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ADHS als evolutionäre Antwort auf kollektives Leid

Grafik Evolution mehrere Menschen von linksnach rechts größer werdend, mit verzerrten Schatten
ADHS und Evolution
Foto: OpenClipart-Vectors In neuem Fenster öffnen via Pixabay In neuem Fenster öffnen

Berlin (kobinet) Diesen Text hat uns (kobinet) Oliver Gruber zugesandt. Über sich schreibt er uns: "Oliver Gruber (Jg. 1983) ist ausgebildeter Industriekaufmann mit handwerklicher Vergangenheit und vielfältigen beruflichen Stationen, die ihm ein breites, lebensnahes Gesamtbild vermittelt haben. Heute schreibt er - nicht nur, weil es ihn drängt, sondern weil es ihn rettet. Seine Texte entstehen dort, wo gesellschaftlicher Druck auf individuelles Erleben trifft - und Ideen geboren werden, die anecken dürfen, ja sollen. " Die gewählte Form und Zeichensetzung sind Teil des inhaltlichen Ausdrucks dieses Essays. Sie spiegeln den inneren Rhythmus neurodivergenten Denkens wider und sind somit selbst Teil der Aussage. Dieses Essay darf kopiert und weitergegeben werden. Änderungen sind nur mit Zustimmung des Autors erlaubt. Der Name des Autors muss angegeben werden.

Eine epigenetisch-humanistische Perspektive

Ein persönlicher Essay von Oliver Gruber, basierend auf einer eigenen Deutung von ADHS als evolutionäres Phänomen.

Einleitung

In der gängigen medizinischen Sichtweise wird ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) meist als neurobiologische Funktionsstörung verstanden – bedingt durch genetische und umweltbedingte Faktoren. Doch dieser defizitorientierte Zugang lässt zentrale Fragen offen:
Was, wenn ADHS nicht bloß ein ,,Fehler“ im System ist, sondern ein bewusster evolutionärer Impuls?
Was, wenn ADHS nicht gegen die Natur arbeitet – sondern für sie?
lch möchte hier eine alternative Perspektive anbieten, die ADHS nicht als Störung, sondern als sinnvolle neurobiologische Antwort auf die tief sitzenden Erfahrungen kollektiven
menschlichen Leids betrachtet – weitergegeben über Generationen, gespeichert in unseren Genen, sichtbar in unserer Gesellschaft.

1. Epigenetik

Wenn Erfahrungen die Gene formen

Die Epigenetik hat gezeigt: Traumatische Erlebnisse, toxischer Stress oder Missbrauch verändern nicht die Gene selbst, aber die Art, wie sie abgelesen werden. Diese sogenannten
epigenetischen Marker können über Generationen weitergegeben werden. Studien an Holocaust-Überlebenden, hungernden Müttern (Dutch Hunger Winter) oder traumatisierten Versuchstieren zeigen: Das Erlebte lebt biologisch weiter.

Das individuelle Leid wird zum kollektiven biologischen Erbe.

Wenn wir die letzten Jahrhunderte betrachten – Kriege, Unterdrückung, Entfremdung, Leistungsdruck, Verlust von Naturbezug und Gemeinschaft – dann ist es nicht abwegig, in ADHS eine biologische Reaktion auf eben diese kollektive Entgleisung zu sehen.

2. ADHS als evolutionärer Impuls

Verschiedene Theorien betrachten ADHS als evolutionär sinnvoll: In Jäger- und Sammler-Gesellschaften war Spontaneität, hohe Reaktionsgeschwindigkeit, Reizoffenheit und Bewegungsdrang überlebenswichtig.

  • Der mit ADHS assoziierte DRD4-7R-Gentyp tritt gehäuft bei nomadischen Völkern auf.
  • ADHS ist nicht primär pathologisch – sondern kontextabhängig dysfunktional, besonders in monotonen, reglementierten Umfeldern.
  • ADHS könnte also keine Störung sein – sondern eine evolutionäre Spezialisierung.

3. ADHS als Spiegel gesellschaftlicher Fehlentwicklung

ADHS-Betroffene reagieren besonders sensibel auf Unauthentizität, Ungerechtigkeit, Zwang, Monotonie und emotionale Bedeutungslosigkeit. Ihre Systeme ,,verweigern“ sich
innerlich allem, was sinnentleert, autoritär oder fremdbestimmt ist. Diese besondere Form von Intuition, Unruhe und „innerem Widerstand“ lässt sich interpretieren als eine Art biologisches Frühwarnsystem, das dem Individuum (und vielleicht auch der Gesellschaft) signalisiert – Hier stimmt etwas nicht.
ADHSler sind nicht „unfähig sich anzupassen“ – sie sind nicht dafür gemacht, sich einem entgleisten System unterzuordnen.

4. Das Genom als Bewusstseinsträger

Was, wenn das Genom nicht nur passiver Datenträger ist – sondern ein aktiver Teilnehmer am evolutionären Lernen?
Wenn kollektives Leid über epigenetische Marker in Generationen weiterlebt, ist es möglich. dass das ,,Genombewusstsein“ evolutionär gegensteuert. Es bringt dann
neurobiologische Varianten hervor, die auf neue Weise fühlen, denken und handeln – um die Erfahrungen der Vergangenheit nicht zu wiederholen.

  •  ADHS als evolutionärer Impuls zum Schutz vor Wiederholung alter Fehler.
  •  Ein neurodiverses Korrektiv – geboren aus der Notwendigkeit zur Veränderung.

Schlussgedanke

Vielleicht sind Menschen mit ADHS keine fehlerhaften Versionen der Menschheit – sondern frühe Vertreter eines neuen evolutionären Bewusstseins. Einer Art von Mensch, deren
Nervensystem nicht länger in der Lage ist, sich ohne inneren Widerstand in Systeme einzufügen, die auf Konkurrenz, Druck, Unwahrheit oder Selbstverleugnung beruhen.
Wenn das stimmt, dann sind ADHS-Betroffene keine Randerscheinung, sondern Wegweiser. Keine Störung – sondern Botschaft

„ADHS ist die neurobiologische Antwort auf die Fehltritte der Gesellschaft.“

Lesermeinungen

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8 Lesermeinungen
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M. Guenter
02.06.2025 19:12

Hmm,

vieles was der Autor schreibtist richtig. Dennoch – auch mal aus der Warte beruflicher Erfahrung:
Das Thema Epigenetik wird mir hier zu hoch gehängt (den Part der Intergenerationalität blenden wir mal aus) – Fakt ist in meinem Berufsalltag, dass mindestens 50% aller Menschen mit Suchterkrankung irgendwie als „Nebendiagnose“ ADHS haben – und der Rest eine Depression… Was schon anzeigt, dass unsere diagnostischen Manuale irgendwie Henne und Ei verwechseln!
Und ganz offen, als Mensch einfach mal ausblenden zu können, wer neben einem steht, klingt ja ganz nice – ob dies jetzt unbedingt der Darwin-Faktor ist das Überleben der Menschheit zu sichern, da würde ich mich nicht festlegen wollen….

Oliver Gruber
Antwort auf  M. Guenter
03.06.2025 06:27

Vielen Dank für Ihren Kommentar und Ihre Perspektive aus der Praxis.

Ihre Beobachtungen zur Häufung komorbider Diagnosen wie Sucht und Depression zeigen, wie komplex das Feld ist und wie sehr unser diagnostisches System oft Symptome katalogisiert, ohne die dahinterliegenden Zusammenhänge ausreichend zu beleuchten.
Was mich allerdings stört, ist die Vereinfachung in Aussagen wie „50 % Sucht – der Rest Depression“: Solche Pauschalisierungen mögen aus dem Berufsalltag stammen, tragen aber zur Stigmatisierung bei. ADHS wird hier auf ein Nebensymptom reduziert, das wird der Lebensrealität vieler Betroffener nicht gerecht.

Zum Thema Epigenetik: Mir geht es nicht darum, eine biologische Endgültigkeit zu behaupten. Aber ich halte es für zentral, intergenerationale Dynamiken mit einzubeziehen – nicht als Randnotiz, sondern als „entscheidenden Teil eines überfälligen Perspektivwechsels„. Wenn psychisches Leid über Generationen weitergegeben wird, durch Erziehung, Bindungsmuster oder kollektive Erfahrung, dann verdient genau das Aufmerksamkeit.

Der Blick auf ADHS als mögliche Reaktion auf überfordernde Systeme ist kein „Darwin-Faktor“, sondern eine Einladung, gängige Lesarten zu hinterfragen.

Mit besten Grüßen, Oliver Gruber

Silvia Hauser
02.06.2025 19:01

Dazu SWR-Sendung
https://www.swr.de/swrkultur/leben-und-gesellschaft/streit-um-adhs-ist-die-krankheit-eine-versteckte-begabung-forum-2025-01-31-100.html

Hans-Willi Weis empfiehlt das Buch des Philosophen Christoph Türcke „Hyperaktiv – zur Aufmerksamkeitsdefizitkultur“

Oliver Gruber
Antwort auf  Silvia Hauser
03.06.2025 11:30

Hallo Frau Hauser,

vielen Dank für den Link zum Podcast. Ich habe ihn aufmerksam gehört.

Die Aussagen von Herrn Prof. Dr. Christoph Türcke, ADHS als „Kulturstörung“ zu deuten, halte ich persönlich für problematisch. Eine solche Sichtweise riskiert, neurodivergente Menschen auf defizitäre Abweichung von einer vermeintlichen Norm zu reduzieren, statt kulturelle Vielfalt und alternative Wahrnehmungsformen anzuerkennen.

Die Betonung neuzeitlicher Reizüberflutung als primäre Ursache greift für mich zu kurz. Gesellschaften und ihre Anforderungen sind nicht statisch – sie wandeln sich, ebenso wie die Reaktionsweisen auf sie. Dass Menschen heute häufiger Pausen oder alternative Lern- und Arbeitsformen benötigen, ist kein Beleg für Störung, sondern für einen Wandel in den Anforderungen und Strukturen – wie auch Prof. Dr. Christian Jacob treffend einordnet.

Ich stimme besonders seiner Einschätzung zu, dass ADHS eine der heritabilitätsstärksten neuropsychologischen Erscheinungen ist, deren Ausprägung durch Umweltfaktoren moduliert wird. Genau dieser Ansatz spiegelt meinen Versuch wider, ADHS nicht rein pathologisch zu lesen, sondern epigenetisch-humanistisch: als Ausdruck einer Wechselwirkung zwischen Genetik, Umwelt und gesellschaftlicher Dynamik.

Angelina Boerger bringt ebenfalls sehr fein die emotionale Tiefe und oft übersehene Kontextabhängigkeit des Leidensdrucks bei Neurodivergenz auf den Punkt – etwa durch die Beschreibung kognitiver Dissonanzen und der Suche nach Stabilität in einer leistungsgetriebenen Gesellschaft.
Insgesamt bestätigt der Podcast, wie wichtig es ist, ADHS nicht nur als Störung zu sehen – sondern als Teil menschlicher Vielfalt im Spannungsfeld von Kultur, Anspruch und Wandel.

Ist ADHS eine Begabung?

Ganz klar: Ja
Auch wenn sie oft anders erscheint, als es gesellschaftlich erwartet wird.
Sie fordert uns heraus, unsere Vorstellungen von Norm, Leistung und Wert neu zu überdenken, genau darin liegt ihre gesellschaftliche Relevanz.

Herzliche Grüße

Oliver Gruber

Stephan Laux
02.06.2025 16:20

Hervorragend!
Herr Grubers Essay nimmt eine längst fällige Perspektive auf die ADHS ein, ohne dabei in terminologisches Imponiergehabe zu verfallen. 

Als Angehöriger habe ich die ADHS schon lange auch als Ressource wahrgenommen, die gesellschaftlich bedenklichen Entwicklungen einen Spiegel vorhält. Und das nicht erst, seit die ADHS als Diagnose existiert.

Die ADHS ist nach meiner Beobachtung auch ein sehr sensibles Frühwarnsystem für solche Entwicklungen, dem viel zu wenig Beachtung zuteilwird.

Herzlichen Dank dafür, Stephan Laux

Oliver Gruber
Antwort auf  Stephan Laux
02.06.2025 17:24

Es freut mich sehr, dass mein Essay Sie angesprochen hat. Insbesondere dass Sie ADHS ebenfalls als Ressource und sensitives Frühwarnsystem wahrnehmen. Ihre Worte treffen genau den Kern dessen, was ich mit meinem Beitrag ausdrücken wollte.

Gerade Angehörige wie Sie nehmen oft sehr feinfühlig wahr, was im System übersehen wird. Danke, dass Sie diese Perspektive teilen und für Ihre wertschätzenden Worte!

Vielen Dank für Ihre Rückmeldung!

Herzliche Grüße

Oliver Gruber

Stephan Laux
Antwort auf  Oliver Gruber
03.06.2025 09:39

Sehr gerne!
Mich würde in diesem Zusammenhang Ihre Perspektive auf Autismus-Spektrums-Störungen interessieren.

Vielleicht ein Impuls zu einem weiteren Essay? 😉

Beste Grüße

Stephan Laux

Oliver Gruber
Antwort auf  Stephan Laux
03.06.2025 10:30

Danke!

Absolut gerne nehme ich den Impuls auf!

Habe dieses Thema auch schon seit einiger Zeit im Hinterkopf, da sich diese

Spektren – an vielen Punkten überschneiden.

Herzliche Grüße

Oliver Gruber