Staufen (kobinet)
Wann kommt die neue Literatur-Beilage?
Sie kommt am Montag, den 28. April.
Hier lesen Sie einen Text-Ausschnitt.
Der Text heißt: An allen Tagen ein kalter Ostwind.
Der Text ist ein Tage-Buch aus dem März 2022.
Machen große Männer Geschichte?
Beginnen böse Männer Kriege?
Stimmt das wirklich?
Wer nur auf einzelne Personen schaut, erklärt nichts.
Viele Menschen denken so: Politiker mit bösen Herzen machen Kriege.
Aber diese Erklärung ist zu einfach.
Wir sollten besser die Macht-Strukturen verstehen.
Statt uns nur auf die Gefühle der mächtigen Menschen zu konzentrieren.
Normale Bürger können schwer verstehen, wie mächtige Menschen denken.
Wir versuchen uns in sie hinein zu fühlen.
Aber das gelingt oft nicht.
Ein Beispiel: Adolf Hitler hatte eine schöne Stimme.
Viele Menschen dachten: Seine Stimme klingt schön, also ist er gut.
Das war ein Fehler.
Im Film Der Untergang spielt Bruno Ganz Adolf Hitler.
Der Film zeigt Hitler als normalen Menschen mit Gefühlen.
Das lenkt ab von den schlimmen Dingen, die draußen passieren.
In Kunst und Leben sollten wir nicht mit schlimmen Menschen mitleiden.
Das ist schwer.
Auch im Buch Herz der Finsternis ist das ein wichtiges Thema.
Der Autor Joseph Conrad erklärt nicht die Psyche der Haupt-Person.
Er zeigt: Kolonialismus ist nicht wegen einzelner böser Menschen schlimm.
Wenn wir nur auf einzelne Personen und ihre Psyche schauen, sehen wir nicht das ganze Bild.
Wir müssen auch auf größere Zusammenhänge schauen.
Auf Staaten, Wirtschaft und Macht-Gruppen.
Putin hat 2001 im Bundestag gesprochen.
Er sprach von einem gemeinsamen europäischen Haus.
Er hat sogar über einen Beitritt Russlands zur Nato nachgedacht.
Das waren nicht nur seine persönlichen Ideen.
Sie spiegelten die Interessen seines Landes wider.
Seit 2001 ist etwas schief gelaufen zwischen Ost und West.
Kann wirklich nur eine Seite schuld sein?
Kann wirklich nur ein einzelner Mann verantwortlich sein?

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Staufen (kobinet) Wann die seit Monatsmitte fällige aktuelle Ausgabe der Literaturbeilage endlich erscheint? Am kommenden Montag, den 28. April! Als Appetitanreger für literarisch Lese-und Schriftkundige hier vorweg ein Textauszug (aus der Tagebuch-Fortsetzung "An allen Tagen ein kalter Ostwind", entstanden im März 2022).
Große Männer machen Geschichte und sind sie böse, brechen sie Kriege vom Zaun. Wirklich?
Wer nur personalisiert, psychologisiert und dämonisiert, erklärt nichts. Wir alle sind anfällig für den primitiven seelischen Reflex, uns in die finsteren Herzen von Potentaten und Despoten, politischen Bösewichtern zu vertiefen, um uns aus ihrer abgründigen Bosheit einen Reim auf die Weltgeschichte, auf Kriege und andere Untaten zu machen. Der Erklärungswert dieses Psychologisierens geht gegen Null. Statt den tatsächlichen Strukturen der Macht und Machtverhältnisse auf den Grund zu gehen. Lässt man sich von der hässlichen Psyche der Mächtigen faszinieren, ergötzt sich geradezu daran und bemerkt nicht das Parasitäre und Komplizenhafte dieser Art von bloßer Affektabfuhr.
So auch, wenn man als einfache Bürgerin, schlichter Bürger, vormals Untertan, dadurch positionsbedingt stets ein wenig beschränkt, leicht naiv, nicht den blassen Schimmer von der positionsbedingt anders gestrickten Psyche der Macht, der Perspektive der Mächtigen – wenn man also aus seiner kleinen Mann-Perspektive und mit seiner kleinen Frau-Psychologie,
Wohnküchenpsychologie, meint, sich realistisch einfühlen und hineindenken zu können in die Herzen und Hirne „unserer“ politisch Mächtigen, in das Innenleben von Potentaten. Ein Unterfangen, von dem ich glaube, wir können uns das unbewusst Mimetische und unwillkürlich Identifikatorische, das hier im Spiel ist und letztlich den Ausschlag gibt, nicht primitiv genug denken. Mein Faible für die Stimme des Kreml-Sprechers, Väterchen Peskows Don Bass, hat es mir erneut bewiesen. Grenzt das nicht schon an politischen Telefonsex? Hitler hatte einen schönen Bariton, so die Kulturwissenschaftlerin Claudia Schmölders in einem Feature, wir hätten diese Stimme aus den Tondokumenten üblicherweise als eine heisere, in Gebrüll übergehende und sich überschlagende Stimme im Ohr. Die Stimme habe normalerweise aber völlig anders geklungen, so dass „der Führer“ die Leute auch stimmlich für sich eingenommen hat, oder was heißt auch, vor allem stimmlich, der Rest kam dann von selbst. – Das Optische hat natürlich genauso seine politische Verführungskraft, in die eine wie in die andere Richtung, Putin ist doch gebotoxt, hat Elisabeth Silvia am Telefon gesagt und sich mächtig entrüstet über den Saukerl und die Putin-Versteher, als hätte man allein dem Botox an ihm ansehen können, ansehen müssen, dass er vor keiner Schandtat zurückschreckt.
Den angenehmen Bariton übrigens, den Ohrenschmeichler des Führers konnte man im Film Der Untergang auf sich wirken lassen. In der Stimme von Bruno Ganz. Der die Rolle wahrscheinlich auch deshalb gekriegt hat, weil er selber, sozusagen von Hause aus, immer schon stimmlich wie Hitler gesprochen hat und also um wie Hitler zu sprechen, nur weiter wie Bruno Ganz sprechen musste, so kam es mir jedenfalls vor und hinterher musste ich, wenn er Hölderlin vortrug, mir eine Zeitlang jedes Mal sagen, das ist jetzt aber nicht Hitler. – Den Film fand ich grauenhaft. Weil er den Zuschauer in eine emotionale Komplizenschaft zwingt. Und die zentralen Bunkerszenen durch die Simulation einer Atmosphäre residualer Menschlichkeit, eines Rests an Gefühlsregung und zwischenmenschlichem Rapport, von einer objektiven Verlogenheit sind, die schwer erträglich ist. Weil die unentrinnbare Intimität dieses menschelnden Untergangs die Unmenschlichkeit und das Grauen des Weltuntergangs außerhalb der Bunkermauern vergessen macht, ausblendet. Der szenische Zusammenschluss mit dem Gefangenen in seiner Zelle zwischen den Bunkermauern versetzt den Zuschauer, auch wenn ich an dieser Stelle nur für mich sprechen kann, in einen klaustrophobischen Albtraum, eine angenehme Stimme, die im ruhigen Tete-a-Tete mit der Schreibkraft mir, dem intimen Voyeur, das Gefühl von einem an sich patenten Kerl aufnötigt, dessen tragisches Heldenschicksal ihn in diese ausweglose Lage gebracht hat und dem keineswegs das Blut von den Händen trieft, lediglich die Manschetten am Ärmel schmuddelig und wenn das Zittern kommt, der Tremor des Morphinabhängigen und Tablettensüchtigen, packt einen das Mitleid mit der leidenden Kreatur, der geschundenen Führernatur. Grauenhaft. Wahrscheinlich wäre ich nicht bis zum Ende geblieben, wäre hinausgegangen, wenn ich gekonnt hätte, ging aber in der Dunkelheit nicht und ich hatte Ulrich extra gebeten, mich ins Kino zu begleiten, ich konnte noch Schatten und Umrisse auf der Leinwand erkennen.
In der Kunst oder ästhetisch und zwar produktions- wie rezeptionsästhetisch und auch im Leben, dem persönlichen als auch dem politischen, nicht Parasit des Grauens irgendeiner Schreckensherrschaft werden und sich in emotionale Komplizenschaft begeben mit den Urhebern und Verbreitern des Schreckens – vielleicht besteht darin die wahre Lebenskunst, die idealtypisch oder in Reinkultur zu verwirklichen kaum jemandem möglich sein wird. – Ich überlege, ob sich nicht auch die „Moral der Geschichte“, die in Herz der Finsternis erzählt wird, so auf den Punkt bringen ließe. Als Autor der Erzählung und mithin als Künstler vermeidet es Conrad, parasitär, komplizenhaft, voyeuristisch den Schrecken auszustellen, der in der Geschichte allgegenwärtig ist. Über die Figur, in der sich dieser Schrecken sozusagen personal verkörpert, erfahren wir so gut wie nichts, aus dem verlässlich auf ihre individuelle Psyche, ihren Charakter zurück geschlossen werden könnte, ob sie ihrem Naturell nach ein Bösewicht ist oder erst zu einem solchen wurde durch die Umstände, durch den Kolonialismus, dessen Politik und Interessen weder subjektiv erklärbar sind, noch sich substantiell reduzieren lassen auf die Individualpsyche der im kolonialistischen Kontext Handelnden. Was an Grausamkeiten und Schrecken geschieht, hat seine hauptsächliche Ursache weder in der psychischen Disposition des obersten Kolonialherrn, eines Monarchen mit Namen Leopold im fernen Belgien, noch in den seelischen Abgründen der an Ort und Stelle Agierenden, mitten im Herzen der Finsternis, wie jener Kurtz, ein Desperado par excellence. Weshalb es nur konsequent ist, wenn wir aus seinem Mund nichts erfahren, nichts über ihn oder darüber, wie er die ihn umgebende Welt in seiner desperaten Seelenverfassung wahrnimmt. Näher begegnen wir ihm als Leser nur in einer flüchtigen Szene, aus seiner Urwaldbehausung Huckepack auf den Flussdampfer gebracht, in kritischem Zustand, im Fieberdelirium und was er spricht, die beiden Worte, die einzigen für seine Begleiter verständlichen, sind auch für den Erzähler alles, was er je von ihm selber zu seinem Schicksal erfahren hat, „das Grauen“.
Joseph Conrad verharmlost nicht die Gräuel des Kolonialismus, wenn er sich der Psychologisierung enthält, Protagonisten wie den Elfenbeinhändler Kurtz nicht als charakterliche Bösewichter zeichnet, sich weigert, die Ursache der kolonialistischen Schrecken in der Hauptsache den maßgeblich handelnden Individuen und deren finsterer Seele anzulasten. Das Personalisieren, Psychologisieren und damit einhergehende Moralisieren hinsichtlich der Urheberschaft katastrophaler politischer Fehlentwicklungen und bezüglich der Schuldfrage, wer verantwortlich ist für Krieg und Gewalt, wie es gegenwärtig nicht erst seit Kriegsbeginn in der Öffentlichkeit grassiert, aber seither von Tag zu Tag medial schrillere Töne annimmt – diese „Individualpsychologisierung“ und „Individualpsychopathologisierung“ von Entscheidungen und Handlungen lenkt ab von etwas anderem, einer anderen, grundlegenderen Logik und Psycho-Logik „objektiver“ Interessen und „transsubjektiver“ Motivlagen, von sozialen Formationen, wirtschaftlichen und politischen Machteliten, Staaten und Imperien. In diesem kontextuellen Rahmen und an dessen Rationalität oder, wenn man so will, Irrationalität maßnehmend oder vermeintlich orientiert entscheiden und handeln die jeweiligen Führungspersönlichkeiten, Entscheidungsträger, Machtpolitiker. Ob und inwieweit das, was sie tun, rational erscheint, sollte vor diesem Hintergrund beurteilt werden und nicht unabhängig davon nach den ihnen zugeschriebenen charakterlichen Eigenschaften oder ihrem mutmaßlichem Geisteszustand, ein Caligula hier einmal ausgenommen.
Putin hat 2001 im Bundestag eine Rede gehalten, in der er Gorbatschows Wort vom gemeinsamen europäischen Haus aufgegriffen hat. Außerdem soll er zu dieser Zeit in einem Gespräch gegenüber dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush einen russischen Beitritt zur Nato, wenn nicht erwogen, so jedenfalls nicht ausgeschlossen haben. Beides, die Zustimmung zur Idee vom gemeinsamen europäischen Haus und der mögliche oder denkbare Nato-Beitritt Russlands dürfte nicht einer präsidialen Augenblickseingebung oder vorübergehenden Laune entsprungen sein, vielmehr ist davon auszugehen, dass es mit Bedacht ausgesprochen wurde und in Übereinstimmung mit den Vorstellungen der von ihm repräsentierten Machtelite und deren Verständnis und Definition der Interessen ihres Landes. Muss seitdem nicht etwas grundlegend schief gelaufen sein im europäischen und internationalen Interessenausgleich, im Kräftegleichgewicht oder -ungleichgewicht zwischen dem ehemaligen Westen und seinem Kontrahenten im Osten? Sollte diese Störung wirklich allein von der einen, der östlichen Seite verursacht, provoziert worden sein? Gar auf das Konto eines einzelnen Mannes gehen, eines machtgeilen Autokraten? Ein eher sympathischer Typ noch im Jahr 2001, der zwei Jahrzehnte später plötzlich aus unerfindlichem Grund zum Pychopathen wird, ein Irrer, ein Verrückter, der seit zehn Tagen Amok läuft. Und keiner unter den übrigen Mächtigen dieser Welt, Repräsentanten von ebenso mächtigen Interessen, etwas dafür kann, dass es am Ende so weit gekommen ist?

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Staufen (kobinet) Wann die seit Monatsmitte fällige aktuelle Ausgabe der Literaturbeilage endlich erscheint? Am kommenden Montag, den 28. April! Als Appetitanreger für literarisch Lese-und Schriftkundige hier vorweg ein Textauszug (aus der Tagebuch-Fortsetzung "An allen Tagen ein kalter Ostwind", entstanden im März 2022).
Große Männer machen Geschichte und sind sie böse, brechen sie Kriege vom Zaun. Wirklich?
Wer nur personalisiert, psychologisiert und dämonisiert, erklärt nichts. Wir alle sind anfällig für den primitiven seelischen Reflex, uns in die finsteren Herzen von Potentaten und Despoten, politischen Bösewichtern zu vertiefen, um uns aus ihrer abgründigen Bosheit einen Reim auf die Weltgeschichte, auf Kriege und andere Untaten zu machen. Der Erklärungswert dieses Psychologisierens geht gegen Null. Statt den tatsächlichen Strukturen der Macht und Machtverhältnisse auf den Grund zu gehen. Lässt man sich von der hässlichen Psyche der Mächtigen faszinieren, ergötzt sich geradezu daran und bemerkt nicht das Parasitäre und Komplizenhafte dieser Art von bloßer Affektabfuhr.
So auch, wenn man als einfache Bürgerin, schlichter Bürger, vormals Untertan, dadurch positionsbedingt stets ein wenig beschränkt, leicht naiv, nicht den blassen Schimmer von der positionsbedingt anders gestrickten Psyche der Macht, der Perspektive der Mächtigen – wenn man also aus seiner kleinen Mann-Perspektive und mit seiner kleinen Frau-Psychologie,
Wohnküchenpsychologie, meint, sich realistisch einfühlen und hineindenken zu können in die Herzen und Hirne „unserer“ politisch Mächtigen, in das Innenleben von Potentaten. Ein Unterfangen, von dem ich glaube, wir können uns das unbewusst Mimetische und unwillkürlich Identifikatorische, das hier im Spiel ist und letztlich den Ausschlag gibt, nicht primitiv genug denken. Mein Faible für die Stimme des Kreml-Sprechers, Väterchen Peskows Don Bass, hat es mir erneut bewiesen. Grenzt das nicht schon an politischen Telefonsex? Hitler hatte einen schönen Bariton, so die Kulturwissenschaftlerin Claudia Schmölders in einem Feature, wir hätten diese Stimme aus den Tondokumenten üblicherweise als eine heisere, in Gebrüll übergehende und sich überschlagende Stimme im Ohr. Die Stimme habe normalerweise aber völlig anders geklungen, so dass „der Führer“ die Leute auch stimmlich für sich eingenommen hat, oder was heißt auch, vor allem stimmlich, der Rest kam dann von selbst. – Das Optische hat natürlich genauso seine politische Verführungskraft, in die eine wie in die andere Richtung, Putin ist doch gebotoxt, hat Elisabeth Silvia am Telefon gesagt und sich mächtig entrüstet über den Saukerl und die Putin-Versteher, als hätte man allein dem Botox an ihm ansehen können, ansehen müssen, dass er vor keiner Schandtat zurückschreckt.
Den angenehmen Bariton übrigens, den Ohrenschmeichler des Führers konnte man im Film Der Untergang auf sich wirken lassen. In der Stimme von Bruno Ganz. Der die Rolle wahrscheinlich auch deshalb gekriegt hat, weil er selber, sozusagen von Hause aus, immer schon stimmlich wie Hitler gesprochen hat und also um wie Hitler zu sprechen, nur weiter wie Bruno Ganz sprechen musste, so kam es mir jedenfalls vor und hinterher musste ich, wenn er Hölderlin vortrug, mir eine Zeitlang jedes Mal sagen, das ist jetzt aber nicht Hitler. – Den Film fand ich grauenhaft. Weil er den Zuschauer in eine emotionale Komplizenschaft zwingt. Und die zentralen Bunkerszenen durch die Simulation einer Atmosphäre residualer Menschlichkeit, eines Rests an Gefühlsregung und zwischenmenschlichem Rapport, von einer objektiven Verlogenheit sind, die schwer erträglich ist. Weil die unentrinnbare Intimität dieses menschelnden Untergangs die Unmenschlichkeit und das Grauen des Weltuntergangs außerhalb der Bunkermauern vergessen macht, ausblendet. Der szenische Zusammenschluss mit dem Gefangenen in seiner Zelle zwischen den Bunkermauern versetzt den Zuschauer, auch wenn ich an dieser Stelle nur für mich sprechen kann, in einen klaustrophobischen Albtraum, eine angenehme Stimme, die im ruhigen Tete-a-Tete mit der Schreibkraft mir, dem intimen Voyeur, das Gefühl von einem an sich patenten Kerl aufnötigt, dessen tragisches Heldenschicksal ihn in diese ausweglose Lage gebracht hat und dem keineswegs das Blut von den Händen trieft, lediglich die Manschetten am Ärmel schmuddelig und wenn das Zittern kommt, der Tremor des Morphinabhängigen und Tablettensüchtigen, packt einen das Mitleid mit der leidenden Kreatur, der geschundenen Führernatur. Grauenhaft. Wahrscheinlich wäre ich nicht bis zum Ende geblieben, wäre hinausgegangen, wenn ich gekonnt hätte, ging aber in der Dunkelheit nicht und ich hatte Ulrich extra gebeten, mich ins Kino zu begleiten, ich konnte noch Schatten und Umrisse auf der Leinwand erkennen.
In der Kunst oder ästhetisch und zwar produktions- wie rezeptionsästhetisch und auch im Leben, dem persönlichen als auch dem politischen, nicht Parasit des Grauens irgendeiner Schreckensherrschaft werden und sich in emotionale Komplizenschaft begeben mit den Urhebern und Verbreitern des Schreckens – vielleicht besteht darin die wahre Lebenskunst, die idealtypisch oder in Reinkultur zu verwirklichen kaum jemandem möglich sein wird. – Ich überlege, ob sich nicht auch die „Moral der Geschichte“, die in Herz der Finsternis erzählt wird, so auf den Punkt bringen ließe. Als Autor der Erzählung und mithin als Künstler vermeidet es Conrad, parasitär, komplizenhaft, voyeuristisch den Schrecken auszustellen, der in der Geschichte allgegenwärtig ist. Über die Figur, in der sich dieser Schrecken sozusagen personal verkörpert, erfahren wir so gut wie nichts, aus dem verlässlich auf ihre individuelle Psyche, ihren Charakter zurück geschlossen werden könnte, ob sie ihrem Naturell nach ein Bösewicht ist oder erst zu einem solchen wurde durch die Umstände, durch den Kolonialismus, dessen Politik und Interessen weder subjektiv erklärbar sind, noch sich substantiell reduzieren lassen auf die Individualpsyche der im kolonialistischen Kontext Handelnden. Was an Grausamkeiten und Schrecken geschieht, hat seine hauptsächliche Ursache weder in der psychischen Disposition des obersten Kolonialherrn, eines Monarchen mit Namen Leopold im fernen Belgien, noch in den seelischen Abgründen der an Ort und Stelle Agierenden, mitten im Herzen der Finsternis, wie jener Kurtz, ein Desperado par excellence. Weshalb es nur konsequent ist, wenn wir aus seinem Mund nichts erfahren, nichts über ihn oder darüber, wie er die ihn umgebende Welt in seiner desperaten Seelenverfassung wahrnimmt. Näher begegnen wir ihm als Leser nur in einer flüchtigen Szene, aus seiner Urwaldbehausung Huckepack auf den Flussdampfer gebracht, in kritischem Zustand, im Fieberdelirium und was er spricht, die beiden Worte, die einzigen für seine Begleiter verständlichen, sind auch für den Erzähler alles, was er je von ihm selber zu seinem Schicksal erfahren hat, „das Grauen“.
Joseph Conrad verharmlost nicht die Gräuel des Kolonialismus, wenn er sich der Psychologisierung enthält, Protagonisten wie den Elfenbeinhändler Kurtz nicht als charakterliche Bösewichter zeichnet, sich weigert, die Ursache der kolonialistischen Schrecken in der Hauptsache den maßgeblich handelnden Individuen und deren finsterer Seele anzulasten. Das Personalisieren, Psychologisieren und damit einhergehende Moralisieren hinsichtlich der Urheberschaft katastrophaler politischer Fehlentwicklungen und bezüglich der Schuldfrage, wer verantwortlich ist für Krieg und Gewalt, wie es gegenwärtig nicht erst seit Kriegsbeginn in der Öffentlichkeit grassiert, aber seither von Tag zu Tag medial schrillere Töne annimmt – diese „Individualpsychologisierung“ und „Individualpsychopathologisierung“ von Entscheidungen und Handlungen lenkt ab von etwas anderem, einer anderen, grundlegenderen Logik und Psycho-Logik „objektiver“ Interessen und „transsubjektiver“ Motivlagen, von sozialen Formationen, wirtschaftlichen und politischen Machteliten, Staaten und Imperien. In diesem kontextuellen Rahmen und an dessen Rationalität oder, wenn man so will, Irrationalität maßnehmend oder vermeintlich orientiert entscheiden und handeln die jeweiligen Führungspersönlichkeiten, Entscheidungsträger, Machtpolitiker. Ob und inwieweit das, was sie tun, rational erscheint, sollte vor diesem Hintergrund beurteilt werden und nicht unabhängig davon nach den ihnen zugeschriebenen charakterlichen Eigenschaften oder ihrem mutmaßlichem Geisteszustand, ein Caligula hier einmal ausgenommen.
Putin hat 2001 im Bundestag eine Rede gehalten, in der er Gorbatschows Wort vom gemeinsamen europäischen Haus aufgegriffen hat. Außerdem soll er zu dieser Zeit in einem Gespräch gegenüber dem amerikanischen Präsidenten George W. Bush einen russischen Beitritt zur Nato, wenn nicht erwogen, so jedenfalls nicht ausgeschlossen haben. Beides, die Zustimmung zur Idee vom gemeinsamen europäischen Haus und der mögliche oder denkbare Nato-Beitritt Russlands dürfte nicht einer präsidialen Augenblickseingebung oder vorübergehenden Laune entsprungen sein, vielmehr ist davon auszugehen, dass es mit Bedacht ausgesprochen wurde und in Übereinstimmung mit den Vorstellungen der von ihm repräsentierten Machtelite und deren Verständnis und Definition der Interessen ihres Landes. Muss seitdem nicht etwas grundlegend schief gelaufen sein im europäischen und internationalen Interessenausgleich, im Kräftegleichgewicht oder -ungleichgewicht zwischen dem ehemaligen Westen und seinem Kontrahenten im Osten? Sollte diese Störung wirklich allein von der einen, der östlichen Seite verursacht, provoziert worden sein? Gar auf das Konto eines einzelnen Mannes gehen, eines machtgeilen Autokraten? Ein eher sympathischer Typ noch im Jahr 2001, der zwei Jahrzehnte später plötzlich aus unerfindlichem Grund zum Pychopathen wird, ein Irrer, ein Verrückter, der seit zehn Tagen Amok läuft. Und keiner unter den übrigen Mächtigen dieser Welt, Repräsentanten von ebenso mächtigen Interessen, etwas dafür kann, dass es am Ende so weit gekommen ist?