoismus bedeutet, nur an sich selbst zu denken.
Solidarität bedeutet, zusammenzuhalten und sich gegenseitig zu helfen.
Unsere Gesellschaft hat ein Problem.
Die Menschen sollen gegeneinander kämpfen.
Jeder soll nur an sich denken.
Das nennt man Neoliberalismus.
Neoliberalismus ist eine Art, wie man über Wirtschaft denkt.
Bei dieser Art ist Wettbewerb sehr wichtig.
Aber plötzlich sollen alle zusammenhalten.
Alle sollen ihr Land verteidigen.
Alle sollen sogar sterben für ihr Land.
Das ist unehrlich.
Zuerst macht man die Menschen zu Egoisten.
Dann verlangt man von ihnen Opfer.
Die meisten Menschen haben gar nichts Eigenes.
Sie sollen aber so tun, als gehöre ihnen das Land.
Sie sollen kämpfen für etwas, das ihnen nicht gehört.
Eine andere Art von Gesellschaft
Ich glaube:
Eine wirklich demokratische Gesellschaft wäre anders.
In einer demokratischen Gesellschaft bestimmen alle Menschen gemeinsam, wie sie leben wollen.
In so einer Gesellschaft würden die Menschen wirklich zusammenhalten.
So eine Gesellschaft könnte sich auch anders verteidigen.
Ohne Kriegs-Maschinen.
Ohne alles zu zerstören.
Aber unsere Gesellschaft ist nicht wirklich demokratisch.
Die Reichen haben die Macht.
Die Armen haben nichts zu sagen.
Trotzdem sollen die Armen kämpfen.
Sie sollen kämpfen für die Macht der Reichen.
Gehirn-Wäsche in den Medien
Gehirn-Wäsche bedeutet, dass jemand versucht, die Gedanken von Menschen zu verändern.
Medien sind zum Beispiel Zeitungen, Fernsehen oder Internet.
Die Medien machen Propaganda für den Krieg.
Propaganda bedeutet, dass Informationen so dargestellt werden, dass Menschen eine bestimmte Meinung bekommen sollen.
Sie wollen, dass alle Menschen für den Krieg sind.
Sie wollen andere Meinungen verbieten.
Eine Fernseh-Moderatorin hat gefragt:
Wie können wir die Menschen schneller überzeugen?
Wie können wir ihre Gedanken ändern?
Das ist Gehirn-Wäsche.
Das ist nicht demokratisch.
Mein Fazit
Ein Fazit ist eine Zusammenfassung am Ende.
Ich bin gegen Krieg.
Auch gegen Verteidigungs-Krieg.
Das tut mir weh.
Ich verstehe die Menschen, die Angst haben.
Ich verstehe die Menschen, die angegriffen werden.
Aber ich glaube:
Krieg macht alles nur schlimmer.
Wir brauchen andere Lösungen.
Wir müssen darüber nachdenken.
Auch wenn das schwer ist.

Foto: Hans-Willi Weis
Staufen (kobinet) Auf mehrfachen Wunsch hier zentrale Motive meiner Gegenargumentation. Ich schreibe dies als über den Tag hinaus denkender intellektueller Beobachter. Von heute auf morgen "politisch darstellbar" ist das, was aus meinen Überlegungen folgt, nicht. Umso dringlicher, sofort, in Richtung dieser Perspektive zu denken und persönlich mutig entsprechend zu handeln, falls es für eine solche "Rettungsperspektive" nicht schon zu spät ist. (Der Text ist eine Auskoppelung aus meinem zweiten Antikriegs-Essay in kobinet-Literaturbeilage IV).
Von den „Gewehren der Frau Carrar“ zur massenvernichtenden „Megamaschine Krieg“
Betrachte ich die zurückliegenden Jahrzehnte meiner persönlichen Lebensgeschichte als zusammenhängenden politisch historischen Zeitraum, um ihn einer möglichen Urteilsbildung zugrunde zu legen – ich meine damit die Periode des „kurzen zwanzigsten Jahrhunderts“ vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Ost-West-Konflikts 1989 plus die darauffolgenden 35 Jahre und also das erste Viertel des 21. Jahrhunderts –, so gelange ich am Ende in der Rolle des kritischen Beobachters und eines engagierten Intellektuellen zu dem für mich zwingenden Schluss, dass nunmehr auch aus verantwortungsethischen Gründen (und nicht mehr nur aufgrund eventuell gesinnungsethischer Grundsätze) Militär und Krieg bzw. bewaffnete Verteidigung als optionale Mittel der Politik ausscheiden oder nicht länger in Betracht kommen. Dies war für mich noch anders, als ich Mitte der 1970er Jahre – damals studierte ich Soziologie und Politikwissenschaft an der Uni Marburg und war dort mit meiner politisch linken, dezidiert marxistischen Gesinnung alles andere als allein – Brechts Theaterstück „Die Gewehre der Frau Carrar“ im Fernsehen sah. Brechts zwischen den beiden Weltkriegen geschriebenes proletarisch volkspädagogisches Lehrstück überzeugte mich seinerzeit von der Untauglichkeit einer pazifistischen Haltung für den Klassenkampf von unten, gegen eine bereits zum offenen Bürgerkrieg übergegangene herrschende Klasse.
Das Stück spielt im spanischen Bürgerkrieg, die verwitwete Fischersfrau Carrar, eine gläubige Katholikin, weigert sich unter Berufung auf das Bibelwort, „Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen“, zunächst dem Bruder ihres Mannes und einem ihrer Söhne, die im Haus versteckten Gewehre auszuhändigen, um sich – wie wir im heutigen Jargon sagen würden – gegen den Angriffskrieg Frankos zu verteidigen. Als der andere Sohn von ihr, von den Phalangisten beim Fischfang erschossen, in einer blutigen Plane ins Haus getragen wird, ändert sie ihren Sinn und gibt den Männern die Gewehre. Die von ihr gelernte Lektion, das Gute muss sich bisweilen der Gewalt bedienen, um sich gegen das Böse zu behaupten, zu verteidigen. Und es hätte ja durchaus sein können, dass die bewaffneten Republikaner ihren Verteidigungskrieg gegen Frankos Truppen gewinnen und damit die republikanische Volksherrschaft in Spanien für Jahrzehnte erhalten, statt wie umgekehrt geschehen, die faschistische Diktatur sich etabliert.
In Brechts Stück steht das Gewehr, zeitgeschichtlich wirklichkeitsgetreu, sinnbildlich für den Krieg, es ist die paradigmatische Kriegswaffe, gleichermaßen für Angreifer und Verteidiger. Im Krieg gehen mit Gewehren bewaffnete Männer aufeinander los und wenn dies auch in militärischen Formationen, Kompanien etc. geschieht, so hat sich doch bis heute unser Vorstellungsbild von einzelnen Kombattanten erhalten, die mit der Waffe in der Hand in einem tödlichen Kampf miteinander stehen. Und die Niederlage und der Tod der einen den Sieg und das Überleben der anderen bedeutet. Handelt es sich bei den letzteren um die „Verteidiger“, so lässt sich daraus schlussfolgern, dass bewaffnete Verteidigung und Verteidigungskriege im Rahmen dieser politisch-militärischen Logik sinnvoll und rational sind. Und die zu Verteidigungszwecken erbrachten Opfer insofern gerechtfertigt sein und moralisch vertretbar erscheinen können.
Nach einem halben Jahrhundert erscheint mir meine damalige „Rezeption“ von Brechts Klassiker im heutigen Rückblick einer vergangenen Zeit, d.h. einer vergangenen Epoche von Kriegführung anzugehören. Mein Einwand unter dem Eindruck nicht erst der jüngsten Kriege und ihres „hochtechnisierten Ablaufgeschehens“ besagt, wir haben es mit einem völlig veränderten Paradigma zu tun. Die massenvernichtende „Megamaschine Krieg“ von heute, hochtechnologische, elektronisch gesteuerte Systeme aus technischen und organischen (menschlichen) Bauteilen in einem beliebig skalierbaren Verbund, hat ihrer destruktiven Effizienz nach kaum noch etwas gemein mit dem aus der Vergangenheit bekannten Kollektiv bewaffneter Kombattanten, das gegen ein anderes solches Kollektiv antritt. Wobei auf überschaubaren Gefechtsfeldern Entscheidungen herbeigeführt wurden, die in Summe idealerweise den Sieg oder die Niederlage einer Seite besiegelten. Ins aktuelle ideologische Framing übersetzt, sich das freie und demokratische Europa in einem erfolgreichen Verteidigungskrieg gegen den Aggressor Putin würde behaupten und letztendlich durchsetzen können. – Mit Verlaub, ich halte solch einen „erfolgreichen Verteidigungskrieg“ (in gesamteuropäischem Maßstab von NATO-Staaten gegen die russische Föderation ausgefochten) für ein gefährliches, um nicht zu sagen selbstmörderisches Phantasma. Das Risiko der Nichtsteuerbarkeit der im Aufeinanderprall beider Kriegsmaschinerien ausgelösten Dynamik, die Wahrscheinlich einer unkontrollierbaren Gewalt- und Eskalationsspirale, die in ein wechselseitiges Zerstörungsinferno unermesslichen Ausmaßes mündet, ist größer als alles andere. Was aber ist von einem militärischen Verteidigungsvorhaben zu halten, das Selbstvernichtung in Kauf nimmt?
Alltagspsychologische Plausibilisierung der militärischen Verteidigungsnotwendigkeit – ein Kategorienfehler, der verfängt
Ich nehme an, intelligente Bellizisten konzedieren ins geheim die Unkalkulierbarkeit militärischer Verteidigung im großen Maßstab (etwa dem eines auf Gesamt-Europa ausgedehnten Kriegs). Die derzeit beliebteste verteidigungspolitische Rechtfertigungsformel forcierter Aufrüstung, „civis pacem para bellum“ („wer Frieden will, bereitet den Krieg vor“), akzentuiert die militärische Verteidigungsfähigkeit bzw. Kriegsbereitschaft lediglich als Mittel oder Instrument einer guten Absicht, der Friedenserhaltung nämlich. Dass das Verteidigungsmittel auch seinen eigenen Zweck, nämlich die Freiheit und das Leben des oder der Angegriffenen zu verteidigen, erfüllen und nicht in ein letales Desaster münden wird, darüber schweigt die Formel. Darum setzen ihre Nachbeter konsequent auf das Prinzip Hoffnung. Gefragt, ob wir also vom Schlimmsten oder Schlechtesten ausgehen und dafür eigentlich bereit sein müssen, antwortet der Militärexperte Carlo Masala, „die grundlegende Logik ist, bereite dich immer auf das schlimmste Szenario vor und hoffe, dass es nicht eintritt.“ Kurz, wir müssten die Verteidigungsausgaben hochfahren, soweit soll das Publikum mitdenken. Danach ist mit dem Denken Schluss, dann heißt es, nurmehr hoffen und beten. Im Zweiten Weltkrieg nannte man unter Landsern wie unter Generälen vergleichbare Unternehmungen „Himmelfahrtskommando“.
Vom schwäbischen Schlitzohr Schäuble, Wolfgang Schäuble ist der überaus beruhigende Sinnspruch überliefert „Wir bereiten uns auf den Krieg vor, um ihn nicht führen zu müssen“. Nun lebt der legendäre Schwabe mittlerweile nicht mehr, aber es herrscht Krieg in Teilen Europas. Sodass wir ihn anders als erhofft, nolens volens führen müssen? Auf dass die Antwort nur „ja“ laute und niemand auf den dummen Gedanken kommt, über Alternativen zum „den Verteidigungskrieg nun führen zu müssen“ nachzudenken, greifen die Ideologen des Verteidigungskrieges nur allzu gern alltagspsychologische Rechtfertigungsanleihen auf. Der lebensweltliche Diskurs hält sie quasi parat und lässt sie naheliegend erscheinen, geradezu schlagend. „Wenn du auf der Straße angegriffen oder überfallen wirst, wehrst du dich doch auch oder eilst der oder dem Angegriffenen zu Hilfe. Auf keinen Fall lässt du alles mit dir machen. Sich verteidigen, zur Wehr setzen, ist das Selbstverständlichste und Legitimste von der Welt!“ Die Beispielpalette reicht von der nackten physischen Gewalttat bis hin zur subtilen seelischen Vergewaltigung, Mobbing und anderes mehr. – Während ich dies schreibe (auf mein Diktiergerät spreche) laufen im Radio die Nachrichten über einen russischen Raketenangriff auf die ukrainische Stadt Sumy mit vielen zivilen Opfern. Die Kommentatoren, ob Politiker oder Journalisten, verschärfen entsprechend den Ton der Empörung und fordern noch entschiedener wirksame militärische Vergeltung für diesen „Terror“, dieses „barbarische Verbrechen“. Friedrich Merz, der künftige Bundeskanzler, bringt mit schneidender Stimme, Feldwebelstimme, erneut den „Marschflugkörper Taurus“ als die einzig angemessene Antwort ins Spiel. Um die Abschussrampen des Aggressors auf dessen Territorium auszuschalten, so drängen unisono auch die hiesigen Wehrexperten und Militärs, zweifellos die effektivste Waffe, sprich Angriffswaffe in der Funktion einer Verteidigungswaffe.
Wie geht es mir dabei? Den nur wenige Sekunden langen Originalton der Reportage aus Sumy über den Einschlag der Raketen, finde ich so unerträglich, wie ich die zu einer sofortigen „angemessenen Reaktion“ auffordernde Kommentierung entsetzlich finde. In der ich nichts anderes denn eine wohlfeile, ja selbstgerechte Affektabfuhr erkennen kann. Die natürlich verführerisch ist, zumal gerade bei einem so abscheulichen Kriegsgeschehen wie diesem, das unsere moralische Emotion förmlich in Aufruhr versetzt, der Kategorienfehler besonders leicht verfängt, von der mikrologisch lebensweltlichen Erfahrung auf die Makroebene der Gesellschaft und der internationalen Politik zu schließen, zu denken, „es ist im Kleinen wie im Großen“. „Der Politiker, der ein anderes Land überfällt und dessen Einwohnern das Leben zur Hölle macht, ist er nicht dem bösen Nachbarn vergleichbar, der andere in seiner Umgebung verbal attackiert, sie mobbt und ihnen das Leben vor Ort vergällt?“ „Was, wenn man im einen wie im anderen Fall den Übeltäter nicht mit gütlichen, friedlichen Mitteln stoppen, von seinem bösartigen Verhalten abbringen kann?“
„Dass sozusagen in beiden Welten am Ende der gefährlichste und bösartigste Mensch gewinnt, weil niemand einschreitet, weil keiner hilft, alle untätig zuschauen und es geschehen lassen“ – dies ist die Sorge einer Bekannten, die meine kriegskritischen Stellungnahmen und meine Vorbehalte gegen bewaffnete Maßnahmen kennt und mich fragt, worin meine Lösung besteht. Das Nachdenken über eine alternative Lösung, so möchte ich ihr antworten, beginnt mit einer kontraintuitiven Prämisse, einer Zumutung mithin. Der nämlich, die zunächst so einleuchtende alltagspsychologische Parallele fallen zu lassen, sie erweist sich für die politische und zwischenstaatliche Ebene als untauglich, irreführend. Die Kontexte von Alltagswelt und internationaler Politik sind entstehungsgeschichtlich und in ihrer Beziehungsdynamik gänzlich verschieden. Polizeiliche Intervention zur Beilegung zivilgesellschaftlicher Konflikte lässt sich eben nicht mit militärischer Konfliktaustragung zwischen Staaten vergleichen. Wie auch das Scheitern einer polizeilichen oder juristischen Streitschlichtung nicht vergleichbar ist mit den Risiken und Konsequenzen kriegerischer Eskalation, gar der Gefahr wechselseitiger atomarer Vernichtung. – Nach meiner „Lösung“ gefragt, plädiere ich infolgedessen für ein Nachdenken, das sich in seinem Ausgangspunkt von jener schlichten alltagspsychologischen Parallelisierung verabschiedet hat. Das Ergebnis eines solchen Nachdenkens, das öffentlich kaum begonnen hat, kann ich nicht vorwegnehmen, es muss als das Ergebnis eines gemeinschaftlichen Projekts jener Intellektuellen abgewartet werden, die sich dem konformistischen Tross derer nicht anschließen, die sich momentan lautstark am Abriss der postheroischen Mentalität beteiligen.
In der angedeuteten Rolle des intellektuellen Dissidenten – desjenigen, der sich dem hysterischen Konsens, “ uns sofort in die Lage versetzen, dieses Land und seine Freiheit mit der Waffe verteidigen zu können“, verweigert –, einer undankbaren Rolle in einer Situation von hohem politischem Handlungsdruck, gerate ich in eine doppelte Verlegenheit. Zum einen vermag ich nicht auf Anhieb eine alternative Handlungsstrategie auf den Tisch zu legen; mein Vorschlag zu einem „Sondervermögen Nachdenken“, um nach anderen Wegen als den in katastrophische Sackgassen führenden zu suchen, ist „politisch nicht darstellbar“, wie man heute sagt. Und zum anderen bringt mich meine Verweigerungshaltung, mein NEIN zum „Zurückschießen“, gegenüber Menschen in Rechtfertigungsnot, deren Leib und Leben unmittelbar von den Waffen eines Angreifers bedroht ist und die im wörtlichen Sinne „unter Beschuss stehen“ . – Insbesondere diese zweite, aus meiner Verweigerungshaltung entstehende Misslichkeit bekümmert und schmerzt mich. Weil ich den Vorwurf eines Mangels an Mitgefühl, Empathie, seitens der Betroffenen verstehen kann, ohne ihn jedoch für sie emotional nachvollziehbar ausräumen zu können, folglich den schmerzhaften Bruch dieser Differenz aushalten muss, ihren Zorn auf Leute wie mich. Wie mit dem quälenden Zwiespalt im Innern leben, helfen zu wollen, ihnen in existenzieller Bedrohung beizustehen und dennoch eine bestimmte Hilfe aus verantwortungsethisch fundierten Gewissensgründen zu verweigern, weil diese Art von Beistand, die der Lebensbedrohung und Existenznot zugrunde liegende soziale und politische Heillosigkeit vermehrt und sie perpetuiert.
Erst neoliberale Entsolidarisierung der Gesellschaft – dann aber zu Solidarität bei der Landesverteidigung auffordern
Eine Heillosigkeit, die sich im Grunde auf die Gesamtheit heutiger weltgesellschaftlicher Verhältnisse erstreckt, auf innerstaatliche Herrschaftsverhältnisse wie auch auf den Zustand des internationalen politischen Systems. Sozioökonomisch und zivilgesellschaftlich unterscheiden sich die nationalen Gesellschaften lediglich nach dem Grad der Rücksichtslosigkeit oder Brutalität, mit der sich der neoliberal deregulierte Kapitalismus und seine extreme Ungleichheit der Reichtums-und Einflussverteilung im Innern durchgesetzt haben. Zwischen den Individuen, den vereinzelten Einzelnen, ist ein gnadenloser Wettbewerb um Status, Prestige und Anerkennung entbrannt. Und zwischen den Staaten bzw. den Bündnisgruppierungen des multipolaren Weltsystems herrscht eine machtpolitische, auf militärische Stärke setzende Konkurrenz, die gewaltsame Konfrontation und kriegerische Konfliktaustragung immer weniger ausschließt. – Wie lauter isolierte, einander abstoßende Elementarteilchen, verloren durch einen dreifach (zwischenmenschlich, innerstaatlich und transnational) entsolidarisierten Kosmos vagabundierend, werden wir plötzlich von den Regierenden und ihren Stichwortgebern in den Leitmedien im Ton höchster Dringlichkeit an Solidaritätspflichten gegenüber „unserem Gemeinwesen“ erinnert. Dem wir die von uns so selbstverständlich genommenen Segnungen von „Freiheit und Demokratie“ verdankten. Und die wir nun gefälligst solidarisch unter Einsatz unseres Lebens gegen einen aggressiven äußeren Feind verteidigen sollen.
Jener zwecks Kriegsertüchtigung verteidigungspolitisch erzwungene Salto Mortale in Sachen Solidarität, ultimativ gefordert, ja regelrecht moralisch erpresst von der Masse der wirtschaftlich Besitzlosen, den ökonomisch eigentumslosen neoliberalen Wetttbewerbersubjekten, kommt nicht ohne schwülstige Beschwörung von „Phantombesitz“ aus (ein von der Philosophin Eva von Redeker eingeführter Terminus für fiktive Eigentumstitel). Die alltäglich im beinharten Konkurrenzkampf gegeneinander agierenden wirtschaftlichen Habenichtse sollen sich mit einem Mal als solidarisches Kollektiv begreifen – fingieren wäre das korrekte Wort dafür – und sich als „Phantombesitzer“ eines staatlich verfassten demokratischen Gemeinwesens fühlen. Für dessen militärische Verteidigung ihnen mit Fug und Recht (es geht um die Sicherung ihres Eigentums, die Erhaltung ihres Phantombesitzes) wenn nötig ein „hoher Blutzoll“ (so der Militärexperte Carlo Masala) abverlangt werden darf. – Werden unsere besitzerstolzen, phantombesitzerstolzen Bundesbürger auf die perfide Paralogik der „sozioökonomisch Entsolidarisierten“ verteidigungspolitisch Solidarischen hereinfallen? Oder werden sie die infame Überredungskunst der Regierenden durchschauen? Vermutlich weder das eine noch das andere. Worauf ich stattdessen hoffe – die bange Hoffnung desjenigen, der inzwischen mit dem Schlimmsten rechnet –, ein gesunder Egoismus individueller Lebenszugewandtheit, wie er der postheroischen Mentalität in den westlich liberalen Zivilgesellschaften nun einmal zu eigen ist, werde sie vor allzu großen Dummheiten bewahren. Die moralisch vielleicht nicht besonders erbauliche, weil nicht selten von einem egoistischen Selbsterhaltungsinteresse geleitete Zivilisiertheit der Mehrheitsbevölkerung in den europäischen Staaten (den Ländern der Europäischen Union) könnte sich als Sand im Getriebe erweisen in der Mechanik einer Verteidigungs- und Kriegsmaschinerie, einer Höllenmaschine im wahrsten Sinne des Wortes, wie sie die Gesellschaftsoberen und ihre Funktionseliten im Begriff sind in Gang zu setzen.
Einen Staat, ein Land, „mein Land“, „meine Heimat“ verteidigen, bewaffnet verteidigen, ungeachtet der Tatsache, dass sich seine Demokratie mehr und mehr in eine Plutokratie verwandelt, in eine Herrschaft des Geldes, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit rapide zunehmen und der gesellschaftliche Alltag zu einer Kampfzone aller gegen alle mutiert? Eine Zumutung, ein verteidigungspolitisches Solidaritätsverlangen, dem sich sozial und politisch verantwortlich denkende und handelnde Menschen meines Erachtens zurecht verweigern! – Wie müsste demgegenüber ein humanes und demokratisches Gemeinwesen beschaffen sein, dessen Bürger und Treuhänder (und also nicht lediglich Phantombesitzer) es guten Gewissens auch gegen innere und äußere Zerstörungskräfte verteidigen würden? Verteidigen freilich auf andere Weise als die heute militärisch übliche, mit „einer Megamaschine Krieg“, die Angreifer wie Verteidiger in den Abgrund, in einen alles zerstörenden Gewaltstrudel reißt. Ich mag mich jedenfalls nicht von dem Gedanken verabschieden, mag er auch gegenwärtig mehr denn je utopisch erscheinen, dass eine substantiell demokratische und wirklich solidarische Gesellschaft (und wahrscheinlich nur sie) auch die Entschlossenheit, die Energie und Widerstandskraft besäße, sich wirksam gegen Feinde zu verteidigen, ohne zu diesem Zweck eine unberechenbare Höllenmaschine in Bewegung zu setzen. Eine wirklich demokratische und solidarische Gesellschaft und ihre Lebensweise, so wage ich zu behaupten, würde selbst unter einer ihr militärisch aufgezwungenen autokratischen Herrschaft nicht dauerhaft in die Knie gehen. Was sagt es über die Verfasstheit unserer derzeitigen Demokratie und ihre neoliberal konditionierte Freiheit aus, wenn den Regierenden verteidigungspolitisch nichts besseres einfällt, als sich mit der Autokratenüberzeugung gemein zu machen, „Die Macht kommt aus den Gewehrläufen“ (Mao Tse Dong). Und sie ihre Bürger nötigen, sich diese Überzeugung ebenfalls zu eigen zu machen und ihr gemäß zu handeln.
Nicht leicht, argumentativ anzukommen gegen lange verfestigte Vorurteile, ich weiß. Die ganze Zeit, während ich an diesem ideologiekritischen Text gearbeitet habe, hat der öffentliche Leitmedienbetrieb seine maoistische Indoktrination („Die Macht kommt aus den Gewehrläufen“) hochtourig fortgesetzt. Politische Inhalte und Reflexionen wie die meinigen sollen aus dem kollektiven Bewusstsein gelöscht werden, für die bewaffnete Landesverteidigung „dysfunktionaler Content“ und seine „Sprachcodes“ müssten „überschrieben“ werden. Explizit fragt die TV-Talkshow-Moderatorin Caren Miosga ihre zur „Koalition der Willigen“ zählenden Gäste, „wie dieser Code noch rascher überschrieben werden kann“. Wann hat man das letzte Mal derart unverblümt und schamlos eine journalistische Aufforderung an prominente Kolleginnen und Kollegen vernommen, sich an einer vom parlamentarisch politischen Mehrheitsblock gewünschten öffentlichen Gehirnwäsche zu beteiligen.
Zugeeignet Martin Theben.

Foto: Hans-Willi Weis
Staufen (kobinet) Auf mehrfachen Wunsch hier zentrale Motive meiner Gegenargumentation. Ich schreibe dies als über den Tag hinaus denkender intellektueller Beobachter. Von heute auf morgen "politisch darstellbar" ist das, was aus meinen Überlegungen folgt, nicht. Umso dringlicher, sofort, in Richtung dieser Perspektive zu denken und persönlich mutig entsprechend zu handeln, falls es für eine solche "Rettungsperspektive" nicht schon zu spät ist. (Der Text ist eine Auskoppelung aus meinem zweiten Antikriegs-Essay in kobinet-Literaturbeilage IV).
Von den „Gewehren der Frau Carrar“ zur massenvernichtenden „Megamaschine Krieg“
Betrachte ich die zurückliegenden Jahrzehnte meiner persönlichen Lebensgeschichte als zusammenhängenden politisch historischen Zeitraum, um ihn einer möglichen Urteilsbildung zugrunde zu legen – ich meine damit die Periode des „kurzen zwanzigsten Jahrhunderts“ vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zum Ende des Ost-West-Konflikts 1989 plus die darauffolgenden 35 Jahre und also das erste Viertel des 21. Jahrhunderts –, so gelange ich am Ende in der Rolle des kritischen Beobachters und eines engagierten Intellektuellen zu dem für mich zwingenden Schluss, dass nunmehr auch aus verantwortungsethischen Gründen (und nicht mehr nur aufgrund eventuell gesinnungsethischer Grundsätze) Militär und Krieg bzw. bewaffnete Verteidigung als optionale Mittel der Politik ausscheiden oder nicht länger in Betracht kommen. Dies war für mich noch anders, als ich Mitte der 1970er Jahre – damals studierte ich Soziologie und Politikwissenschaft an der Uni Marburg und war dort mit meiner politisch linken, dezidiert marxistischen Gesinnung alles andere als allein – Brechts Theaterstück „Die Gewehre der Frau Carrar“ im Fernsehen sah. Brechts zwischen den beiden Weltkriegen geschriebenes proletarisch volkspädagogisches Lehrstück überzeugte mich seinerzeit von der Untauglichkeit einer pazifistischen Haltung für den Klassenkampf von unten, gegen eine bereits zum offenen Bürgerkrieg übergegangene herrschende Klasse.
Das Stück spielt im spanischen Bürgerkrieg, die verwitwete Fischersfrau Carrar, eine gläubige Katholikin, weigert sich unter Berufung auf das Bibelwort, „Wer zum Schwert greift, wird durch das Schwert umkommen“, zunächst dem Bruder ihres Mannes und einem ihrer Söhne, die im Haus versteckten Gewehre auszuhändigen, um sich – wie wir im heutigen Jargon sagen würden – gegen den Angriffskrieg Frankos zu verteidigen. Als der andere Sohn von ihr, von den Phalangisten beim Fischfang erschossen, in einer blutigen Plane ins Haus getragen wird, ändert sie ihren Sinn und gibt den Männern die Gewehre. Die von ihr gelernte Lektion, das Gute muss sich bisweilen der Gewalt bedienen, um sich gegen das Böse zu behaupten, zu verteidigen. Und es hätte ja durchaus sein können, dass die bewaffneten Republikaner ihren Verteidigungskrieg gegen Frankos Truppen gewinnen und damit die republikanische Volksherrschaft in Spanien für Jahrzehnte erhalten, statt wie umgekehrt geschehen, die faschistische Diktatur sich etabliert.
In Brechts Stück steht das Gewehr, zeitgeschichtlich wirklichkeitsgetreu, sinnbildlich für den Krieg, es ist die paradigmatische Kriegswaffe, gleichermaßen für Angreifer und Verteidiger. Im Krieg gehen mit Gewehren bewaffnete Männer aufeinander los und wenn dies auch in militärischen Formationen, Kompanien etc. geschieht, so hat sich doch bis heute unser Vorstellungsbild von einzelnen Kombattanten erhalten, die mit der Waffe in der Hand in einem tödlichen Kampf miteinander stehen. Und die Niederlage und der Tod der einen den Sieg und das Überleben der anderen bedeutet. Handelt es sich bei den letzteren um die „Verteidiger“, so lässt sich daraus schlussfolgern, dass bewaffnete Verteidigung und Verteidigungskriege im Rahmen dieser politisch-militärischen Logik sinnvoll und rational sind. Und die zu Verteidigungszwecken erbrachten Opfer insofern gerechtfertigt sein und moralisch vertretbar erscheinen können.
Nach einem halben Jahrhundert erscheint mir meine damalige „Rezeption“ von Brechts Klassiker im heutigen Rückblick einer vergangenen Zeit, d.h. einer vergangenen Epoche von Kriegführung anzugehören. Mein Einwand unter dem Eindruck nicht erst der jüngsten Kriege und ihres „hochtechnisierten Ablaufgeschehens“ besagt, wir haben es mit einem völlig veränderten Paradigma zu tun. Die massenvernichtende „Megamaschine Krieg“ von heute, hochtechnologische, elektronisch gesteuerte Systeme aus technischen und organischen (menschlichen) Bauteilen in einem beliebig skalierbaren Verbund, hat ihrer destruktiven Effizienz nach kaum noch etwas gemein mit dem aus der Vergangenheit bekannten Kollektiv bewaffneter Kombattanten, das gegen ein anderes solches Kollektiv antritt. Wobei auf überschaubaren Gefechtsfeldern Entscheidungen herbeigeführt wurden, die in Summe idealerweise den Sieg oder die Niederlage einer Seite besiegelten. Ins aktuelle ideologische Framing übersetzt, sich das freie und demokratische Europa in einem erfolgreichen Verteidigungskrieg gegen den Aggressor Putin würde behaupten und letztendlich durchsetzen können. – Mit Verlaub, ich halte solch einen „erfolgreichen Verteidigungskrieg“ (in gesamteuropäischem Maßstab von NATO-Staaten gegen die russische Föderation ausgefochten) für ein gefährliches, um nicht zu sagen selbstmörderisches Phantasma. Das Risiko der Nichtsteuerbarkeit der im Aufeinanderprall beider Kriegsmaschinerien ausgelösten Dynamik, die Wahrscheinlich einer unkontrollierbaren Gewalt- und Eskalationsspirale, die in ein wechselseitiges Zerstörungsinferno unermesslichen Ausmaßes mündet, ist größer als alles andere. Was aber ist von einem militärischen Verteidigungsvorhaben zu halten, das Selbstvernichtung in Kauf nimmt?
Alltagspsychologische Plausibilisierung der militärischen Verteidigungsnotwendigkeit – ein Kategorienfehler, der verfängt
Ich nehme an, intelligente Bellizisten konzedieren ins geheim die Unkalkulierbarkeit militärischer Verteidigung im großen Maßstab (etwa dem eines auf Gesamt-Europa ausgedehnten Kriegs). Die derzeit beliebteste verteidigungspolitische Rechtfertigungsformel forcierter Aufrüstung, „civis pacem para bellum“ („wer Frieden will, bereitet den Krieg vor“), akzentuiert die militärische Verteidigungsfähigkeit bzw. Kriegsbereitschaft lediglich als Mittel oder Instrument einer guten Absicht, der Friedenserhaltung nämlich. Dass das Verteidigungsmittel auch seinen eigenen Zweck, nämlich die Freiheit und das Leben des oder der Angegriffenen zu verteidigen, erfüllen und nicht in ein letales Desaster münden wird, darüber schweigt die Formel. Darum setzen ihre Nachbeter konsequent auf das Prinzip Hoffnung. Gefragt, ob wir also vom Schlimmsten oder Schlechtesten ausgehen und dafür eigentlich bereit sein müssen, antwortet der Militärexperte Carlo Masala, „die grundlegende Logik ist, bereite dich immer auf das schlimmste Szenario vor und hoffe, dass es nicht eintritt.“ Kurz, wir müssten die Verteidigungsausgaben hochfahren, soweit soll das Publikum mitdenken. Danach ist mit dem Denken Schluss, dann heißt es, nurmehr hoffen und beten. Im Zweiten Weltkrieg nannte man unter Landsern wie unter Generälen vergleichbare Unternehmungen „Himmelfahrtskommando“.
Vom schwäbischen Schlitzohr Schäuble, Wolfgang Schäuble ist der überaus beruhigende Sinnspruch überliefert „Wir bereiten uns auf den Krieg vor, um ihn nicht führen zu müssen“. Nun lebt der legendäre Schwabe mittlerweile nicht mehr, aber es herrscht Krieg in Teilen Europas. Sodass wir ihn anders als erhofft, nolens volens führen müssen? Auf dass die Antwort nur „ja“ laute und niemand auf den dummen Gedanken kommt, über Alternativen zum „den Verteidigungskrieg nun führen zu müssen“ nachzudenken, greifen die Ideologen des Verteidigungskrieges nur allzu gern alltagspsychologische Rechtfertigungsanleihen auf. Der lebensweltliche Diskurs hält sie quasi parat und lässt sie naheliegend erscheinen, geradezu schlagend. „Wenn du auf der Straße angegriffen oder überfallen wirst, wehrst du dich doch auch oder eilst der oder dem Angegriffenen zu Hilfe. Auf keinen Fall lässt du alles mit dir machen. Sich verteidigen, zur Wehr setzen, ist das Selbstverständlichste und Legitimste von der Welt!“ Die Beispielpalette reicht von der nackten physischen Gewalttat bis hin zur subtilen seelischen Vergewaltigung, Mobbing und anderes mehr. – Während ich dies schreibe (auf mein Diktiergerät spreche) laufen im Radio die Nachrichten über einen russischen Raketenangriff auf die ukrainische Stadt Sumy mit vielen zivilen Opfern. Die Kommentatoren, ob Politiker oder Journalisten, verschärfen entsprechend den Ton der Empörung und fordern noch entschiedener wirksame militärische Vergeltung für diesen „Terror“, dieses „barbarische Verbrechen“. Friedrich Merz, der künftige Bundeskanzler, bringt mit schneidender Stimme, Feldwebelstimme, erneut den „Marschflugkörper Taurus“ als die einzig angemessene Antwort ins Spiel. Um die Abschussrampen des Aggressors auf dessen Territorium auszuschalten, so drängen unisono auch die hiesigen Wehrexperten und Militärs, zweifellos die effektivste Waffe, sprich Angriffswaffe in der Funktion einer Verteidigungswaffe.
Wie geht es mir dabei? Den nur wenige Sekunden langen Originalton der Reportage aus Sumy über den Einschlag der Raketen, finde ich so unerträglich, wie ich die zu einer sofortigen „angemessenen Reaktion“ auffordernde Kommentierung entsetzlich finde. In der ich nichts anderes denn eine wohlfeile, ja selbstgerechte Affektabfuhr erkennen kann. Die natürlich verführerisch ist, zumal gerade bei einem so abscheulichen Kriegsgeschehen wie diesem, das unsere moralische Emotion förmlich in Aufruhr versetzt, der Kategorienfehler besonders leicht verfängt, von der mikrologisch lebensweltlichen Erfahrung auf die Makroebene der Gesellschaft und der internationalen Politik zu schließen, zu denken, „es ist im Kleinen wie im Großen“. „Der Politiker, der ein anderes Land überfällt und dessen Einwohnern das Leben zur Hölle macht, ist er nicht dem bösen Nachbarn vergleichbar, der andere in seiner Umgebung verbal attackiert, sie mobbt und ihnen das Leben vor Ort vergällt?“ „Was, wenn man im einen wie im anderen Fall den Übeltäter nicht mit gütlichen, friedlichen Mitteln stoppen, von seinem bösartigen Verhalten abbringen kann?“
„Dass sozusagen in beiden Welten am Ende der gefährlichste und bösartigste Mensch gewinnt, weil niemand einschreitet, weil keiner hilft, alle untätig zuschauen und es geschehen lassen“ – dies ist die Sorge einer Bekannten, die meine kriegskritischen Stellungnahmen und meine Vorbehalte gegen bewaffnete Maßnahmen kennt und mich fragt, worin meine Lösung besteht. Das Nachdenken über eine alternative Lösung, so möchte ich ihr antworten, beginnt mit einer kontraintuitiven Prämisse, einer Zumutung mithin. Der nämlich, die zunächst so einleuchtende alltagspsychologische Parallele fallen zu lassen, sie erweist sich für die politische und zwischenstaatliche Ebene als untauglich, irreführend. Die Kontexte von Alltagswelt und internationaler Politik sind entstehungsgeschichtlich und in ihrer Beziehungsdynamik gänzlich verschieden. Polizeiliche Intervention zur Beilegung zivilgesellschaftlicher Konflikte lässt sich eben nicht mit militärischer Konfliktaustragung zwischen Staaten vergleichen. Wie auch das Scheitern einer polizeilichen oder juristischen Streitschlichtung nicht vergleichbar ist mit den Risiken und Konsequenzen kriegerischer Eskalation, gar der Gefahr wechselseitiger atomarer Vernichtung. – Nach meiner „Lösung“ gefragt, plädiere ich infolgedessen für ein Nachdenken, das sich in seinem Ausgangspunkt von jener schlichten alltagspsychologischen Parallelisierung verabschiedet hat. Das Ergebnis eines solchen Nachdenkens, das öffentlich kaum begonnen hat, kann ich nicht vorwegnehmen, es muss als das Ergebnis eines gemeinschaftlichen Projekts jener Intellektuellen abgewartet werden, die sich dem konformistischen Tross derer nicht anschließen, die sich momentan lautstark am Abriss der postheroischen Mentalität beteiligen.
In der angedeuteten Rolle des intellektuellen Dissidenten – desjenigen, der sich dem hysterischen Konsens, “ uns sofort in die Lage versetzen, dieses Land und seine Freiheit mit der Waffe verteidigen zu können“, verweigert –, einer undankbaren Rolle in einer Situation von hohem politischem Handlungsdruck, gerate ich in eine doppelte Verlegenheit. Zum einen vermag ich nicht auf Anhieb eine alternative Handlungsstrategie auf den Tisch zu legen; mein Vorschlag zu einem „Sondervermögen Nachdenken“, um nach anderen Wegen als den in katastrophische Sackgassen führenden zu suchen, ist „politisch nicht darstellbar“, wie man heute sagt. Und zum anderen bringt mich meine Verweigerungshaltung, mein NEIN zum „Zurückschießen“, gegenüber Menschen in Rechtfertigungsnot, deren Leib und Leben unmittelbar von den Waffen eines Angreifers bedroht ist und die im wörtlichen Sinne „unter Beschuss stehen“ . – Insbesondere diese zweite, aus meiner Verweigerungshaltung entstehende Misslichkeit bekümmert und schmerzt mich. Weil ich den Vorwurf eines Mangels an Mitgefühl, Empathie, seitens der Betroffenen verstehen kann, ohne ihn jedoch für sie emotional nachvollziehbar ausräumen zu können, folglich den schmerzhaften Bruch dieser Differenz aushalten muss, ihren Zorn auf Leute wie mich. Wie mit dem quälenden Zwiespalt im Innern leben, helfen zu wollen, ihnen in existenzieller Bedrohung beizustehen und dennoch eine bestimmte Hilfe aus verantwortungsethisch fundierten Gewissensgründen zu verweigern, weil diese Art von Beistand, die der Lebensbedrohung und Existenznot zugrunde liegende soziale und politische Heillosigkeit vermehrt und sie perpetuiert.
Erst neoliberale Entsolidarisierung der Gesellschaft – dann aber zu Solidarität bei der Landesverteidigung auffordern
Eine Heillosigkeit, die sich im Grunde auf die Gesamtheit heutiger weltgesellschaftlicher Verhältnisse erstreckt, auf innerstaatliche Herrschaftsverhältnisse wie auch auf den Zustand des internationalen politischen Systems. Sozioökonomisch und zivilgesellschaftlich unterscheiden sich die nationalen Gesellschaften lediglich nach dem Grad der Rücksichtslosigkeit oder Brutalität, mit der sich der neoliberal deregulierte Kapitalismus und seine extreme Ungleichheit der Reichtums-und Einflussverteilung im Innern durchgesetzt haben. Zwischen den Individuen, den vereinzelten Einzelnen, ist ein gnadenloser Wettbewerb um Status, Prestige und Anerkennung entbrannt. Und zwischen den Staaten bzw. den Bündnisgruppierungen des multipolaren Weltsystems herrscht eine machtpolitische, auf militärische Stärke setzende Konkurrenz, die gewaltsame Konfrontation und kriegerische Konfliktaustragung immer weniger ausschließt. – Wie lauter isolierte, einander abstoßende Elementarteilchen, verloren durch einen dreifach (zwischenmenschlich, innerstaatlich und transnational) entsolidarisierten Kosmos vagabundierend, werden wir plötzlich von den Regierenden und ihren Stichwortgebern in den Leitmedien im Ton höchster Dringlichkeit an Solidaritätspflichten gegenüber „unserem Gemeinwesen“ erinnert. Dem wir die von uns so selbstverständlich genommenen Segnungen von „Freiheit und Demokratie“ verdankten. Und die wir nun gefälligst solidarisch unter Einsatz unseres Lebens gegen einen aggressiven äußeren Feind verteidigen sollen.
Jener zwecks Kriegsertüchtigung verteidigungspolitisch erzwungene Salto Mortale in Sachen Solidarität, ultimativ gefordert, ja regelrecht moralisch erpresst von der Masse der wirtschaftlich Besitzlosen, den ökonomisch eigentumslosen neoliberalen Wetttbewerbersubjekten, kommt nicht ohne schwülstige Beschwörung von „Phantombesitz“ aus (ein von der Philosophin Eva von Redeker eingeführter Terminus für fiktive Eigentumstitel). Die alltäglich im beinharten Konkurrenzkampf gegeneinander agierenden wirtschaftlichen Habenichtse sollen sich mit einem Mal als solidarisches Kollektiv begreifen – fingieren wäre das korrekte Wort dafür – und sich als „Phantombesitzer“ eines staatlich verfassten demokratischen Gemeinwesens fühlen. Für dessen militärische Verteidigung ihnen mit Fug und Recht (es geht um die Sicherung ihres Eigentums, die Erhaltung ihres Phantombesitzes) wenn nötig ein „hoher Blutzoll“ (so der Militärexperte Carlo Masala) abverlangt werden darf. – Werden unsere besitzerstolzen, phantombesitzerstolzen Bundesbürger auf die perfide Paralogik der „sozioökonomisch Entsolidarisierten“ verteidigungspolitisch Solidarischen hereinfallen? Oder werden sie die infame Überredungskunst der Regierenden durchschauen? Vermutlich weder das eine noch das andere. Worauf ich stattdessen hoffe – die bange Hoffnung desjenigen, der inzwischen mit dem Schlimmsten rechnet –, ein gesunder Egoismus individueller Lebenszugewandtheit, wie er der postheroischen Mentalität in den westlich liberalen Zivilgesellschaften nun einmal zu eigen ist, werde sie vor allzu großen Dummheiten bewahren. Die moralisch vielleicht nicht besonders erbauliche, weil nicht selten von einem egoistischen Selbsterhaltungsinteresse geleitete Zivilisiertheit der Mehrheitsbevölkerung in den europäischen Staaten (den Ländern der Europäischen Union) könnte sich als Sand im Getriebe erweisen in der Mechanik einer Verteidigungs- und Kriegsmaschinerie, einer Höllenmaschine im wahrsten Sinne des Wortes, wie sie die Gesellschaftsoberen und ihre Funktionseliten im Begriff sind in Gang zu setzen.
Einen Staat, ein Land, „mein Land“, „meine Heimat“ verteidigen, bewaffnet verteidigen, ungeachtet der Tatsache, dass sich seine Demokratie mehr und mehr in eine Plutokratie verwandelt, in eine Herrschaft des Geldes, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeit rapide zunehmen und der gesellschaftliche Alltag zu einer Kampfzone aller gegen alle mutiert? Eine Zumutung, ein verteidigungspolitisches Solidaritätsverlangen, dem sich sozial und politisch verantwortlich denkende und handelnde Menschen meines Erachtens zurecht verweigern! – Wie müsste demgegenüber ein humanes und demokratisches Gemeinwesen beschaffen sein, dessen Bürger und Treuhänder (und also nicht lediglich Phantombesitzer) es guten Gewissens auch gegen innere und äußere Zerstörungskräfte verteidigen würden? Verteidigen freilich auf andere Weise als die heute militärisch übliche, mit „einer Megamaschine Krieg“, die Angreifer wie Verteidiger in den Abgrund, in einen alles zerstörenden Gewaltstrudel reißt. Ich mag mich jedenfalls nicht von dem Gedanken verabschieden, mag er auch gegenwärtig mehr denn je utopisch erscheinen, dass eine substantiell demokratische und wirklich solidarische Gesellschaft (und wahrscheinlich nur sie) auch die Entschlossenheit, die Energie und Widerstandskraft besäße, sich wirksam gegen Feinde zu verteidigen, ohne zu diesem Zweck eine unberechenbare Höllenmaschine in Bewegung zu setzen. Eine wirklich demokratische und solidarische Gesellschaft und ihre Lebensweise, so wage ich zu behaupten, würde selbst unter einer ihr militärisch aufgezwungenen autokratischen Herrschaft nicht dauerhaft in die Knie gehen. Was sagt es über die Verfasstheit unserer derzeitigen Demokratie und ihre neoliberal konditionierte Freiheit aus, wenn den Regierenden verteidigungspolitisch nichts besseres einfällt, als sich mit der Autokratenüberzeugung gemein zu machen, „Die Macht kommt aus den Gewehrläufen“ (Mao Tse Dong). Und sie ihre Bürger nötigen, sich diese Überzeugung ebenfalls zu eigen zu machen und ihr gemäß zu handeln.
Nicht leicht, argumentativ anzukommen gegen lange verfestigte Vorurteile, ich weiß. Die ganze Zeit, während ich an diesem ideologiekritischen Text gearbeitet habe, hat der öffentliche Leitmedienbetrieb seine maoistische Indoktrination („Die Macht kommt aus den Gewehrläufen“) hochtourig fortgesetzt. Politische Inhalte und Reflexionen wie die meinigen sollen aus dem kollektiven Bewusstsein gelöscht werden, für die bewaffnete Landesverteidigung „dysfunktionaler Content“ und seine „Sprachcodes“ müssten „überschrieben“ werden. Explizit fragt die TV-Talkshow-Moderatorin Caren Miosga ihre zur „Koalition der Willigen“ zählenden Gäste, „wie dieser Code noch rascher überschrieben werden kann“. Wann hat man das letzte Mal derart unverblümt und schamlos eine journalistische Aufforderung an prominente Kolleginnen und Kollegen vernommen, sich an einer vom parlamentarisch politischen Mehrheitsblock gewünschten öffentlichen Gehirnwäsche zu beteiligen.
Zugeeignet Martin Theben.