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Literaturbeilage: Unseren „Masters of War“ ins Wort fallen

Abbild des Behindertenausweises vom Autor von 1988
Hans-Willi Weis, geb.1951. Aktueller Essay, Feb.2025
Foto: Hans-Willi Weis

Berlin (kobinet) Wie es Bob Dylan tat. In seinem Protestsong "Masters of War". Ihnen seiner Zeit ins Wort gefallen mit Lyrics – Lyrics, ein Wort, dessen Klang und Konnotation einen zurückzucken lässt, es zusammen mit dem Sujet "Krieg" auszusprechen, doch Dylan wäre nicht Dylan, gelänge es ihm nicht, auch dem Schrecklichen eine poetische Ausdrucksqualität zu verleihen – mit Lyrics also, die heute wieder so aktuell, so gegenwärtig sind, wie sie es 1963 (im Jahr der Veröffentlichung des Songs) gewesen sind. Den damaligen "Masters of War" ins Wort gefallen ist, weil dies für einen Sänger und Poeten die Art und Weise ist, ihnen entgegenzutreten. In den Arm fallen und sie an ihrem todbringendem Tun hindern, das mussten damals und müssten heutzutage andere und vor allem viele, sehr viele. Dass unseren heutigen "Masters of War" nicht einmal mit Worten oder jedenfalls nur selten und medial kaum vernehmbar in den Arm gefallen wird, dieses menschliche Versagen und politische Skandalon macht mich jedesmal von neuem fassungslos und im ersten Moment auch sprachlos.

„An einem fahlen Nachmittag“ – Dylans Hoffnung, die sich nicht erfüllt hat

„On a pale afternoon …“ Dylans „Masters of War“ endet mit einem ungewöhnlichen Bild, in welchem ein Todeswunsch zum Hoffnungsversprechen wird: “ … und ich hoffe, das ihr sterbt und euer Tod bald kommen wird. Ich werde eurem Sarg folgen an einem fahlen Nachmittag und ich werde zusehen, wie ihr hinabgelassen werdet, hinunter in euer Totenbett und ich werde über eurem Grab stehen, bis ich sicher bin, dass ihr tot seid.“ – Eine Hoffnung, die sich als geschichtliche, menschheitsgeschichtliche bis heute nicht erfüllt hat. Schlimmer noch, in einem kurzen historischen Zeitfenster schien es so, als würde sie tatsächlich in Erfüllung gehen. Ein irriger Eindruck, der auf grausame Weise diejenigen betrogen hat, die lebensgeschichtlich die Zeit des „Kalten Kriegs“ und des atomaren Wettrüstens miterlebt haben. Und die sich in der Phase der Entspannungspolitik und der Abrüstung und insbesondere nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ Hoffnungen gemacht haben auf ein Ende des Zeitalters der Kriege und der Hochrüstung.

Desto erschreckender für mich, ein Angehöriger der Nachkriegsgeneration, der „Nach-Zweite-Weltkriegsgeneration“ müsste man mittlerweile präzisieren, da einige es bereits als „fait accompli“ betrachten, dass der Dritte Weltkrieg schon begonnen hat. Für mich ist es um so erschreckender zu erleben, wie selbst etliche meiner Generationsgenossen sich geschmeidig dem gewandelten Zeitgeist fügen. Und nachdem sie sich ihrer vormaligen Friedenshoffnungen wie einer lästigen Zwangsjacke entledigt haben, die bellizistischen Phrasen der neuen Kalten Krieger und hitzigen Kriegsertüchtiger nachbeten. In der Tat, ich fasse es nicht und möglicherweise lässt sich dieser Sinneswandel auf rein rationaler Ebene auch nicht fassen. Man müsste sich dazu auf das spekulative Terrain der Psychoanalyse oder Tiefenpsychologie begeben.

Anders bei den Bellizisten der jüngeren Generation, den Carlos Masala, Christian Mölling und tutti quanti (die Bellizistinnen nicht zu vergessen, Florence Gaub und andere), sie verdanken der von ihnen gefeierten „Rückkehr zur Normalität“, der Normalität des Krieges, eine Karriereschub, ihren beruflichen und medialen Erfolg. Das Durchspielen von Rüstungs- und Kriegsszenarien, motiviert selbstverständlich aus dem ethischen Gewissensimpuls, dass einzig Kriegsvorbereitung Kriege verhindere, setzt bei ihnen Endorphine frei, Glückshormone. „Jetzt sind wir alle erst einmal glücklich“, tönte Christian Mölling bei Markus Lanz am Abend jenes denkwürdigen Tages, an dem Kanzler Scholz die erste Leopardpanzer-Lieferung  an die Ukraine durchgewunken hat.

Wer alles zählt zu dieser Gilde, den bis heute geschichtlich nicht zu Grabe getragenen Kriegsmeistern? Zum einen solche, wie die soeben namentlich Erwähnten, in legitimationsideologischen und strategie- und militärwissenschaftlichen Denkfabriken (Stiftungen und Hochschulen) Tätige; zum anderen publizistische und journalistische Dolmetscher sowie mediale Verbreiter und Verstärker von deren strategischen Konzepten und militärischen Sachzwanglogiken. Zum Beispiel in meinem geliebten Deutschlandradio sind beide Kategorien, die Denkfabrikler und die journalistischen Kommentatoren und Nachbeter, täglich auf Sendung, ohne dass ihnen anders lautende Stimmen nennenswert ins Wort fallen. Nicht anders in den übrigen öffentlich-rechtlichen „Qualitätsmedien“, ein journalistisch militärexpertokratischer Komplex hat in ihnen das Sagen, Gramsci hätte von „Hegemonie gesprochen. – Dass gegenwärtig sogar die Intellektuellen (von wenigen Ausnahmen abgesehen) und parteipolitisch so gut wie alle Linksliberalen und Progressiven im Fahrwasser des kriegsmeisterlichen Denkens schwimmen, führt vor Augen, wie grundlegend der Zeitgeist sich gedreht hat.

Die Masters of War, die Bob Dylan vor Augen hatte, waren noch ausschließlich profitgierige Bosse der Rüstungsindustrie im Bunde mit kriegswillfährigen Politikern, „senators and congressmen“ (denen er in seinem damaligen Zeitenwende-Song „The times they are changing“ zurief, „your old world is rapidly fading“). Von dieser überschaubaren Herrschaftsclique, den Profiteuren des Krieges heißt es in den Lyrics der Masters of War eindrücklich: “ … ihr Herren des Krieges, ihr die ihr die großen Kanonen baut, ihr die ihr die todbringenden Flugzeuge baut, ihr, die ihr all die Bomben baut, ihr, die ihr euch hinter Mauern versteckt, ihr, die ihr euch hinter Schreibtischen versteckt, ich möchte nur, dass ihr wisst, ich kann eure Masken durchschauen … “

Phrasen über Phrasen, die die Fratze des Kriegs verbergen

Die von Dylan durchschauten Masken seiner damaligen Masters of War sind nicht die heute getragenen. Wie auch die Gesichter dahinter heutzutage andere sind. Gesichter von Menschen, die nicht an Rüstung und Krieg verdienen, die in keinen „militärisch-industriellen Komplex“ (der übrigens kritisch von Präsident Eisenhower, Weltkriegsgeneral in der Anti-Hitler-Koalition, bereits vor 1960 in die politische Debatte lancierte Begriff) persönlich oder finanziell verstrickt sind. Vielmehr sind es Menschen, die einer breiter gestreuten gesellschaftlichen Elite angehören und interessiert sind an der Erhaltung ihres materiell, sozial und kulturell privilegierten Status in der westlich liberalen Gesellschaft der Spätmoderne. Politische Amts- und Mandatsträger, Leute aus dem Medien- und dem Wissenschaftsbetrieb, sogar das Gros der wortführenden „Kulturell Kreativen“, sie alle sind in einem politisch-ideologischen Moraldiskurs gefangen, der ihnen gewissermaßen keine Wahl lässt. Der sie zwingt, Krieg und Kriegsdrohung (Putins Angriff auf „unsere Freiheit“) ihrerseits mit Krieg und Kriegsdrohung zu reagieren. Tertium non datur, ein drittes gebe es nicht und über dessen Möglichkeit soll auch nicht nachgedacht werden. Es wird moralisch diskreditiert, geradezu verfemt, „Lumpenpazifismus“.

Sie maskieren weniger sich selbst, vor allen Dingen maskieren sie die Realität, das wahre Gesicht des Krieges, den sie unter dem rechtfertigenden Etikett „Verteidigungskrieg“ vorzubereiten und zu führen bereit sind. Dessen heute weniger denn je einhegbare Brutalität sie mit einem abstrakten und mitunter doppelzüngigen Freiheits- und Menschenrechtsdiskurs zudecken. Zivilisationsbruch mit Zivilisationsbruch beantworten, so der nackte Tatbestand von Krieg heute und als dieses „Faktum brutum“ ein Tabu. Etwas, das nicht verbalisiert werden darf. Den Satz, „wir müssen den von einem Aggressor begangenen kriegerischen Zivilisationsbruch mit unserem eigenen begegnen, um die Demokratie und unsere freiheitliche Lebensweise vor der Zerstörung zu bewahren“, dürfen unsere Kriegsbefürworter, weil mit universalistischen Moralgründen  argumentierende Bellizist*innen, nicht aussprechen. – Und um dieses Sprechverbot, das Tabu, aufrechtzuhalten, muss im politischen Diskurs der moralisierende Ton hochgefahren werden. Eine rüstungs- und kriegslegitimatorische Moralisierung der Politik, die desto lautstärker und unversöhnlicher betrieben wird, als sie ihren inhärenten ethischen Widerspruch schwerlich zu kaschieren vermag.

Vor zwei Jahrzehnten beließ es ein SPD-Verteidigungminister noch bei der schwammigen Formel, unsere Freiheit werde auch am Hindukusch verteidigt. „Wir brauchen weitreichende Waffensysteme“, fordert heute die feministische Außenministerin auf dem Grünen Parteitag, Waffensysteme, mit denen wir unsere Freiheit inzwischen auch vor Moskau verteidigen, verteidigen können müssen. Das gegenseitige einander Abschlachten russischer und ukrainischer Soldaten und das Töten von Zivilisten nicht mehr nur auf ukrainischer Seite, führt auch nach drei Jahren nicht zu einem entsetzten Innehalten und zum Überdenken der eigenen Phraseologie. Man befeuert im Gegenteil umso wütender die Waffenlieferungs- und Kriegsertüchtigungsrhetorik. Nicht nur auf der Seite des Feindes, in Putins Russland, läuft in den staatlich gelenkten Medien die kriegspropagandistische Phrasendreschmaschine heiß, sie wird vom liberalen Medienbetrieb im freiheitlich demokratischen Westen ebenfalls auf Hochtouren gebracht. Phrasen über Phrasen werden verbreitet, die die Fratze des Kriegs verbergen. Die schönsten, sprich schrägsten, von Militärs und Ex-Militärs beigesteuert, welche die von ihnen angepriesenen „Verteidigungsgüter“ werbefachmännisch wie ein x-beliebiges Produkt auf dem Waren- und Dienstleistungsmarkt bewerben. Oberst a.D. und CDU-Verteidigungsminister in spe Roderich Kiesewetter vergleicht künftige europäische Rüstungsprodukte mit „Pflanzen“, die erst einmal „aufgezogen und gepflegt werden müssen“. Und gleichfalls im Deutschlandfunk schwärmt Ex-General Lothar Domröse von den “ sounds of freedom“, wie man sie während eines Nato-Manövers zu hören bekomme, er meint  das Rasseln von Panzerketten und das Donnern der Kampfjets.

Wissentlich verschwiegen – zumal beim euphorisierenden Kriegsspieleifer – wird die hässliche Seite des Krieges, sprachlich wohl ein Euphemismus für dessen Grauen. „Alle Straßen münden in schwarze Verwesung“, heißt es in Georg Trakls Gedicht „Groddek“. Erschütternd feststellen zu müssen, die Ortschaft Groddek, Schauplatz der nach ihr benannten Schlacht im Ersten Weltkrieg, liegt auf dem Staatsgebiet der heutigen Ukraine. Ob eine dichterische Metapher wie „schwarze Verwesung“ oder die in Wort und Bild (foto- oder filmtechnischem Bild) direkt gezeigte, brutal offengelegte Wirklichkeit des Krieges, beides darf nicht in einem Atemzug, in ein und derselben medialen Performance mit der kriegspropagandistischen bzw. kriegsertüchtigenden Medieninszenierung zum Ausdruck gebracht werden. Dies liefe auf Wehrkraftzersetzung und die Demoralisierung der Öffentlichkeit hinaus, jenes zivilen Publikums, um dessen Zustimmung und gutgläubige Unterstützung man doch buhlt.

Mit einer Miene des Bedauerns konzedieren würden unsere beredten Masters of War gegenüber beharrlichen Bedenkenträgern höchstens, gewiss, Krieg ist Krieg, es kann und wird Verluste geben, auch auf unserer Seite, wo gehobelt wird, da fallen Späne. –  Aber selbst Krieg kenne Regeln und an die halte sich ein demokratisch kontrolliertes Militär. Worauf wir uns allerdings beim jetzigen Feind keineswegs verlassen können. Das von einem autokratischen Herrscher zum Angriff losgeschickte Militär hält sich nicht unbedingt an die Genfer Konvention. Nur wo ihm mit überlegenem Gerät und genügender Menpower entschlossen entgegengetreten werde, verwandeln sich nicht größere Teile davon in eine marodierende Soldateska, die – was in Butscha und anderswo in der Ukraine geschehen – wie zu Zeiten des Dreißigjährigen Kriegs nach Landsknechtmanier mordet, vergewaltigt, plündert und brandschatzt.

Eine kriegsmeisterlich zertifizierte Zusicherung, eine Beteuerung mindestens, der viele schlichtweg glauben. Ob sie derlei Beschwichtigungen auch dann noch glauben, sobald sie sich die Berichte und Bilder aus dem Gaza-Krieg vor Augen halten oder nochmals vergegenwärtigen? Solche Glaubenskraft vermag ich jedenfalls nicht aufzubringen. Die „Israel-Defense-Forces“ (IDF) sind Verteidigungsstreitkräfte eines demokratischen Staats, ihre Soldaten wurden gemäß den Prinzipien eines regelbasierten, „völkerrechtlich eingehegten“ Kriegs an der Waffe ausgebildet. Woran liegt es und wie kann es sein, dass dennoch Einzelne oder ganze Einheiten (juristisch geprüften Augenzeugenberichten und Dokumenten zufolge) bei der Ausübung ihres Kriegshandwerks gegen dessen Regularien eklatant verstoßen? Mithin Kriegsverbrechen begehen, Krankenhäuser bombardieren, beschießen und stürmen etc. Das Argument „asymmetrischer Krieg“ (reguläre, gekennzeichnete Kombattanten treten gegen irreguläre, von Zivilisten nicht klar zu unterscheidende Kämpfer an) wird angeführt, taugt jedoch kaum zu einer vollständigen oder auch bloß annähernden Erklärung. Und kommt für eine Entschuldigung, die es bei derartigen Vergehen ohnehin nicht geben kann, erst recht nicht infrage.

Mag sein, dass unsere Realpolitiker bis hin zu selbsternannten feministischen Realpolitiker*innen sich die Wahrheit über Militär und Krieg nicht zumuten möchten. In der Rolle des intellektuellen Beobachters jedoch mogelt es sich nicht so leicht daran vorbei, es sei denn um den Preis intellektueller Unredlichkeit. Wie wäre es also – statt den bei „zivilisierter Kriegführung“ angeblich vermeidbaren „kriegshandwerklichen Rückfall in die Barbarei“ lediglich machiavellistischen Heerführern und deren Söldnerhaufen zuzutrauen –, sich endlich dahingehend ehrlich zu machen, dass Enthumanisierung und Brutalisierung der DNA von Kriegshandwerk und Militär einprogrammiert sind. Kein kriegerisches Handeln, gleichviel ob Angriff oder Verteidigung, dem der Zivilisationsbruch nicht inhärent wäre, keine militärische Ausbildung, die nicht auf methodische Befähigung und Vorbereitung zu mörderischem Handeln hinausliefe. Und im Zeitalter nuklearer Waffen den kollektiven Selbstmord in Kauf nimmt.

Tödliches Spiel mit unserer Welt, als wäre sie ein Spielzeug

Richten wir das Augenmerk von der Levante, dem Libanon, Palästina und Gaza zurück auf den europäischen Kontinent. Auf das Schlachtfeld Europa, unglaublich und mir selber unheimlich, was für Worte und Sätze sich mit einem Mal innerlich aussprechen und hinschreiben lassen, ohne offenkundige Fiktion, ohne irreal zu sein. Das zur Zeit noch auf das Territorium der Ukraine begrenzte europäische Schlachtfeld werde in wenigen Jahren – abzählbar an den Fingern einer Hand, versichert Nato-Generalsekretär Rutte –  sich zu einem gesamteuropäischen Gefechtsfeld ausweiten. Ja, unsere hartgesottenen Masters of War nehmen gar kein Blatt vor den Mund, es wird Krieg geben, ein auf ganz Europa ausgedehnter Krieg, auf den wir uns in aller Eile vorbereiten müssten. Der Herrscher im Kreml, Ausbund alles Bösen, habe uns und unserer Lebensweise seit langem den Krieg erklärt und ihn an der Donbas-Front seit Jahren begonnen, womit er uns freien Europäern, den fraglos Guten, ebenso den Zivilisationsbruch (meine Vokabel) aufzwingt. Ein damit wechselseitig oder gemeinsam veranstalteter Zivilisationsbruch, der – die Gewinnbarkeit dieses Krieges setzen sie voraus – mit unserem Sieg über den Aggressor enden wird. Mit der garantierten Sicherstellung unserer zukünftigen Freiheit und Sicherheit.

Wie umgehen mit dieser suggestiven Rede, mit einem „Ja und Amen“ antworten? Abermals scheint dies die Antwort oder die Einstellung vieler. Sich ihrem seitens der Kriegsherren einkalkulierten, „eingepreisten“ Untergangsschicksal ergeben, es inmitten der alltäglichen Routine einfach vergessen, aus den Gedanken und schon aus der Welt, wie aus den Augen, aus dem Sinn. Und sich im übrigen an Sankt Florian klammern, möge der Kelch an mir und den meinen vorübergehen und die Rakete oder die Drohne irgendwelche anonymen Nachbarn treffen.

Die Antwort Dylans, die er vor über sechs Jahrzehnten den Masters of War seiner Tage gesanglich litaneihaft obstinat, an den Kopf geschleudert hat, scheint auf alle Fälle kaum noch jemanden zu interessieren, geschweige denn zu einer zeitgenössischen Coverversion zu inspirieren. „Wie Judas zu alter Zeit lügt und betrügt ihr, ein Weltkrieg kann gewonnen werden, wollt ihr mich glauben machen“ –  er hat ihnen nicht geglaubt, ein Weltkrieg kann nicht gewonnen werden, Dylan entlarvt sie als Lügner. Der kulturell hegemoniale Bellizismus der Gegenwart – breit gestreut über die themensetzenden und medienpräsenten Sektoren, Funktionseliten und Milieus – zeigt sich performativ vom Gegenteil überzeugt. Glaubt den bevorstehenden, gewissermaßen komplizenhaft  ins Werk gesetzten Krieg gewinnen zu können, gleichviel ob als europäischen oder als Weltkrieg.  Und so nimmt, scheint es, das Verhängnis seinen Lauf. – Was tun als einzelner auf weiter Flur, der von sich sagt „I am not convinced“. Sie Lügner nennen? Lügen unterstellt eine Intention und das ist anstrengend, folglich handelt es sich bei der großen Mehrzahl um Gutgläubige, wenn man so will „kriegspropagandistische Überzeugungstäter“. Allenfalls könnte ich sie der Unaufrichtigkeit zeihen und ihnen Mangel an „intellektueller Redlichkeit“  vorhalten. Was in anderer Hinsicht wiederum  dem „objektiven Wahnwitz“ ihres Glaubens und ihrer Handlungen nicht gerecht würde und einer Verharmlosung nahe käme. Wie in Anbetracht dieser aussichtslos erscheinenden Lage nicht selber irre werden?

Eine akute „Grenzerfahrung“,  zurückgeworfen auf mich selber

Die ad personam, an mich gerichtete Frage – wie nicht irre werden? – ist nicht rhetorisch gemeint. Ad hominem, in der ersten Person Singular, argumentiert oder spricht jemand, handelt es sich um wesentliche oder existenzielle Belange, nicht ohne Not. Eine persönliche Not. Wie die Determinanten meiner Not kurz umreißen? Ein Behinderter, erblindet, alt, Mitte siebzig; von Grundsicherung lebend; „sozial tot“, sozialpsychologisch gesprochen; wenige „parasoziale“ Kontakte, per Telefon und Email, an zwei Händen abzählbar; intellektuelle Gesprächspartner keine. Auf meine Kolumnen zum Krieg in Europa bei den kobinet-nachrichten (die einzige mir verbliebene Publikationsmöglichkeit) so gut wie keine Reaktion aus der Community. Aus dem Radio und über das Internet in Nachrichten-Timeline und Talkrunden ein gespenstisch die neue Normalität des Kriegs und der Kriegsvorbereitung wiederholender Stimmenkanon. – In etwa entlang dieser Koordinaten verläuft meine soziale Isolationshaft. Und in ihr radikal auf mich selber zurückgeworfen, durchlebe ich offenbar, was der Psychiater und Philosoph Karl Jaspers mit dem Wort „existenzielle Grenzerfahrung“ zu fassen versuchte. Sie trifft jeweils Einzelne und erschüttert ihre individuelle Existenz mit einer Heftigkeit, aus der sie allein der Sprung auf eine höhere Ebene, Metaebene, auf eine Stufe der „Transzendenz“ zu retten vermag. Weil kaum anderes sie in ihrer Lage davor bewahren dürfte, irre oder verrückt zu werden, depressiv, psychotisch oder suizidal.

Bob Dylan hat in den „Masters of War“ für den militärischen Irrsinn wie er dieser Tage erneut zur verteidigungspolitischen Notwendigkeit erklärt wird, ein so schlichtes wie treffendes Bild: Ihr spielt mit meiner Welt, als wäre sie euer „little toy“. Unsere Welt und damit das Leben von uns allen ein Spielzeug in der Hand von Militärs und Politikern, die bei ihrem frivolen Spiel mit der Welt erklärtermaßen „all in gehen“, wie es in der Pokersprache heißt. Kindern erlaubt man ihr Spielzeug, wenn ihnen danach ist, kaputt zu machen, es auch zu zerstören, schließlich sind es Kinder. Die jedoch hier und heute vor den Augen und Ohren aller mit unserer Welt spielen, als wäre sie ihr „little toy“, dessen Zerstörung ihnen anheim gestellt ist, sind Erwachsene! – Die spontane Reaktion, die man unter „normalen Umständen“ erwarten würde, „Unzurechnungsfähige, auf infantile Stufe Regredierte sind am Werk“, vulgo Verrückte, Wahnsinnige. Wie aber, wenn alle um dich her tun als wäre nichts, politisch, sondern Business as usual wie sonst auch und wie Somnambule ihren Alltagstrott weitermachen. Wie hält ein isolierter Einzelner das aus im Kopf?

Und wie lange. Bislang haben mir vereinzelte Stimmen geholfen, die wie Rufer in der Wüste noch nicht gänzlich aus den Medien verschwunden sind. Zu der verschwindend geringen Zahl derjenigen, die in den Mainstream-Medien dem penetranten Stimmenchor widersprechen, der unisono Waffenlieferungen und Aufrüstung befürwortet und militärische Landesverteidigung, also im Ernstfall Krieg, für ein probates Mittel erachtet, um „Sicherheit und Freiheit“ zu verteidigen, gehört der Sozialwissenschaftler und Konfliktforscher Axel Hacke. Der Tenor unserer hiesigen Debatte zur Ukraine-Unterstützung erinnere ihn inzwischen an die Durchhalteparolen und das verzweifelte Sich-Klammern an die kriegsentscheidende Wirksamkeit von Wunderwaffen auf deutscher Seite gegen Ende eines anderen großen Krieges. Bei den Worten des achtzigjährigen Axel Hacke spüre ich ein Aufatmen in mir, mein Realitätssinn scheint mir also doch nicht abhanden gekommen, ich fange nicht an zu spinnen, meine Wahrnehmung ist intakt und ich übertreibe demnach auch nicht. Wenn von Realitätsverkennung, von einer ans Pathologische grenzenden Wirklicheitsverleugnung und Gefahrenverdrängung gesprochen werden muss, so liegt dieselbe hier bei den alles übertönenden Wortführern eines militärisch und politisch vermeintlich gesunden Menschenverstands und einer ihm hörigen „normopathischen“ Mehrheitsgesellschaft. Welcher selbst nach drei Jahren Krieg und Waffenlieferungen – und angesichts der unerträglichen Tatsache, dass lediglich „die Zahl der Todesopfer steigt“ auf beiden Seiten und „das Blut junger Menschen aus ihren Körpern fließt und im Schlamm versickert“, so noch einmal Bob Dylan – nichts besseres einfällt, als nach noch mehr Waffen und Munition zu rufen.

Besonders Vulnerable und das bedrückende Schweigen ihrer Repräsentanten

Sicher gibt es mit Blick auf Kriegsszenarien verschiedene Kategorien von besonders Vulnerablen, so sehr ich es auch als schwer erträglich empfinde, in Anbetracht der tödlichen Indifferenz moderner Massenvernichtungswaffen unter den Opfern nach „unterschiedlich Vulnerablen“ zu differenzieren. Ich komme in diesem Zusammenhang auch deshalb auf die ganz besonders gefährdete Gruppe der Behinderten zu sprechen, weil sie in der Zeit des Nationalsozialismus und unter dessen Herrschaft während des Zweiten Weltkriegs einer „Sonderbehandlung“ unterzogen wurden, die Nazis Menschenversuche an ihnen vornahmen, von deren Ergebnissen sie sich zum Teil „kriegsverwertbare Erkenntnisse“ versprachen. An dieses grausige Kapitel muss ich denken, seitdem ich kürzlich den Experten Andrew Denison von der Denkfabrik „Transatlantic Networks“ im Deutschlandfunk sagen hörte: Möge der mittlerweile drei Jahre andauernde Krieg in der Ukraine auch für beide Kriegsparteien hinsichtlich Sieg oder Niederlage am Ende ergebnislos verlaufen, so habe er für die künftige Kriegsstrategie und vor allem für an kriegstechnischer KI-Entwicklung interessierte Militärexperten dennoch schon jetzt Daten von unschätzbarem Wert geliefert. Mit andern Worten, man hat die russischen und die ukrainischen Soldaten, nicht nur als „Kanonenfutter“ benutzt, den führenden Militärs und den Entwicklern von Kriegstechnologie haben sie zudem als „Versuchskaninchen“ gedient.

Jene unentbehrlichen Daten, die zu Friedenszeiten noch so realistische, „wirklichkeitsgetreue“ Kriegssimulation durch Manöver und Übung den Kriegsherren für ihre aufregenden technologischen Innovationen nicht zu liefern imstande ist, liefert ihnen lebendiges Experimentieren am soldatischen Versuchsmaterial im bereits laufenden Krieg. Die dadurch erzielten kriegstechnischen Quantensprünge versetzen Militärs und Kriegsentwickler in euphorische Zustände. Was also die Masters of War mit ihrem soldatischen Menschenversuch machen, wäre somit kein Geheimnis, eine informierte Öffentlichkeit kann sich nicht damit entschuldigen, sie wisse von nichts. – Was umgekehrt der Menschenversuch mit seinen Opfern macht, dem „menschlichen Versuchsmaterial“, darüber konnte man unlängst erschreckend Anschauliches in der Deutschlandfunk-Sendung „Wissenschaft im Brennpunkt“ erfahren. „Nerventerror, wie der Drohnenkrieg in die Ohren kriecht“ berichtet von bewaffneten Drohnenschwärmen, die wahllos militärische Verbände und zivile Menschenansammlungen akustisch terrorisieren, bevor sie tödlich zuschlagen. Die Überlebenden leiden an brutalen Langzeitfolgen, der Soundterror dringt ihnen ins Ohr, um sie nie mehr zu verlassen. Unter Soldaten und Zivilisten hinterlässt der Drohnenkrieg massenhaft körperliche und seelische Wracks.

Ein den Drohnenkrieg in der Ukraine beobachtender Oberst des österreichischen Heeres im Originalton: „Die ukrainische Armeeführung hat vor nicht allzu langer Zeit ein Video veröffentlicht,  wo sie kurz geschnitten hundert Sequenzen sehen, wie russische Soldaten sich umbringen. Alles gefilmt von Drohnen, ich betone das deswegen, weil sie Angst haben von der Drohne getroffen zu werden und nicht mehr in der Lage zu sein, den Übergang vom Leben zum Tod in der Hand zu haben. Darum versuchen sie sich umzubringen, so verzweifelt sind sie…“ Das russische Militär rächt sich, indem es  mit Drohnen Jagd auf Menschen in den Straßen von Cherson und Charkiw  macht. – Was der drohnenterroristische Menschenversuch mit den unfreiwilligen Probanden macht, fasst ein französischer Beobachter im Feature folgendermaßen zusammen: „Ob nun Soldaten oder Zivilisten, der Drohnenkrieg bringt sie alle in eine nur schwer erträgliche Lage. Drohnen terrorisieren und lähmen ganze Bevölkerungen. Neben den Toten, den Verletzten, der Zerstörung, der Wut und der Trauer ist genau das der Effekt, permanente tödliche Überwachung. In der Tat eine Art geistiges Gefängnis, das nicht aus Mauern oder Gitterstäben besteht, sondern aus endlos kreisenden fliegenden Wachtürmen.“

Ausgenommen vom laufenden Menschenversuch, ein überraschendes Rettungswunder

Ob nun kriegstechnisch relevante Menschenversuche an Soldaten auf dem Gefechtsfeld oder dem gleichen Zweck dienende Menschenversuche an Behinderten in sogenannten Anstalten – bedrückend das Schweigen der Gesellschaft über den „Menschenversuch Krieg“ und noch bedrückender für mich das Schweigen in der Behinderten-Community  ebenfalls darüber, wie insgesamt zum gegenwärtigen Krieg in Europa. Und dabei geht meine Rede und führe ich Klage nicht über etwas Entsetzliches, dem Gott sei Dank in diesem Augenblick Einhalt geboten wird. Bedauerlicherweise nein, der Feldversuch ist nach wie vor im Gange und droht im Gegenteil ausgeweitet zu werden. – Wie geht es mir nach diesem Fazit meiner Reflexionen? Angeregt durch meine Wunschfantasie, es möge doch noch jemand unseren Masters of War ins Wort fallen. Wenigstens dies, wenn schon keine Aussicht besteht, dass ihnen welche in den Arm fallen, um ihrem aberwitzigen Tun Einhalt zu gebieten. Gut geht es mir nicht, das anfängliche Gefühl vergeblichen Bemühens hat mich nicht verlassen, auch das Gefühl der Ratlosigkeit nicht.

Geblieben ist allerdings ein kleine Lust zum Sarkasmus an Stellen, wo es der reale Aberwitz gar zu arg treibt. Die Seele wehrt sich, so gesehen ein gesunder reaktiver Impuls. Könnte es sein, dass so, wie die von Mal zu Mal raffinierteren kriegstechnischen Erfindungen und Klügeleien der Masters of War mein Vorstellungs- und Fassungsvermögen übersteigen, ich am Ende auch ihre moralische Raffinesse oder Spitzfindigkeit unterschätze. Vor Jahrzehnten zu einer weltpolitisch ähnlich bedrohlichen Zeit, gab es den Spruch – eine Eselei eigentlich –, „Stell dir vor, es ist ist Krieg und keiner geht hin“. Richtig hätte es schon damals heißen müssen: Stellt euch vor, es ist Krieg und niemand kann vor ihm weglaufen.

Also stelle ich mir vor, es ist soweit, der Krieg ist da, sein flächendeckender Menschenversuch, vor dem es kein Entrinnen gibt. Nirgends. Der Krieg ist da und er ist überall, am Boden und in der Luft, auf dem Land, in der Stadt. Niemand läuft weg, alle laufen durcheinander. Zivilisten und Kombattanten, Kinder und Alte, Blinde mit Blindenstock, chronisch Kranke im Rollstuhl. Drohnenalarm, doch zu spät, sinnlos, wie der der Überschallraketen, so kennt auch der Drohnenangriff praktisch keine Vorwarnzeit, von einer Minute auf die andere ist die Hölle los. Darum läuft niemand weg, mitten im Inferno, alle laufen durcheinander, kopflos, kreuz und quer. Aber die Drohnen sind da und sie sind überall und sie verfolgen alle überall hin. Die Blinden sehen die Drohnen nicht, aber sie hören sie, die Akustik ist unverwechselbar, das anschwellende, sich nähernde Geräusch. Und bei allem Horror geht es demokratisch zu, niemand weiß, wann er oder sie an der Reihe ist, wann die verfolgende Drohne sich auf das Opfer stürzt und seinen Körper in Stücke reißt. Sicher ist nur, niemand entkommt.

Dann jedoch geschieht ein Wunder. Völlig unerwartet verhalten sich einige der Drohnen wählerisch und die Auserwählten dieses unvorhersehbaren Wunders sind – die Blinden und die mit Rollstuhl. Ausnahmslos alle werden von den Drohnen zerfetzt, Zivilisten und Kombattanten, Junge und Alte, nur die Behinderten nicht. – Wer hat es vermocht, ein solches Wunder zu wirken, was ist des Rätsels Lösung? Die Antwort ist verblüffend einfach. Die neue elektronische Patientenakte der durch das Wunder Begünstigten enthielt das verschlüsselte Datum „behindert“. Die Daten der Akte liegen dank korrekter Amtshilfe der Drohnen-Leitstelle vor, mit dem Vermerk „Behinderte verschonen“. Und hinter dieser wundersamen Ausnahmeregelung verbringt sich keine andere Instanz als die „Masters of War“, sprich die obersten Militärs und ihre Kriegstechnologie-Entwickler. In einer Presseerklärung lassen sie verlauten: „Wir betrachten es nicht nur als ein humanitäres Anliegen, sondern als unsere moralische Pflicht und Schuldigkeit, die Behinderten aus der Liste der kriegsrelevanten Ziele von Drohnenangriffen zu streichen. Sie stellen eine Kategorie menschlicher Ziele dar, die bereits in der Vergangenheit bei ähnlichen Menschenversuchen ihr Soll erfüllt hat. Darum sind ihre Angehörigen vom derzeit laufenden flächendeckenden Menschenversuch auszunehmen. Eine andere Entscheidung lässt unser menschliches und militärisches Gewissen einfach nicht zu!“

Zugeeignet meinen Studienzeitfreunden Birgit Steuer und Rainer Burgey sowie der Friedensaktivistin Ute Finckh-Krämer (Bundestagsabgeordnete der SPD von 2013-2017), die meine Antikriegs-Kolumnen auf blue sky gepostet hat.