Fladungen (kobinet)
In der Zeitung taz gab es ein Interview mit Kerstin Scheinert.
kobinet ist eine Internet-Seite mit Nachrichten für Menschen mit Behinderung.
Hier können alle wichtige Infos über Rechte und Hilfen finden.
Kerstin Scheinert ist die Chefin von den Werkstatt-räten in Schleswig-Holstein.
Werkstatt-räte sind Menschen mit Behinderung, die in der Werkstatt mitbestimmen können.
Sie werden gewählt und sprechen für die Rechte und Wünsche der Menschen mit Behinderung.
Das Interview war am 30. Mai 2025 in der Zeitung.
Die taz ist eine Zeitung.
Die taz setzt sich oft für benachteiligte Menschen ein.
Aber dieses Interview zeigt ein Problem:
Das Interview macht Werbung für Werkstätten.
Das Interview stellt keine kritischen Fragen.
Kerstin Scheinert erzählt ihre Geschichte.
Sie hatte einen Unfall am Kopf.
Danach hat sie in einer Werkstatt neu angefangen.
Das war gut für sie.
Aber: Ihre Geschichte wird falsch verwendet.
Ihre Geschichte soll zeigen: Werkstätten sind gut für alle.
Das stimmt aber nicht.
Viele Menschen in Werkstätten sind dort nicht freiwillig.
Das Interview stellt wichtige Fragen nicht:
- Warum nutzen so wenige Menschen das Budget für Arbeit?
- Warum gibt es so wenig Unterstützte Beschäftigung?
- Warum können Menschen nicht leicht aus der Werkstatt wechseln?
Das Budget für Arbeit gibt Geld an Firmen, die Menschen mit Behinderung einstellen.
So können mehr Menschen mit Behinderung einen normalen Job bekommen.
Diese Fragen sind wichtig.
Aber sie werden nicht gestellt.
Werkstätten bekommen Geld für jeden Menschen dort.
Die Menschen arbeiten für sehr wenig Geld.
Oft unter 2 Euro pro Stunde.
Wenn Menschen die Werkstatt verlassen wollen:
Dann verliert die Werkstatt Geld.
Deshalb wollen Werkstätten oft nicht:
Dass Menschen in normale Arbeit wechseln.
Dieses Problem wird im Interview nicht erwähnt.
Kerstin Scheinert ist Werkstatt-rätin.
Aber niemand fragt:
- Wie wurde sie gewählt?
- Kann sie wirklich frei sprechen?
- Vertritt sie alle Menschen in Werkstätten?
Werkstatt-räte sind abhängig von der Werkstatt.
Sie können oft nicht frei entscheiden.
Oft wird gesagt: Werkstätten sind Schutz-räume.
Das gleiche wird auch gesagt über:
- Förder-schulen
- Sonder-kindergärten
Aber das stimmt oft nicht.
Diese Orte trennen Menschen von der Gesellschaft.
Sie machen Menschen abhängig.
Die taz hat schlecht gearbeitet.
Sie hat:
- Keine kritischen Fragen gestellt
- Nur eine Seite gezeigt
- Wichtige Probleme verschwiegen
Das Interview zeigt ein großes Problem:
Selbst-vertretung wird missbraucht.
Sie wird benutzt um zu sagen: Alles ist gut.
Aber viele Menschen in Werkstätten haben keine Wahl.
Sie haben keine echten Alternativen.
Wer über Werkstätten schreibt:
Der muss auch über Macht und Geld sprechen.
Der muss fragen: Wessen Interessen werden vertreten?
Dieses Interview macht das nicht.
Deshalb ist es keine gute Bericht-erstattung.

Foto: Ralph Milewski
Fladungen (kobinet)
Das Interview mit Kerstin Scheinert, Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft Werkstatträte Schleswig-Holstein, erschien am 30. Mai 2025 in der taz – einer Zeitung, die sich oft als Stimme für die Rechte von Minderheiten und Benachteiligten versteht. Doch dieser Beitrag zeigt vor allem eines: Wie leicht sich symbolische Selbstvertretung, institutionelle Loyalität und journalistische Oberflächlichkeit gegenseitig verstärken können – und dabei das System Werkstatt stabilisieren, statt es zu hinterfragen.
Was als Gespräch über Teilhabe und Selbstbestimmung beginnt, endet in einem affirmativen Porträt – ohne kritische Rückfragen, ohne strukturelle Einordnung, ohne die Stimme derer, die tatsächlich feststecken. Der Beitrag steht exemplarisch für ein größeres Problem: Selbstvertretung wird zunehmend als Alibi für Systemerhalt missbraucht – und Medien versäumen es, diesen Mechanismus aufzudecken.
1. Vom Einzelfall zur Legitimation: Die Biografie als Schutzschild
Scheinert schildert, wie sie nach einem Schädel-Hirn-Trauma durch die Werkstatt „neu anfangen“ konnte. Diese persönliche Erfahrung sei ihr unbenommen. Doch sie wird im Interview nicht als Einzelfall reflektiert, sondern zur stillschweigenden Legitimation des gesamten Werkstattsystems umgedeutet. Ihre eigene Zufriedenheit dient als vermeintlicher Beweis für Teilhabe, Förderung und Freiwilligkeit in der Werkstatt.
Dabei wissen wir aus Studien, Umfragen und Praxis: Die Mehrheit der Werkstattbeschäftigten ist nicht freiwillig dort, sondern mangels echter Alternativen, weil Unterstützungsmodelle wie das Budget für Arbeit oder die Unterstützte Beschäftigung in der Praxis kaum zugänglich sind. Auch wird nicht danach gefragt, ob Scheinert überhaupt repräsentativ für andere Werkstattbeschäftigte sprechen kann – oder nur für jene, die sich ins System integriert haben.
2. Die große Leerstelle: Keine Fragen zu Alternativen
Das Interview vermeidet fast peinlich genau jede Frage nach Alternativen zur Werkstatt:
-
Keine Frage zur geringen Inanspruchnahme des Budgets für Arbeit (2022: bundesweit ca. 1.700 Personen).
-
Keine Frage zur Unterstützten Beschäftigung, die mit nur rund 910 aktiven Teilnehmenden bundesweit (2022) faktisch irrelevant bleibt.
-
Keine Frage zu Beratungsqualität, Zugangshürden, systematischer Intransparenz oder gar zu Exit-Optionen aus der Werkstatt.
Es entsteht der Eindruck, als gäbe es diese Modelle zwar theoretisch, aber praktisch keine Nachfrage. Das ist falsch – und gefährlich. Denn der Wunsch nach Wechsel ist nachweislich hoch: Studien zeigen, dass etwa ein Drittel der Werkstattbeschäftigten wechseln möchte, aber keine Aussicht sieht. Diese Menschen kommen im Interview nicht zu Wort.
3. Macht, Geld und Schweigen: Warum Werkstätten Alternativen blockieren
Ein Tabu, das das Interview unkritisch akzeptiert: Das ökonomische Eigeninteresse der Werkstätten.
Werkstätten werden nach Köpfen finanziert und sind wirtschaftlich auf produktive Beschäftigte angewiesen. Diese erledigen oftmals Aufträge für externe Unternehmen – zu Löhnen unter 2 Euro pro Stunde. Verlassen diese Beschäftigten die Werkstatt (etwa über das Budget für Arbeit), verliert die Einrichtung nicht nur Einnahmen, sondern auch Produktivität.
Es liegt also im institutionellen Interesse der Werkstätten, ihre „leistungsfähigsten“ Beschäftigten zu halten – nicht sie zu fördern oder gar in den ersten Arbeitsmarkt zu entlassen.
Dass dieses zentrale Spannungsverhältnis nicht einmal angedeutet wird, macht das Interview zum Symptom eines größeren Problems: Selbstvertretung innerhalb von Systemen, die reale Teilhabe verhindern, wird zum Feigenblatt.
4. Selbstvertretung oder Systemverteidigung?
Scheinert ist Vorsitzende einer Landesarbeitsgemeinschaft von Werkstatträten. Doch niemand fragt:
-
Wie kam sie in diese Position?
-
Wie unabhängig sind Werkstatträte wirklich?
-
Wie werden sie gewählt, geschult, unterstützt – und von wem?
-
Wie hoch ist ihr Einfluss?
In der Realität stehen Werkstatträte unter direkter struktureller Abhängigkeit von der Einrichtung, die sie „vertreten“. Die rechtliche Mitbestimmung ist schwach, die Autonomie oft illusorisch. Scheinert spricht im Interview wie eine Pressesprecherin der Werkstatt, nicht wie eine Interessenvertreterin. Ihre Botschaften:
-
„Niemand wird gezwungen.“
-
„Werkstätten geben Halt.“
-
„Das ist auch richtige Arbeit.“
Diese Aussagen entpolitisieren und romantisieren eine Realität, die für viele aus Ausgrenzung, Unterforderung, Abhängigkeit und Perspektivlosigkeit besteht. Von Rechten, Ansprüchen oder kollektiver Organisierung ist keine Rede.
5. Die Schutzraum-Rhetorik als systemische Konstante – von der Frühförderung bis zur Werkstatt
Die Rede von „Schutzräumen“ ist nicht nur im Kontext von Werkstätten ein beliebtes Argument, um bestehende Sondersysteme zu legitimieren. Dieselbe Logik findet sich auch in Frühförderstellen, Förderschulen und Sonderklassen. Sie alle teilen ein strukturelles Prinzip: Sie begründen Aussonderung mit Fürsorge – und machen sie dadurch gesellschaftlich anschlussfähig.
Frühförderung: Früh separiert, früh ausgeschlossen
Frühförderstellen werden gern als Orte beschrieben, an denen Kinder mit „besonderem Förderbedarf“ individuell und ohne Druck unterstützt werden. Doch in der Praxis führen sie oft zu einer frühzeitigen Weichenstellung in Richtung Sondersysteme. Eltern werden – meist ohne Alternative – in eine Struktur gedrängt, in der die Inklusion nicht vorbereitet, sondern umgangen wird. Der Übergang in inklusive Kindergärten oder Schulen ist selten nahtlos, oft gar nicht vorgesehen.
Förderschulen: Der verpackte Ausschluss
Auch im Schulbereich wird Exklusion mit dem Begriff „Förderung“ bemäntelt. Die Realität:
-
Kinder in Förderschulen machen seltener Schulabschlüsse,
-
haben deutlich schlechtere Berufschancen,
-
und werden sozial von Anfang an separiert.
In der öffentlichen Kommunikation jedoch dominiert das Bild vom „schützenden Lernumfeld“. Dass dies faktisch ein Ort der Entmündigung und Abkopplung ist, wird verschwiegen oder als unvermeidbar dargestellt.
Werkstätten: Endstation Schutzlogik
Diese Erzählung kulminiert in den Werkstätten: Als „sicherer Ort“ für „leistungsunfähige Menschen“ werden sie verklärt. Dabei ist längst belegt, dass das System Werkstatt dauerhafte Exklusion erzeugt, statt Übergänge in den ersten Arbeitsmarkt zu fördern. Auch hier wird der Begriff Schutz benutzt, um von einem grundlegenden Versagen der Regelstrukturen abzulenken – und um die Beibehaltung eines Systems zu rechtfertigen, das für viele ein Endlager ist.
Die Funktion der Schutzrhetorik
Was all diese Sondersysteme gemeinsam haben:
-
Sie verlagern die Verantwortung vom Allgemeinsystem auf das „Besondere“.
-
Sie produzieren Abhängigkeiten, Ressourcenkonkurrenz und begrenzte Optionen.
-
Und sie ermöglichen es, Inklusion rhetorisch zu behaupten – ohne sie strukturell umzusetzen.
Die Schutzraum-Rhetorik ist daher kein Ausdruck von Menschlichkeit – sie ist ein Ausdruck von struktureller Hilflosigkeit und Beharrungskraft eines Systems, das sich nicht verändern will.
6. Journalistische Verantwortungslosigkeit: Was die taz versäumt hat
Die taz hätte hier eine Chance gehabt. Stattdessen entscheidet sich die Redaktion für:
-
einen personenzentrierten Zugang ohne Kontextualisierung,
-
empathisches Nachfragen statt analytischem Gegenhalten,
-
und eine unhinterfragte Erzählung, in der individuelle Zufriedenheit systemische Gerechtigkeit ersetzt.
Die große Leerstelle ist nicht nur die Werkstattkritik – sondern die Unfähigkeit, Strukturen als solche überhaupt zu erkennen.
Wenn die taz aufhört, soziale Systeme zu analysieren, und stattdessen Einzelfallgeschichten als Wahrheit präsentiert, wird sie zur Erfüllungsgehilfin des Status quo – gerade in einem Bereich, der dringend neue Impulse, Stimmen und Radikalität braucht.
Fazit: Wer spricht – und wer wird zum Schweigen gebracht?
Das Interview mit Kerstin Scheinert zeigt, wie Selbstvertretung ohne Systemkritik funktioniert: Als individuelle Erfolgsgeschichte, losgelöst von realer Macht, ohne Bezug zu den strukturellen Missständen. Und die taz? Leistet journalistische Beihilfe zur Erzählung vom „guten Leben“ in der Werkstatt – während Alternativen ignoriert, Probleme relativiert und Interessenkonflikte verschwiegen werden.
Wer über Werkstätten spricht, muss über Macht, Geld und Abhängigkeit sprechen.
Wer über Selbstvertretung spricht, muss auch die Frage stellen: Wessen Interessen werden vertreten – und wessen nicht?
Ein Interview, das diesen Fragen ausweicht, ist kein Beitrag zur Debatte, sondern ein Rückschritt in ein System, das sich mit sich selbst genügt – und genau deshalb kritisiert werden muss.

Foto: Ralph Milewski
Fladungen (kobinet)
Das Interview mit Kerstin Scheinert, Vorsitzende der Landesarbeitsgemeinschaft Werkstatträte Schleswig-Holstein, erschien am 30. Mai 2025 in der taz – einer Zeitung, die sich oft als Stimme für die Rechte von Minderheiten und Benachteiligten versteht. Doch dieser Beitrag zeigt vor allem eines: Wie leicht sich symbolische Selbstvertretung, institutionelle Loyalität und journalistische Oberflächlichkeit gegenseitig verstärken können – und dabei das System Werkstatt stabilisieren, statt es zu hinterfragen.
Was als Gespräch über Teilhabe und Selbstbestimmung beginnt, endet in einem affirmativen Porträt – ohne kritische Rückfragen, ohne strukturelle Einordnung, ohne die Stimme derer, die tatsächlich feststecken. Der Beitrag steht exemplarisch für ein größeres Problem: Selbstvertretung wird zunehmend als Alibi für Systemerhalt missbraucht – und Medien versäumen es, diesen Mechanismus aufzudecken.
1. Vom Einzelfall zur Legitimation: Die Biografie als Schutzschild
Scheinert schildert, wie sie nach einem Schädel-Hirn-Trauma durch die Werkstatt „neu anfangen“ konnte. Diese persönliche Erfahrung sei ihr unbenommen. Doch sie wird im Interview nicht als Einzelfall reflektiert, sondern zur stillschweigenden Legitimation des gesamten Werkstattsystems umgedeutet. Ihre eigene Zufriedenheit dient als vermeintlicher Beweis für Teilhabe, Förderung und Freiwilligkeit in der Werkstatt.
Dabei wissen wir aus Studien, Umfragen und Praxis: Die Mehrheit der Werkstattbeschäftigten ist nicht freiwillig dort, sondern mangels echter Alternativen, weil Unterstützungsmodelle wie das Budget für Arbeit oder die Unterstützte Beschäftigung in der Praxis kaum zugänglich sind. Auch wird nicht danach gefragt, ob Scheinert überhaupt repräsentativ für andere Werkstattbeschäftigte sprechen kann – oder nur für jene, die sich ins System integriert haben.
2. Die große Leerstelle: Keine Fragen zu Alternativen
Das Interview vermeidet fast peinlich genau jede Frage nach Alternativen zur Werkstatt:
-
Keine Frage zur geringen Inanspruchnahme des Budgets für Arbeit (2022: bundesweit ca. 1.700 Personen).
-
Keine Frage zur Unterstützten Beschäftigung, die mit nur rund 910 aktiven Teilnehmenden bundesweit (2022) faktisch irrelevant bleibt.
-
Keine Frage zu Beratungsqualität, Zugangshürden, systematischer Intransparenz oder gar zu Exit-Optionen aus der Werkstatt.
Es entsteht der Eindruck, als gäbe es diese Modelle zwar theoretisch, aber praktisch keine Nachfrage. Das ist falsch – und gefährlich. Denn der Wunsch nach Wechsel ist nachweislich hoch: Studien zeigen, dass etwa ein Drittel der Werkstattbeschäftigten wechseln möchte, aber keine Aussicht sieht. Diese Menschen kommen im Interview nicht zu Wort.
3. Macht, Geld und Schweigen: Warum Werkstätten Alternativen blockieren
Ein Tabu, das das Interview unkritisch akzeptiert: Das ökonomische Eigeninteresse der Werkstätten.
Werkstätten werden nach Köpfen finanziert und sind wirtschaftlich auf produktive Beschäftigte angewiesen. Diese erledigen oftmals Aufträge für externe Unternehmen – zu Löhnen unter 2 Euro pro Stunde. Verlassen diese Beschäftigten die Werkstatt (etwa über das Budget für Arbeit), verliert die Einrichtung nicht nur Einnahmen, sondern auch Produktivität.
Es liegt also im institutionellen Interesse der Werkstätten, ihre „leistungsfähigsten“ Beschäftigten zu halten – nicht sie zu fördern oder gar in den ersten Arbeitsmarkt zu entlassen.
Dass dieses zentrale Spannungsverhältnis nicht einmal angedeutet wird, macht das Interview zum Symptom eines größeren Problems: Selbstvertretung innerhalb von Systemen, die reale Teilhabe verhindern, wird zum Feigenblatt.
4. Selbstvertretung oder Systemverteidigung?
Scheinert ist Vorsitzende einer Landesarbeitsgemeinschaft von Werkstatträten. Doch niemand fragt:
-
Wie kam sie in diese Position?
-
Wie unabhängig sind Werkstatträte wirklich?
-
Wie werden sie gewählt, geschult, unterstützt – und von wem?
-
Wie hoch ist ihr Einfluss?
In der Realität stehen Werkstatträte unter direkter struktureller Abhängigkeit von der Einrichtung, die sie „vertreten“. Die rechtliche Mitbestimmung ist schwach, die Autonomie oft illusorisch. Scheinert spricht im Interview wie eine Pressesprecherin der Werkstatt, nicht wie eine Interessenvertreterin. Ihre Botschaften:
-
„Niemand wird gezwungen.“
-
„Werkstätten geben Halt.“
-
„Das ist auch richtige Arbeit.“
Diese Aussagen entpolitisieren und romantisieren eine Realität, die für viele aus Ausgrenzung, Unterforderung, Abhängigkeit und Perspektivlosigkeit besteht. Von Rechten, Ansprüchen oder kollektiver Organisierung ist keine Rede.
5. Die Schutzraum-Rhetorik als systemische Konstante – von der Frühförderung bis zur Werkstatt
Die Rede von „Schutzräumen“ ist nicht nur im Kontext von Werkstätten ein beliebtes Argument, um bestehende Sondersysteme zu legitimieren. Dieselbe Logik findet sich auch in Frühförderstellen, Förderschulen und Sonderklassen. Sie alle teilen ein strukturelles Prinzip: Sie begründen Aussonderung mit Fürsorge – und machen sie dadurch gesellschaftlich anschlussfähig.
Frühförderung: Früh separiert, früh ausgeschlossen
Frühförderstellen werden gern als Orte beschrieben, an denen Kinder mit „besonderem Förderbedarf“ individuell und ohne Druck unterstützt werden. Doch in der Praxis führen sie oft zu einer frühzeitigen Weichenstellung in Richtung Sondersysteme. Eltern werden – meist ohne Alternative – in eine Struktur gedrängt, in der die Inklusion nicht vorbereitet, sondern umgangen wird. Der Übergang in inklusive Kindergärten oder Schulen ist selten nahtlos, oft gar nicht vorgesehen.
Förderschulen: Der verpackte Ausschluss
Auch im Schulbereich wird Exklusion mit dem Begriff „Förderung“ bemäntelt. Die Realität:
-
Kinder in Förderschulen machen seltener Schulabschlüsse,
-
haben deutlich schlechtere Berufschancen,
-
und werden sozial von Anfang an separiert.
In der öffentlichen Kommunikation jedoch dominiert das Bild vom „schützenden Lernumfeld“. Dass dies faktisch ein Ort der Entmündigung und Abkopplung ist, wird verschwiegen oder als unvermeidbar dargestellt.
Werkstätten: Endstation Schutzlogik
Diese Erzählung kulminiert in den Werkstätten: Als „sicherer Ort“ für „leistungsunfähige Menschen“ werden sie verklärt. Dabei ist längst belegt, dass das System Werkstatt dauerhafte Exklusion erzeugt, statt Übergänge in den ersten Arbeitsmarkt zu fördern. Auch hier wird der Begriff Schutz benutzt, um von einem grundlegenden Versagen der Regelstrukturen abzulenken – und um die Beibehaltung eines Systems zu rechtfertigen, das für viele ein Endlager ist.
Die Funktion der Schutzrhetorik
Was all diese Sondersysteme gemeinsam haben:
-
Sie verlagern die Verantwortung vom Allgemeinsystem auf das „Besondere“.
-
Sie produzieren Abhängigkeiten, Ressourcenkonkurrenz und begrenzte Optionen.
-
Und sie ermöglichen es, Inklusion rhetorisch zu behaupten – ohne sie strukturell umzusetzen.
Die Schutzraum-Rhetorik ist daher kein Ausdruck von Menschlichkeit – sie ist ein Ausdruck von struktureller Hilflosigkeit und Beharrungskraft eines Systems, das sich nicht verändern will.
6. Journalistische Verantwortungslosigkeit: Was die taz versäumt hat
Die taz hätte hier eine Chance gehabt. Stattdessen entscheidet sich die Redaktion für:
-
einen personenzentrierten Zugang ohne Kontextualisierung,
-
empathisches Nachfragen statt analytischem Gegenhalten,
-
und eine unhinterfragte Erzählung, in der individuelle Zufriedenheit systemische Gerechtigkeit ersetzt.
Die große Leerstelle ist nicht nur die Werkstattkritik – sondern die Unfähigkeit, Strukturen als solche überhaupt zu erkennen.
Wenn die taz aufhört, soziale Systeme zu analysieren, und stattdessen Einzelfallgeschichten als Wahrheit präsentiert, wird sie zur Erfüllungsgehilfin des Status quo – gerade in einem Bereich, der dringend neue Impulse, Stimmen und Radikalität braucht.
Fazit: Wer spricht – und wer wird zum Schweigen gebracht?
Das Interview mit Kerstin Scheinert zeigt, wie Selbstvertretung ohne Systemkritik funktioniert: Als individuelle Erfolgsgeschichte, losgelöst von realer Macht, ohne Bezug zu den strukturellen Missständen. Und die taz? Leistet journalistische Beihilfe zur Erzählung vom „guten Leben“ in der Werkstatt – während Alternativen ignoriert, Probleme relativiert und Interessenkonflikte verschwiegen werden.
Wer über Werkstätten spricht, muss über Macht, Geld und Abhängigkeit sprechen.
Wer über Selbstvertretung spricht, muss auch die Frage stellen: Wessen Interessen werden vertreten – und wessen nicht?
Ein Interview, das diesen Fragen ausweicht, ist kein Beitrag zur Debatte, sondern ein Rückschritt in ein System, das sich mit sich selbst genügt – und genau deshalb kritisiert werden muss.
Wir Petra Loose & Dirk Hähnel (Gemeinschaft uLPeDi) finden in dem einseitigen mit Frau Scheinert eine nicht gute Journalistische Leistung, sondern es fehlen noch andere stimmen von anderen Akteuren die dagegen sprechen.Denn es wird im Artikel dem Leser vermittelt das fast alles gut ist.Wir nehmen uns dem Thema wie gewohnt an und konfrontieren die Taz noch mal.
Hinweis: Liebe Leserinnen und Leser, gern bin ich bereit, auf sachliche Kritik und nachvollziehbare Argumente einzugehen. Kommentare, die jedoch keine inhaltliche Auseinandersetzung erkennen lassen, sondern im Wesentlichen auf unbelegten Behauptungen, Vermutungen, Unterstellungen oder persönlich-moralischen Urteilen beruhen, bieten keine Grundlage für einen fundierten Diskurs. Ich bitte daher um Verständnis, wenn ich auf solche Kommentare nicht reagiere. Für die Mitteilung Ihrer persönlichen Sichtweise danke ich Ihnen dennoch.
„4. Selbstvertretung oder Systemverteidigung?“
Vielleicht könnten sie nochmal erklären, wo in dieser Überschrift und dem folgenden Abschnitt genau „sachliche Kritik und nachvollziehbare Argumente“ zu finden sind oder wie sie es wirklich gemeint haben? Die Implikation, dass ein demokratisch gewählter Werkstattrat nur ein „Systemverteidiger von Geschäftsführers Gnaden“ ist, halte ich nicht für eine neutrale und sachlige Argumentation.
Klären Sie uns gerne auf!
Ohne ein neues Fass aufmachen zu wollen, fühle ich mich an Schulen erinnert, wo Eltern oder Elternbeiräte und auch Schülersprecher äußerst wenig zu sagen haben. Wie Werkstätten sind es totale Institutionen, an denen die meisten nicht vorbeikommen.
Im Übrigen spreche ich als Angehörige, die nicht an der Institution vorbeikommt, weil es keine andere Möglichkeit einer Tagesbetreuung gibt. Das Thema Arbeit ist für viele auch garnicht mehr relevant bzw wird schlicht überbewertet.
Meine erster Gedanke nach dem Lesen war die Frage, ob sich der Autor des Textes jemals mit Werkstattbeschäftigten und Werkstatträten auseinandergesetzt hat – ich meine nicht den „Blick von außen mit Mutmaßungen über das System“, sondern Gespräche mit unzähligen Betroffenen.
Das hat was von der aktuellen Gaza-Debatte: Menschen gehen gegen Krieg und Genozid auf die Straße, die politischen Verhältnisse oder gar den Alltag der Menschen dort kennt kaum jemand (bzw. nur durch die Brille der Berichterstattung). Wenn die Palästinenser nur ihren Staat bekommen, fließt Milch und Honig in Gaza (aka. Sharia und Religionspolizei wie in Afghanistan).
Ja, in einer idealen Welt braucht kein Mensch eine Werkstatt für behinderte Menschen und ja, das aktuelle System ist alles andere als optimal oder UN-Behindertenrechtskonform.
Aber man muss sich ehrlich machen: Der Weg vom IST-Zustand in diese ideale Zukunftsvision ist ein sehr, sehr langer Weg und ich sehe noch nicht einmal die ersten sinnvollen Schritte dorthin. Das Budget für Arbeit und eine Unterstützte Beschäftigung sind – Stand heute – ein denkbar schlechter Ansatz, von Alternative möchte ich gar nicht erst schreiben.
Ärgerlicher ist jedoch die Herangehensweise von Herrn Milewski, die Werkstatträtin mit rhetorischen Fragen in ein schlechtes Licht zu rücken: „Wie kam sie in diese Position? Wie unabhängig sind Werkstatträte wirklich? Wie werden sie gewählt, geschult, unterstützt – und von wem? Wie hoch ist ihr Einfluss?“
Was soll das? Wenn ein demokratisch gewählter Interessensvertreter die Belange seiner Kollegen vertritt und sich für Veränderung mit Augenmaß einsetzt, dann gehe ich doch in der Umschreibung nicht ad hominem in solche Zerrbilder, die andeuten, dass „sie wie die Jungfrau zum Kinde kam, keinerlei Einfluss hat und so oder so nur nach der Nase der Werkstattleitung tanzt“.
Das sind die ewiggleichen Argumente derjenigen, die sich nicht mit den Menschen im System beschäftigt haben, sondern nur von außen darüberschauen und sich denken, dass das System grundsätzlich abgeschafft werden muss; das sind im Übrigen oftmals Behinderte, die aus einer sehr privilegierten Situation heraus (bezgl. Intellekt, Akademisierung, finanzieller Möglichkeiten, Familienumfeld, sozialem Status, Glück, uvm.) ihre Biographie schablonenartig auf andere Behinderte übertragen wollen.
…und die Zweistaatenlösung ist auch nur Folklore, wenn ich das von meiner Couch aus nur lange genug betrachte: Wie kam Netanjahu eigentlich in seine Position? Wie unabhängig ist die Hamas eigentlich, wie wird sie gewählt, geschult, unterstützt – und von wem? Wie hoch ist ihr Einfluss?
Das löst keine Probleme und ist in keiner Weise konstruktiv.
[…]
Lieber Konrad W.
Zufällig weiß ich, dass Herr Milewski sehr wohl aus erster Hand berichtet. Aber das müssen Sie mit ihm selbst ausmachen.
Bis dahin können Sie mit mir vorliebnehmen.
40 Jahre Behindertenhilfe! Etliche Wahlen von Werkstatt- oder Heimbeiräten „pädagogisch“ begleitet. (Sprich: Hochqualifiziert „die Hand geführt“).
Zu oft erlebt, wie Einrichtungen das „Persönliche Budget“ scheuen wie der „Teufel das Weihwasser“, weil zu kompliziert und aufwendig abzurechnen.
Demokratische Grundregeln in der Behindertenhilfe durchzusetzen, ist fast so kompliziert wie die Selbstbestimmung der Betroffenen. Aber sollte man es deswegen bleiben lassen?
Selbst in der Behindertenpolitik werden Beauftragte ernannt, anstatt von den Betroffenen gewählt.
Herrn Milewski und auch mir wird oft vorgeworfen, Sondereinrichtungen, wie Werkstätten, abschaffen zu wollen. Was mich betrifft, ist das ein Missverständnis. Erst einmal sollte man aufhören, „Inklusion drüber zu schreiben!“
Und was die Schutzrhetorik betrifft, möchte ich sie noch um einen Aspekt ergänzen. Sondersysteme schützen im umgekehrten Sinne die Gesellschaft anscheinend (hoffentlich unabsichtlich) vor deren Klient*innen.
Fragen Sie mal in den Heimen und Werkstätten nach, wie viel Zeit den Betreuer*innen dort noch bleibt, um mit den Klient*innen im unmittelbaren und erweiterten Sozialraum aufzuschlagen. Wenn überhaupt, dann mit denen, die nicht allzu viel Assistenz benötigen und in der Öffentlichkeit nicht allzu sehr auffallen.
Jedes Bemühen, das zu ändern, ist lobenswert, meistens aber vom Engagement einzelner Mitarbeitenden abhängig.
Politisch gewollt scheint es nicht.
Und es ist Realität. Auch wenn es in der Öffentlichkeit, in Imagefilmen von Einrichtungen und in Medien, wie in diesem Falle auch der „taz“ oft anders dargestellt wird.
Auf jedes Beispiel sogenannter „gelungener Inklusion“ kann ich Ihnen aus meiner beruflichen Biografie ein krasses Gegenbeispiel nennen.
Beste Grüße Stephan Laux
Hallo Herr Laux,
ihr Kommentar klingt deutlich (!) differenzierter, als der ursprüngliche Beitrag von Herrn Milewski, der teilweise schlicht und einfach unsachlich ist.
Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob man einer engagierten Werkstatträtin auf Landesebene einfach die Legitimation, die Kompetenz oder eine vermeintlich fehlende Systemkritik abspricht oder ob man über die Schwierigkeit spricht, dass in einigen Werkstätten die Beschäftigten derart „an der Hand geführt werden [müssen]“, dass man nicht immer von einem demokratischen Vorgang und einer vollkommen freien Meinung einzelner Werkstatträte sprechen kann. Das liegt leider in der Natur der Sache und wird vermutlich immer ein Dilemma bleiben, das man nicht auflösen kann. Zudem muss ich immer dazu sagen, dass es Werkstatträte nicht nur für den „großen politischen Umbruch“ braucht, sondern auch für den reibungslosen Arbeitsalltag von hunderttausenden Beschäftigten in deutschen Werkstätten – das wird auch sehr oft ausgeklammert.
Auch „Sonderstrukturen“ oder das unbeliebte „Persönliche Budget“ (letzteres ist ein Bürokratiemonster) sind so ein Thema: Das sehen fast alle Werkstattträte erst einmal kritisch/problematisch, aber es fehlen realistische (!), politisch gewollte (!) und finanzierbare (!) Alternativen: …und einfach zu sagen, dass man diese Systeme per se mit solchen Aussagen, wie sie die Werkstatträtin im taz-Artikel formuliert hat, schützt und vollkommen unkritisch im IST-Zustand belassen möchte, ist halt auch nicht korrekt.
Ich kenne keinen einzigen Werkstattrat an der Basis oder auf Landes- und Bundesebene, der nicht wenigstens einige wenige Punkte zu Bemängeln hat und nicht auch ihren Satz unterschreiben würde, dass „Werkstätten kein strahlendes Beispiel für Inklusion sind“ – sie sind eben aber auch keine Verwahranstalten mit Sklavenlöhnen, ein Vorwurf mit dem wir seit Jahren konfrontiert werden…
Ich plädiere hier einfach für Kompromisse, Augenmaß und eine Diskussion mit allen Beteiligten!
…und ich erneuere entrüstet meinen Vorwurf, dass Herr Milewski es sich mit diesen reißerischen Suggestivfragen („Wie kam sie in diese Position? Wie unabhängig sind Werkstatträte wirklich? Wie werden sie gewählt, geschult, unterstützt – und von wem? Wie hoch ist ihr Einfluss?“) sehr, sehr leicht macht und bewusst provozierend ein Schwarz-Weiß-Bild zeichnet, dem er auch keine realistischen Auswege, erste Schritte und finanzierbare Alternativen hinterherschickt.
Auf eine Antwort meiner/unserer „unsachlichen Kritik und nicht nachvollziehbaren Argumente“ müssen wir wahrscheinlich noch lange warten.