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Literaturbeilage: An allen Tagen ein kalter Ostwind – Kriegstagebuch und Memento Mori (Teil I)

Hans-Willi Weis schaut über den Bodensee
Hans-Wili Weis, geb.1951, Tagebuch Feb./März 2022
Foto: Hans-Willi Weis

Staufen (kobinet)

Cafe Creme

Die schlimme Nachricht von meiner Schwester kam vor zwei Wochen. Die ersten der schrecklichen Nachrichten aus dem Radio, die seit dem Morgen des 24. Februar nicht abreißen, liegen zwei Wochen zurück. Endzeitstimmung macht sich breit, innen ein Gefühl der Enge, wie zusammengedrückt. – Der See schimmert türkis, sagt Silvia, wenn du das sehen könntest. Was für ein Blick von hier oben, ich versuche es mir vorzustellen, den See dort unten, die Farbe und wie man von hier oben, der Ferienwohnung in Hanglage, auf die spiegelnde Fläche schaut, durchs Fenster oder draußen von der Terrasse aus, auf der es trotz strahlendem Sonnenschein noch empfindlich kalt ist. Etwas später ist es dann ein Blau, bei dem sich auch mit der Akzentuierung azur blau, ultramarin blau, keine Farbvorstellung in mir einstellt. Ich genieße statt dessen die Stille, sogar tagsüber kaum ein Geräusch. Eine ruhige Ecke hier, sagt Silvia, nachdem Petra und sie die Nachbarschaft bis ans nahe Seeufer erkundet haben. Für mich ist die ganze Zeit über drinnen zu sein ein wenig wie in einem Schuhkarton, ein geräumiges Behältnis, wo mich die Welt in Frieden lässt, eigentlich ein angenehmes Gefühl.

Gleich am ersten Nachmittag indes, Silvia und Petra haben vormittags im Tante Emma Laden in Öhningen das Nötigste eingekauft, darf ich die Schuhschachtel verlassen und mit ihnen auf dem Uferweg die drei Kilometer bis zur Schweizer Grenze pilgern und von da noch einmal das Stück bis hinein nach Stein am Rhein. Und da an diesem Rosenmontag, dem 28. Februar, so schönes Wetter ist und bei den freiheitsliebenden Eidgenossen sämtliche Coronabeschränkungen gefallen sind, freue ich mich schon unterwegs auf einen sonnigen Platz in einem Cafe an der dortigen Uferpromenade. Doch wird mein hoffnungslos veraltetes Erinnerungskonzept von einem verführerisch duftenden Schweizer Cafe Creme, wie es mir die ganze Strecke über in freudiger Erwartung vorgeschwebt ist, aufs Übelste enttäuscht. Selten fühlte ich mich durch ein aus der Zeit gefallenes Mind Set, für das man als Schuhschachtelbewohner natürlich besonders anfällig sein dürfte, derart in die Irre geführt. Allen Ernstes war ich dem Irrglauben anheimgefallen, die Kellnerin serviere mir auf meine unmissverständliche Bestellung hin eine schneeweiße Porzellantasse samt Untertasse und zierlichem Silberlöffel, aus welcher mir das köstliche Aroma des aus gebrannter Bohne fachgerecht zubereiteten Stimulanzium namens Kaffee entgegen duftet.

Tatsächlich wird mir in einem grob geriffelten Wasserglas eine lauwarme Brühe mit der olfaktorischen Anmutungsqualität von Spülwasser vorgesetzt. Daneben ertaste ich mit den Fingern der rechten Hand einen blechernen Teelöffel, der einem Werkskantinenbesteck entnommen sein könnte. Kurz und gut, was da vor mir auf dem Tisch stand und einzig geeignet war, mein Riechorgan zu beleidigen, vom Geschmackssinn ganz zu schweigen, bedeutete für mich das Ende der Eidgenossenschaft wie ich sie kannte, jedenfalls auf dem Feld der Gastronomie. Wie weit dies der pandemischen Zeitenwende geschuldet ist, übersteigt mein Urteilsvermögen, mag mich auch diesmal wieder das Gefühl beschleichen, alle Welt hat sich gegen den Kleinen Mann verschworen oder sollte ich unsereinen in seinem Schuhkarton sagen. Oder wenn nicht alle Welt, so doch die üblichen Weltverschwörungsverdächtigen, die aus dem Silicon Valley mit ihrem Digitalschrott, Bill Gates und die WHO sowieso. – „Ganz a schäne Obend“, wünscht uns die schwyzerdütschelnde Bedienung, als wir uns zum Gehen anschicken. Und ein schöner Abend wurde es auch, erst einmal wieder zurück in meiner Schachtel, nachdem mir noch auf dem Rückweg trotz winterlichem Schuhzeug die Zehen froren und der kalte Ostwind unverschämt ins Gesicht blies.

Gedanklich beschäftigt mich, so viel Endlichkeitserfahrung wie dieser Tage war nie, persönlich und politisch. Das Ende der Eidgenossenschaft wie ich sie gastronomisch kenne, ist in diesem Zusammenhang fraglos das kleinere Übel. Zumal die prägenden Erfahrungen in diesem Fall Jahrzehnte zurückliegen und gar nicht anders denn überholt sein können, aus der Zeit gefallen. Die frühen neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts sind es, die maßgeblich meine Geschmacksbildung bezüglich Schweizer Kaffee und Schweizer Schokolade geprägt haben, vor allem auf Bahnfahrten im Dreiländereck. Katrin wohnte damals in Lörrach und arbeitete in der nahegelegenen Klinik für Suchtkranke, Coffeinsucht gehörte meines Wissens nicht zur Palette der dort für behandlungsbedürftig befundenen Süchte, womit ich nicht sagen möchte, dass das Maß meines Kaffeekonsums auch nur entfernt an klinisch signifikantes Suchtverhalten herangereicht hätte. Von Lörrach nach Basel ist ein Katzensprung, das Grün der Basler Tram hat sich anders als jenes Blau oder Türkis des Bodensees als lebendiger Farbeindruck in mir erhalten. Eine Nachhaltigkeit in den Synapsen, die sich möglicherweise nichts anderem als einem zeitgleich vor Ort genossenen Kaffee von erstklassiger Güte verdankt.

Fuhr Katrin Montag früh zur Arbeit in die Klinik, setzte sie mich am Lörracher Bahnhof ab, von wo aus mich die Regionalbahn zum Badischen Bahnhof brachte, einer Enklave der deutschen Bundesbahn auf eidgenössischem Hoheitsgebiet. Dort hatte ich bis zum Anschluss nach Freiburg, ein D-Zug oder Intercity aus Mailand oder von noch weiter südlich, aus bereits von der Mafia kontrollierten Regionen, einen längeren Aufenthalt. Das bot mir Gelegenheit für einen Besuch in dem cremefarbenen Pavillon auf dem Bahnsteig zwischen den Gleisen 3 oder 4 oder sind es die Gleise 5 und 6 gewesen, mein Gott, ist das lange her. Der Pavillon oder die Box nahm beinahe die gesamte Breite des Bahnsteigs ein, ein Kunststoff-Container, von den gerundeten Kanten abgesehen, nicht unähnlich einem leicht gedrungenen oder auch zu flach geratenen Schuhkarton. Drinnen servierte der eidgenössische Pächter dem Gast auf Wunsch einen tadellosen Cafe Creme, alteidgenössischer Service at its best. Auch kleinere Mahlzeiten konnten man bestellen, mir tat es die Tasse Kaffee. Konzentriert, Schluck für Schluck, schlürfe ich die cremige Köstlichkeit und paffe dazu ein Zigarillo, eigentlich zwei, Brasil das eine, Marke Meharis in der giftgrünen Schachtel, das andere Sumatra, Marke Bidis, die Schachtel taubenblau wie blauer Dunst. Nachdem ich mich mit selbigem eingeräuchert habe und die Lokalität gleich noch dazu, Zigarren- oder Zigarillo-Aficionados schließlich alles gestattet zu der guten alten Zeit, zahle ich und begebe mich wieder hinaus auf den Bahnsteig, wo die Lautsprecherdurchsage auch schon meine Anschlussverbindung nach Freiburg ankündigt. Obgleich auf diesem Streckenabschnitt fast alle Abteile leer sind, stelle ich lediglich meine Tasche auf einen der Abteilsitze, auf dem Gang im Stehen schaut es sich leichter aus dem Fenster und man kann es auch mal nach unten schieben und den Kopf nach draußen in den Fahrtwind strecken, was heutzutage alles nicht mehr geht. Außerdem steige ich beim nächsten Halt schon wieder aus.

Stopp, mir geht was durcheinander in der Erinnerung.Was ich gerade erzählen will, passt zwar zur Fahrtrichtung, nur muss ich früher zugestiegen sein, Schweizer Bahnhof bereits, wir befinden uns auf dem kurzen Teilstück von hier zum Badischen Bahnhof als nächstem Halt, genau. Ich stehe also vor dem leeren Abteil auf dem schmalen Gang, außer mir keine weiteren Fahrgäste, draußen zieht die Landschaft vorüber, Schweizer Grenzgebiet. Die Durchgangstür fliegt auf, Zoll- und Passkontrolle, forschen Schritts, kurzer Blick in die leeren Abteile, nähern sich zwei Uniformierte, Schweizer Grenzbeamte. In vorauseilendem Gehorsam strecke ich dem ersten der beiden meinen bundesdeutschen Personalausweis entgegen und erwecke dadurch möglicherweise den Anschein, ich wolle einem gewissen Verdacht gleich den Wind aus den Segeln nehmen, dem nämlich, mein in ihren Augen leicht mafiöses Aussehen lasse auf einen ziemlich weit südlich Zugestiegenen schließen, weshalb ich gleichfalls unaufgefordert sage, dass ich eben erst, Schweizer Bahnhof, eingestiegen bin und Badischer Bahnhof schon wieder aussteige, um von dort mit der Regionalbahn weiter nach Lörrach zu fahren. Badischer Bahnhof, knurrt der Grenzer in seinen Bart, schaut in meinen Ausweis und sagt, den hätten die alliierten Bomber anno 45 leider vergessen platt zu machen. Wortlos reicht er mir meinen soliden, mausgrauen deutschen Personalausweis und geht weiter. Gefolgt von seinem Kollegen, der mit breitem Grinsen im Gesicht Mühe hat, seine schiere Körpermasse in dem engen Schlauch ohne allzu aufdringlichen Körperkontakt an mir vorbei zu quetschen. – Die Bemerkung zum Badischen Bahnhof verstehe ich bis heute nicht, vielleicht hatte ihn die Frau verlassen, war mit einem Mafiosi durchgebrannt, weiß der Kuckuck. Andererseits, sage ich mir jetzt, war das eine vergleichsweise zivilisierte Form von Aggressionsabfuhr, zwischenmenschlich harmlos und politisch sowieso, was bleibt dem frustrierten Kleinen Mann, meinetwegen auch der frustrierten Kleinen Frau, zu nimmer enden wollenden Friedenszeiten anderes, ihren angestauten Frust abzureagieren, als Bestrafungs- und Vernichtungsphantasien zeitgeschichtlich prähistorischer Provenienz zu bemühen, zumal 89, nicht einmal eine handvoll Jahre her, gerade frisch das Ende der Geschichte angebrochen ist und mithin nichts mehr zu erwarten ist, nichts mehr kommen wird außer Friede, Freude, Eierkuchen und vor allen Dingen jeder seines Glückes Schmied.

Mir fällt eine andere Bemerkung ein, von Agnes. Ihr, die wie ich Soziologie studiert hatte und seither ähnlich verloren zwischen offiziellem Arbeitsmarkt und freien Projektinitiativen vagabundierte, gefiel diese Melange aus Bistro und Agora, die 1995 oder 96 zuerst in Paris, unter dem Leitmotiv „ein Cafe für Sokrates“, von sich reden machte. Das Philosophische Cafe einmal die Woche im Cafe Vivaldi in der Freiburger Wiehre nach dem Muster der französischen Debattierclubs – was ist Glück, was heißt Gerechtigkeit, ein gutes Leben etc. – war eine Idee von ihr, der ich mich gerne anschloss, weil ich wie sie in Freiburg auf der Suche nach Leuten war, mit denen man sich vernünftig über Gott und die Welt und auch über Politik unterhalten kann, nicht sektiererisch abgedriftet oder esoterisch verquast.

Bei einem unserer Vorbereitungstreffen kam diese Bemerkung von ihr, an die ich denken muss. Als die Tagesschau gestern die Bilder von dem Nato-Luftangriff auf Belgrad gezeigt habe und zu sehen gewesen sei, wie an dem Ministeriumsgebäude die Fensterscheiben geborsten sind und Flammen aus den Öffnungen schlagen, das habe sie richtig gefreut, das zu sehen habe ihr gut getan. Dies sei ja wohl die einzige Sprache, die Milosovic und seine Schergen verstehen und die Kosovaren vor dem Völkermord bewahrt, Joschka Fischers Auschwitz, das sich nicht wiederholen dürfe. Mir war unbehaglich zumute bei dieser freimütig geäußerten Genugtuung, mochte dies aber meinerseits nicht äußern, womit ich es vorgezogen habe, mich sozusagen auszuschweigen über ein Thema, fällt mir heute auf, das sich, was mir damals offenbar überhaupt nicht in den Sinn gekommen ist, wunderbar für ein munteres Palaver im philosophischen Cafe angeboten hätte, wenn schon nicht für ein unbefangenes Gespräch zwischen uns beiden. Neben den seelischen Abgründen, die sich mit dieser Art Genugtuung oder schlicht gesagt Schadenfreude auftun, denke ich natürlich speziell fürs philosophische Cafe an die politischen und philosophischen Implikationen und Untiefen ihrer Bemerkung.

Bemerkenswert gut schmeckt der Kaffee, den Petra philosophisch unprätentiös mit Hilfe der an Schlichtheit nicht zu überbietenden Aufgussvorrichtung der Ferienwohnung, von wegen Preis-Leistungsverhältnis, dennoch auf den Tisch und in unsere Tassen zaubert. Seit der Ankunft am Sonntag warten wir von einem Tag zum anderen, dass es endlich wärmer wird, die Außentemperatur allmählich steigt, Silvia nicht sofort die Terrassentür schließen muss, weil es mich schon wieder friert. Dass auch ich einmal den Fuß vor die Schachtel setzen, einen Schritt auf die Terrasse tun kann, in die Sonne, in die Wärme draußen, die eine andere ist als die Wärme drinnen, in der Schachtel. Aber der konstant kalte Ostwind macht den Schachtelbewohnern von Tag zu Tag einen Strich durch die Rechnung, die tägliche Wettervorhersage bleibt stur, unverändert Minusgrade in der Nacht. Also weiter warten und hoffen auf bessere Temperaturen, auf bessere Zeiten, die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt und oft genug erweist es sich von Vorteil, das Ende einer Geschichte nicht zu kennen, auch nicht das Ende einer Zeitenwende, sonst schmeckt einem nicht einmal mehr die Tasse Kaffee, mag sie mit noch so vorsintflutlichem Gerät noch so gut zubereitet sein.

Heldenhafte Krüppel

Wie schätze ich, wie schätzen andere, Sehende, meine Ansprüche ein, meine Wünsche, im Zustand des Erblindetseins, bin ich ein bescheidener, genügsamer Mensch? Woran ließe sich bei mir so eine Charaktereigenschaft festmachen? An räumlicher Bescheidenheit, Genügsamkeit an ortsbezogener Bewegungsfreiheit, Spielraum im wörtlichen Sinne, daran, nach wie wenigen Schritten für einen Blinden bereits häuslich der gefahrlos begehbare Raum endet? Von der zeitlichen Endlichkeit ist, was leicht vergessen wird, die räumliche zu unterscheiden, die je nachdem nicht minder empfindlich oder schmerzhaft ins Bewusstsein tritt. Ein unsanfter Stoß an der Tischkante, der Prall gegen eine geschlossene Zimmertür, ein Sturz die Treppenstufen hinab, wie das eine Mal bei der gefliesten Kellertreppe in der Wohnung meiner Schwester und des Schwagers, wo es von der großzügigen Wohnküche aus, ohne Tür oder Schranke, plötzlich nach unten geht, in die Tiefe. Für den Blinden, der einen falschen Schritt tut, ist die Welt auf einmal wieder eine Scheibe, an deren Rand er in den Abgrund stürzt.

In meiner Ferienwohnungsschachtel bin ich freilich einigermaßen sicher und die abgründigsten Abgründe klaffen zur Zeit auch nicht am Rand der Welt, die keine Scheibe ist, sondern mittendrin und da sind nicht nur Blinde gefährdet, nein, es herrscht Inklusion, in einen solchen Abgrund stürzen alle. Da brächte auch das Schachtelformat keinen Vorteil, den es an sich für Blinde hat – Länge, Breite, Höhe, nur geradlinige Kanten und rechte Winkel. Und auch nur das nötigste Mobiliar, wenn es sich um ein Ferienwohnungszimmer handelt, Bett und Schrank, zwischen beiden optimalerweise so viel Platz, dass ich meine Yogaübungen machen kann, mich der Länge nach ausstrecken. Das Zimmer hier hat überflüssigerweise zwei Betten in Längsrichtung, also Einzelbetten, die Matratze des zweiten haben Petra und Silvia ins Wohnzimmer geschleppt, denn sie schläft dort und überlässt Silvia das Doppelbett im eigentlichen Schlafzimmer, so haben wir alle drei Teil am Raumkomfort der offenbar für Großfamilien ausgelegten Ferienwohnung, kein Schnarchen, kein frühes Aufwachen und aus dem Bettsteigen stört den seligen Schlummer der oder des anderen.

Wobei für mich die Räumlichkeiten beinahe schon wieder zu weitläufig sind, aus meinem Schachtelabteil geht es linker Hand den Flur entlang durch eine Tür um die Ecke bis zur Schmalseite des Küchentischs und um dessen linke Eckkante herum zum für mich reservierten Stuhl. Rechter Hand aus meiner Zimmertür, immer schön mit den Fingerspitzen an der Wand, den Flur hinunter an der verschlossenen Tür vorüber und anschließend dem Spiegel und dann noch mit leichter Seitendrehung um einen Mauervorsprung bis zur Badezimmertür, Vorsicht Stufe nach unten beim Türöffnen. Das Badezimmer hat sich als Glücksfall erwiesen mit seiner XXL-Größe lohnt es dem Blinden ein ums andere Mal den langen Anweg. Trotzdem ist für ihn auch an diesem Ort höchste Vorsicht geboten, bloß nicht reflexhaft und also ungesichert nach vorne beugen und mit der Stirn auf den Waschbeckenrand knallen, das ist es nicht wert, auf dem Boden nach dem Kamm zu suchen, dann lieber ungekämmt an den Frühstückstisch.

Gefahren lauern für einen Blinden überall, auf Schritt und Tritt, wovon sich Sehende gar keine Vorstellung machen. Noch in einem Refugium wie diesem empfiehlt es sich für jemanden wie mich, unbegleitet nur die nötigsten Orte aufzusuchen, meinen festen Platz am Küchentisch, das Bad mit der Toilette, auf die ich von der Tür aus mit den Fingern an der linken Wand geradeaus zulaufe, dem breiten Waschbecken rechts davon und im Anschluss daran die barrierefreie Großraumdusche. Endlich mein hauptsächlicher, mir allein vorbehaltener Aufenthaltsort, das Zimmer mit dem Freiraum zwischen Bett und Schrank, diesem anderthalb mal zwei Meter großen Rechteck. Für mich der gefühlt sicherste Ort, liege ich dort auf dem Teppich und höre Radio oder eine Buch-CD auf dem Daisy-Player, diesem haptisch plumpen Abspielgerät für Hörbücher aus der Blindenbibliothek. Kein geschützterer Ort für Blinde in dieser Welt, in dieser Zeit, es müsste schon eine Bombe oder eine Rakete einschlagen.

Eine der ersten Handlungen, mich in einer Ferienwohnung oder einem Pensionszimmer zu installieren, für meine Verhältnisse wohnlich einzurichten, besteht immer darin, die Wand oberhalb der Fußleiste oder auf Höhe der Bettlade abzutasten und eine Steckdose in Bettnähe ausfindig zu machen für den Netzanschluss meines Transistorradios und den des CD-Abspielgeräts. Das Radio möglichst auf den Nachttisch, damit ich vom Bett aus nur den Arm ausstrecken muss, wenn ich das Hebelchen bedienen möchte, um ein- oder auszuschalten. – „Daisy“ steht übrigens für „digital accessible information system“, es erlaubt den Benutzern im Hörbuch zu navigieren, zwischen den Kapiteln hin- und herzuspringen, Lesezeichen zu setzen etc. Nicht alles, was sich in letzter Instanz den Tech-Freaks (freak bedeutet ursprünglich Monster, Ungeheuer) aus dem Silicon Valley verdankt, läuft auf Digitalschrott hinaus, auch das eine oder andere Nützliche ist darunter, von dem wir Blinde und Sehbehinderte profitieren.

Mit digitalem Lesezeichen markiert habe ich in dem Hörbuch, das ich mir an den kalten Ostwindtagen auf dem Bettvorleger als erstes anhöre, diese Stelle: „Vermutlich ist es das letzte Mal. Ins Bett und aus dem Bett kommen ist hier zu schwierig geworden. Ich kann nicht sagen, ob ich schwächer geworden bin oder ob das Hotel eine neue Matratze angeschafft hat, die es für mich so schwierig macht, mich darauf zu bewegen. Was noch ein Jahr zuvor klappte, klappt nicht mehr. Ich denke an all die Leute, die einfach aus dem Bett springen können.“ – Hier spricht einer, der sich nicht wie ich gerade am Boden auf dem Teppich räkelt, auf dem Läufer vor seiner Bettstatt, der es vielmehr nur mit Mühe, noch einmal ohne fremde Hilfe, auf die Matratze geschafft hat und dem es schwerfällt, sich darauf zu bewegen. Geschweige denn, dass er flugs aus dem Bett springen könnte, wie ich es kann, sofern ich mir sicher bin, auf dem freigelassenen Rechteck davor zu landen und nicht gegen ein angrenzendes Möbel zu prallen oder mir bei einem flotten Armschwung die Hand an einer zu nahen Kante zu zerschmettern. Dem eben dies nicht passieren kann, weil er nicht erblindet ist und dem Möbel oder der Kante ausweichen könnte, aber dennoch nicht aus dem Bett zu springen vermag, den hindert seine Spinale Muskelatrophie daran, es zu können und zu tun. Und er beschreibt an dieser Stelle eine fortdauernde und fortschreitende, „progressive“, Endlichkeitserfahrung, was ihm gestern an relativer, bereits eingeschränkter Beweglichkeit noch möglich gewesen ist, geht heute nicht mehr, ist ein für alle Mal zu Ende. Eine Endlichkeitserfahrung „scheibchenweise“, wie ich sie seit langem hinter mir habe, dieses peu a peu immer weniger sehen, mich infolge dessen „schubweise“ weniger frei, spontan, sicher, ungefährdet bewegen zu können, gleichgültig an welchem Ort. Mit der anhaltend schmerzlichen Endlichkeitserfahrung „in Etappen“, wie sie der an spinaler Muskelatrophie leidende Autor schildert, war ich bereits vor Jahren durch, ich war blind, punktum, so blind, wie ein Stockfisch stumm ist. Ich weiß allerdings nicht, Vergleiche hinken, ob Christoph Keller, wenn seine äußere Motorik, seine selbständige Körpermobilität, irgendwann ganz zum Erliegen gekommen sein wird, ein ähnliches Gefühl der Erleichterung verspüren wird, wie ich es nach Eintritt der definitiven Erblindung gespürt habe. So dass mittlerweile, liege ich vor einer Bettstatt ausgestreckt auf dem Boden und lausche einer Musik, sich der Bettvorleger unter mir manchmal in einen fliegenden Teppich verwandelt, auf dem ich jegliche Endlichkeit unendlich hinter mir zu lassen glaube.

Um diese Erfahrung machen zu können, muss jemand aber nicht blind sein oder doch? Weil er oder sie sich anders nie in einer Ferienwohnung vors Bett auf einen Bettvorleger legen und mit geschlossenen Augen einer Musik lauschen würde, jedenfalls nicht gewohnheitsmäßig genug, auf dass daraus eine Art Übung würde. So gesehen kämen sie ohne die „Verlegenheit“ einer Erblindung erst gar nicht in die Lage, die sie für eine entsprechende „Empfänglichkeit“ disponiert. Dies wäre die paradoxe Umkehr einer Perspektive, die das Defizit einseitig bei der oder dem Behinderten lokalisiert und die natürlich für sich genommen nichts desto weniger zutreffend ist. Zum Beispiel, wenn derjenige, der auf den Rollstuhl angewiesen, an dieses Gefährt gefesselt ist, nicht wie seine Freundin auf einem Felsen am Wasser sitzen kann. Zweifellos eine traurige Tatsache, dass der Behinderte es nicht kann. „Auf einem Felsen am Wasser sitzen und Steine werfen … Wie viele Leute sitzen auf einem Felsen am Wasser, frage ich mich und schätzen nicht wirklich, was sie haben, weil sie nicht wissen, was sie nicht mehr haben könnten.“

„Jeder Krüppel ein Superheld“, so heißt das Buch des Schweizer Romanciers und Dramatikers Christoph Keller, in dem er, wie der Klappentext sagt, „eine ebenso unorthodoxe wie provokative Befragung dessen (vornimmt), was es im einundzwanzigsten Jahrhundert bedeutet, ein Mensch mit körperlicher Behinderung zu sein. Was es bedeutet, den Alltag zu bewältigen, zu leben, zu schreiben, zu reisen oder oder eben nicht, wenn man nicht wie die anderen ist.“ – Wieso Superheld, fragt Silvia, der ich sage, was ich gerade höre. Für sie als Nichtbehinderte ist der Buchtitel auf Anhieb so wenig verständlich oder einleuchtend wie zunächst auch für mich. Doch während mir beim Lesen oder Zuhören der Sinn klar wird, bin ich mir nicht sicher, ob es für Nichtbehinderte wirklich nachvollziehbar ist.

Aus seiner Behindertenperspektive liest Keller Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ wie eine Parabel auf das Schicksal des Behinderten. „Der wahre Horror einer Behinderung besteht darin, dass du weißt, dass du behindert bist und dass du weißt, dass dich die Welt auch als Behinderten wahrnimmt, als Ungeheuer, als Mistkäfer, als Missgestalt, Schande, eine Belastung für die Familie, keine Geldverdiener mehr, ein Hindernis in jeder Hinsicht. Doch wie lebst du damit? Dies ist die Frage, die Kafka in der Verwandlung zu stellen wagt, der tapfersten und grausamsten aller Geschichten. Außen Krüppel, innen Superheld.“

Trifft dies auch auf mich zu? Bin ich ein Superheld oder auch nur ein Held, einer jener mitunter literarisch beschworenen „Helden des Alltags“? Sollte mir jemand die Auszeichnung verleihen wollen, den Ehrentitel Held gibt man sich ja nicht selber, ich hätte nichts dagegen. Verliehen werden müsste er, damit es ein Akt inklusiver Anerkennung und Gerechtigkeit wäre, von einer Nichtbehinderten-Jury. Sie zu besetzen dürfte allerdings nicht einfach sein, weil Nichtbehinderte die Lebensumstände von Behinderten nicht nur nicht kennen, sondern von deren Leben und Alltag nichts wissen wollen und – der Rollstuhlfahrer Christoph Keller stellt es so lapidar wie bitter fest – es sie schlicht nicht interessiert, was Behinderte erleben, durchmachen, ertragen und aushalten müssen, wegstecken, bewältigen und mithin leisten, körperlich und mehr noch seelisch. Weshalb Behinderte sich die Auszeichnung Superheld oder Alltagsheld, was alle von ihnen sind, eigenmächtig an die Brust heften müssen.

Ist dies hinwiederum nicht ebenso ignorant wie ungerecht, undankbar, der Tatsache und der Errungenschaft des modernen Sozialstaats und dessen Unterstützungsleistungen gegenüber, der uns Krüppel, Blinde und Lahme vom Bettel befreit und von der Straße geholt hat, wo unsereins die Antike und das Mittelalter hindurch bis spät in die Neuzeit dahinvegetiert haben? Geistig Behinderte werden nicht länger erdrosselt oder ertränkt, sie flechten Körbe und binden Besen in geheizten Werkstätten (solange Putin nicht den fossilen Brennstoffhahn zudreht oder der Westen vor ihm die Pipeline abklemmt, letzteres nicht minder moralisch zwingend wie die geistig Armen nicht frieren zu lassen). An strengen moralischen Maßstäben gemessen entbehrte es nicht einer gewissen Schäbigkeit, so könnte man urteilen, wenn zumal in schweren Zeiten und bei dramatisch knapper werdender Staatskasse Behinderte wie ich nicht nur ihre Leistung überschätzen, sondern den füglich von ihnen erwartbaren Beitrag zum allgemeinen Leistungsaufkommen nicht einmal erbringen, da sie sich ausrechnen, die staatliche Wohltätigkeit greift ihnen unter die Arme, sie müssen sich nicht am Riemen reißen. Wie der „Krankheitsgewinn“ Kranke davon abhält gesund zu werden, so der „Behinderungsgewinn“ Behinderte davon, sich anzustrengen. Möchte sich ein solcher Schlaumeier dann noch einen Orden an die Brust heften, tendiert bei Nichtbehinderten das Verständnis selbstverständlich gegen Null. – Er kenne einen, sagt mein Schwager bei einem meiner seltenen Besuche, der auch blind ist, aber ganz normal arbeitet, als Lehrer an einer Schule, vielleicht inzwischen auch schon in Rente. Das geht also auch, Blindheit ist kein Hinderungsgrund, beruflich am Leben teilzuhaben und finanziell auf eigenen Füßen zu stehen, das meint er wohl, mein Schwager.

Wie schreibt Christoph Keller, der Behinderte „eine Geldverschwendung, kein Geldverdiener mehr, eine Belastung für die Familie“, von Verdachts wegen dazu auch noch mutwillig. Zugespitzt gefragt: Sollten nicht vielmehr die Bereitwilligkeit, Großzügigkeit und Geduld der im allgemeinen hart arbeitenden Menschen aus der nichtbehinderten Mehrheitsgesellschaft honoriert werden, mit der sie die Behinderten gesellschaftlich inkludieren, eine Vielzahl von ihnen alimentieren und Krankheits- bzw. Behinderungsgewinnler unter ihnen tolerieren. Für unsere Angehörigen und Nächsten stellen wir Behinderte immer wieder eine enorme Belastung und nicht nicht selten eine Zumutung dar, unsere partielle Lebensuntüchtigkeit und chronische Unselbständigkeit sind der Klotz an ihrem Bein, der sie beim eigenen Fortkommen hemmt und sie förmlich zu sekundär Behinderten macht. Müssen sie nicht das Gefühl haben, wir nehmen sie bisweilen regelrecht in Geiselhaft? Trage ich nicht eine Mitschuld an dem Schicksalsschlag, den meine Schwester getroffen hat, ja, muss ich mir nicht den Vorwurf gefallen lassen, indem ich mich in der bequemen Rolle des Sorgenkinds eingerichtet habe, an dem beteiligt gewesen zu sein, was an Beschwernis, Kummer, über Jahre hin vermutlich alles zusammenkommen muss, ehe dieses Schlimme eintritt.

Was habe ich ihr und meinem Schwager allein durch diesen Treppensturz bei ihnen in der Wohnung zugemutet, angetan. Ihnen nicht nur einen gehörigen Schrecken eingejagt, nein, sie anhaltend beunruhigt, sie letzten Endes traumatisiert. Als der Urheber des Schreckens werde ich wie ein Täter mit der Schuld leben müssen. Was tappe ich so kurz vor dem Schlafengehen nochmals durch die Wohnküche. Meine Schwester hantiert an einer Küchenzeile irgendwo um die Ecke, er im Büro, die Tür steht auf, kramt an seinem Schreibtisch. Ich entsinne mich, wie die Spitze meines Blindenstocks vor mir den Boden berührt und wie der auf einmal weg ist, mein rechter Fuß eine Millisekunde in der Luft schwebt und ich seitwärts in die Tiefe stürze. Was ich registriere sind die Stufenkanten der Steintreppe und da ist der Gedanke, so also fühlt es sich an, von der Schwerkraft unaufhaltsam nach unten gezogen zu werden, ohnmächtig von Klippe zu Klippe, Kopf und Schulter voran, Beine und Füße samt Stock in der Hand hinterher. Ob purer Reflex oder geistesgegenwärtige Reaktion des Yogi in mir, schlittere ich zusammengekrümmt, das Kinn an der Brust, Schulterpartie und Rumpf gerundet in exakter Passform um die Biegung der Linkskurve, welche die Kellertreppe auf halber Höhe beschreibt, bis mir nach einigen weiteren Stufen endlich eine Seitenwand an der rechten Schulter stabilen Halt verleiht. Spürbar irritiert in den Gliedmaßen, rapple ich mich aus der unkomfortablen Schräglage hoch und steige, noch nicht ganz aufgerichtet, unsicher die ersten Stufen wieder hinauf. Schon sind die beiden, aufgeschreckt durch das Poltern, herbeigeeilt, Entsetzten und Panik in der Stimme, meine Schwester, einen Fuß auf die Treppe gesetzt, fasst mich am linken Arm, hilft mir die letzte Stufe hinauf und führt mich zu meinem vertrauten Platz am großen Esstisch.

Nein, sage ich, gebrochen habe ich mir nichts, alles in Ordnung. Und ich fühle mich auch tatsächlich erleichtert in diesem Augenblick, die vertraute Anordnung, meine rechte Hand streift das Frottierhandtuch unter mir auf der Sitzfläche des Stuhls. Es fühlt sich so sanft und seidig an wie der Samtbezug darunter, den es davor schützt, dass ich beim Essen durch versehentlich mir von der Gabel purzelnde oder von einer belegten Brotschnitte kullernde Speisebröckchen Flecken darauf hinterlasse. Meine linke Hand auf dem Tisch streicht mit den Fingerkuppen über das dort auf dem darunter liegenden Set ausgebreitete Geschirrhandtuch, das Tisch und Set vor meinen Kleckereien neben dem Teller bewahrt. – Was für ein Schock, ich weiß, was augenblicklich in den beiden vorgeht, ich versuche, sie zu beruhigen, ich würde sicher merken, wenn innerlich etwas verletzt wäre, das sei aber nicht der Fall. Ich bin mir der Szenen, der Bilder im Kopf, bewusst, die ihnen in diesen Minuten zusetzen, die sie in den kommenden Stunden und während der Nacht und an den darauf folgenden Tagen quälen, peinigen werden. Der Sturz hätte mir das Genick brechen können, sämtliche Knochen hätte ich mir brechen können, innere Verletzungen und Blutungen zuziehen können. Die Tochter einer Bekannten von Silvia und mir hat den Nieren- oder Leberriss nach einem Fahrradsturz zuerst nicht gespürt und ist einen Tag später daran gestorben. Was, wenn sie jetzt den Notarzt und den Krankenwagen hätten rufen müssen, was, wenn ich von nun an auch noch querschnittsgelähmt im Rollstuhl säße, blind und lahm in Personalunion gewissermaßen.

Heldenhafte Angehörige, die Bezeichnung geht auch, nicht nur heldenhafte Krüppel. Mein Schwager, ein Held. Auf seinem häuslichen Büroschreibtisch, weiß ich von meiner Schwester, türmen sich Rechnungen an Haushalte und Firmen, Zahlungsbescheide für die von ihm, dem Bezirksschornsteinfegermeister geprüften Kamine und Feuerungsanlagen. Jahrein jahraus, bis ins Rentenalter Sorge tragen, dass der Papierstapel nicht bis zur Decke wächst, bei mir hätte das früher als bei ihm ein Magengeschwür verursacht und Phasen depressiver Verstimmung. Vom ersten Tag an hätte es mich angeödet, wie die Tabellen- und Zahlenkolonnen meine Schwester anöden, wenn sie mit glasigen Augen, wie Silvia sagt, auf ihren Home-Office-Monitor starrt und daran auch der Umstand im Nachhinein nichts ändert, dass sie als Betriebswirtin beim Roten Kreuz damit hat rechnen müssen, für Rechnungswesen zuständig sein zu müssen im Team. Also auch meine Schwester eine Heldin, mich als behinderten Bruder noch nicht mit eingerechnet.

Und gleichzeitig empfiehlt es sich, das mit dem Heldentum nicht zu übertreiben, was wiederum ebenfalls nicht leicht ist. Nicht für Krüppel und nicht für Angehörige. Mag sein, der Satz liest sich wie aus einem Ratgeber, ich schreibe ihn trotzdem hin: Vor Somatisierung und Depression schützt Aggression, eine gesunde Affektabfuhr, jedenfalls bis zu einem gewissen Grad. So erkenne ich darin eine gewisse Immunschutzreaktion, wenn ich bei Schwager und Schwester in einem zeitversetzten Nachklapp zu meinem Treppensturz bei ihnen mehr als zuvor Ärger und Gereiztheit im Ton mir gegenüber wahrnehme. Ich hätte mir lange schon einen Blindenstock mit Kugel zulegen können, warum ich das noch immer nicht gemacht habe, so meine Schwester am Telefon, erst neulich habe sie im Fernsehen eine Blinde gesehen, die mit ihrem Langstock und der rollenden Kugel am Ende sicher und souverän die Wege gegangen sei, ganz normal habe die sich bewegt. Längst hätte ich das genauso lernen können, wenn ich bloß gewollt hätte, so verstehe ich sie, dann wäre das mit der Kellertreppe auch nicht passiert. Ihren verhaltenen Zorn habe ich seinerzeit schon verkraftet, aber vielleicht hätte sie, frage ich mich jetzt, nicht nur mir gegenüber viel öfter ihrem Ärger in der Vergangenheit Luft machen sollen.

Inzwischen habe ich zwei von den Dingern, Stöcke mit Kugel, der Treppensturz ist Jahre her. Nur habe ich kaum Gelegenheit, sie zu benutzen, was mit einer anderen Geschichte zu tun hat. Bei sich zuhause, wo Blinde jede Schrittfolge und sämtliche Winkel in der Wohnung kennen, braucht man diesen Fühler gleich gar nicht, er wäre einem nur hinderlich. Für mich ist es dasselbe hier in der Ferienwohnung, den Weg ins Bad und den in die Küche habe ich mir eingeprägt, nachdem ich ihn zwei oder drei Mal mit dem Stock gegangen bin und danach jedes Mal mit einer Hand an der Wand entlang, um so im übrigen beide Hände frei zu haben und nicht noch diesen Stecken in der einen, den ich stets irgendwo und ich sehe natürlich nicht wo ablegen muss, wenn ich beide Hände zum Hantieren bräuchte, etwa zum Schnürsenkel binden. Wie nachher wieder, wenn ich mit Silvia zum Spaziergang unten am See draußen vor der Terrassentür in meine Schuhe steige. Beim Hinaustreten auf Socken halte ich mich am Türpfosten fest, hoffentlich nicht am Pfosten mit dem Scharnier, genau in dem Augenblick in den tückischen Spalt langen mit meinen tastenden Fingern, wenn die Tür sich bewegt, weil Silvia oder jemand anders sie von außen gerade ein wenig weiter öffnet, um mir beim Hinausgehen behilflich zu sein – die Vorstellung ist eine der apokalyptischen Spitzenreiter unter meinen blindheitsbezüglichen Horrorvisionen.

Waste Land

Hat für meine Schwester nun eine neue Zeitrechnung begonnen, den Schwager notwendigerweise auch und nicht minder für mich, was das noch Erwartbare und Mögliche angeht in den Beziehungen zwischen uns, unser Verhältnis zueinander. Silvias Therapeutin meint – sie machen das kurz zum Thema bei einer der nächsten Stunden –, die Entfremdung zwischen meiner Schwester und mir werde zunehmen durch das, was geschehen ist. Vielleicht nicht zunehmen, sage ich, Entfremdung wächst zunächst, aber ausgewachsen nimmt sie von einem bestimmten Punkt an nicht weiter zu, was dann höchstens noch zunimmt, ist die Unwahrscheinlichkeit einer Wiederannäherung und dieses traurige Stadium mag möglicherweise eingetreten sein. Ein Gefühl der Endgültigkeit, dass die Entfremdungswüste, das Ödland zwischen uns, bleiben wird. Ein lange im verborgenen Seelenwinkel zurückgehaltener Schmerz dringt an die Oberfläche. Seither ist es ein immer wieder auflodernder Schmerz, begleitet von einer ebenso plötzlichen Unruhe oder Beunruhigung bezüglich dessen, was morgen oder übermorgen mein Schwager am Telefon berichten wird. Habe ich einen jener Momente zu gewärtigen, wo dir gesagt wird, du musst mit allem rechnen, auf alles gefasst sein?

Wie in der Politik derzeit, die Kommentatoren und Experten im Radio möchten nichts mehr ausschließen, nicht den Atomkrieg, das Ende der Welt, die letzten Tage der Menschheit. Beinahe tröstlich, mindestens entlastend, mit meinem kleinen privaten oder persönlichen Unglück ginge ich im allgemeinen und großen Unglück auf, in der unio mystica des Untergangs. C.G. Jung hat von Synchronizität gesprochen, anlässlich derartiger Phänomene von nicht kausalem Ereigniszusammenhang. Heißt das auch, wenn sich die Politik doch noch einmal berappelt, die politische Großwetterlage wieder aufhellt, für den Fall einer erneuten kosmischen Synchronschaltung auch die befürchtete irreversible Horizontverdüsterung im familiären Schicksal doch noch einer Horizontaufhellung wiche? Wie schon ein Schlagertext aus meiner Jugend verhießen hat, Wunder gibt es immer wieder, blüht dann erst im Mai der Flieder, geht es spiegelbildlich seelisch und körperlich auch aufwärts, noch so eine Synchronisation, wohin du schaust Innen- und Außenentsprechungen, Mikro- und Makrokorrespondenzen. Diese Frage könnte ich sicher trefflich mit Rüdiger Müller erörtern, Fachmann in seriöser Astrologie und Kenner der Schriften C.G. Jungs, was auf alle Fälle eine gute Ablenkung verspräche. Aber die gelingt mir auch so, zum Glück.

Außerdem gibt es diese Oasen, tatsächlich jetzt das richtige Wort, wie das Fleckchen am See, auf der Tafel am Wegrand als Naturreservat ausgewiesen, bestens geeignet, das wüste Land der politischen und der persönlichen Katastrophe zu vergessen. Sogleich eine atmosphärische Aufhellung und als Blinder nehme ich es augenblicklich desto deutlicher wahr, biegen wir nur wenige Schritte vom Haus entfernt auf das kurze Wegstück ein und beim Zurückkehren habe ich, von der anderen Seite kommend, noch mehr die Empfindung, einzutauchen in eine andere Sphäre, die sich dem Ohr schon einige Schritte davor ankündigt in dem Vogelgesang, von dem auf unserem vorangehenden Abschnitt das Seeufer entlang gar nichts zu vernehmen war. Hier auf einmal zwitschert es, trällert und tiriliert, vom virtuosen Melodienkünstler bis zum schrillen Piepmatz sind sämtliche Vogelstimmenregister vorhanden. Und das Anfang März, bei kalter Luft und so gut wie noch keinem Frühlingsduft, nur weiter unten bei den Wiesen riecht es ab und an nach Gänseblümchen. – Kattenhorn, so heißt die Ufergegend hier, gefiele meiner Schwester, denke ich mal, sicher bin ich mir nicht. Vielleicht missfiele ihr ein landschaftliches oder architektonisches Detail, von dem ich nichts weiß, weil ich es nicht sehe. Aber die das naturbelassene Landschaftsgebiet umfangende Aura, die zu spüren ist, auch wenn man sie nicht sieht, ist das nicht ähnlich wie bei ihnen auf der Höchtesflur, der Wiese und dem Wäldchen hinter der Terrasse, wo im Winter bei Schnee die Rehe zur Terrassentür kommen?

Schon einmal habe ich ihr Urteil völlig falsch eingeschätzt, 2006 bei unserem Umzug an den Waldrand nach Bollschweil, ins Judenschlösschen, wie lange sich so ein Name hält. Kurz davor oder danach waren auch sie umgezogen in ihr neues Haus bei Göttschied, für sie und für mich hatte mit unser beider Wohnungswechsel, in ihrem Fall in das ganz nach ihren Vorstellungen errichtete Eigenheim auf sorgfältig ausgewähltem Grundstück, ein neuer Lebensabschnitt begonnen, etwas, das wir in diesem Augenblick gemeinsam hatten, dachte ich. Warum nicht auch ein gewisser Neuanfang in unserem Verhältnis, warum nicht einander von nun an öfter besuchen, nachdem sie jetzt nicht mehr in unserem Elternhaus wohnten, wohin es mich nach dem Tod der Eltern noch weniger zog als zuvor. Doch dann fanden sie Bollschweil überhaupt nicht schön, nicht die direkte Lage am Waldrand, nicht die alte Villa, also das Judenschlösschen, nicht unsere Wohnung in der mittleren Etage, zu schattig draußen, drinnen zu dunkel und das Dunkle im Haus finde sie bedrückend, so meine Schwester, hätte am liebsten auf dem Fußabsatz kehrt gemacht, nicht anders der Schwager. Wie hatte ich auf die Idee kommen können, der ältliche Charme und, wie im Mietangebot gestanden war, die paradiesische Lage müssten eigentlich jeden Besucher entzücken, es würde ihn ja keiner zwingen, einzuziehen. Pustekuchen, wie einer mit Geschmacksverirrung, so stand ich vor ihnen, die mir und Silvia gegenüber nicht hinterm Berg hielten mit ihrer Unlust, auch nur eine Minute länger an diesem desolaten Ort zu verweilen. Sie wollten zum Jesuitenschloss und zwar subito, ihrem Freiburger Lieblingscafe, wo es wiederum Silvia und mich geschmacklich noch nie sonderlich hingezogen hat.

Verwunschen, so denke ich heute, eher denn paradiesisch, wäre die dem Ort und der Immobilie angemessene Charakterisierung gewesen. Was meine Schwester und der Schwager bei ihrem offen gezeigten Missfallen und dem Unverständnis dafür, wie ich hier überhaupt hatte einziehen können, nicht sahen oder nicht sehen wollten, waren die für mich, den Nichtsehenden, auf der Hand liegenden Vorteile der verkehrsberuhigten Randlage, vor allem der gleich bei der Hofeinfahrt beginnende Fußweg den Waldrand entlang oder auch ein Stück in den Wald hinein, wo ich ganz allein und gefahrlos laufen konnte, ideal für einen Blinden, wie ich es später nirgendwo mehr vorgefunden habe, im Gegenteil. – „Judenschlösschen“, zum Zeitpunkt unseres Einzugs kannten wir weder den Ausdruck, noch die Bewandtnis, die es mit ihm auf sich hatte, einige Alte im Dorf gebrauchten ihn noch ab und an, wenn von dem abseits gelegenen Haus oben am Wald oder dessen Bewohnern die Rede war. Später erst klärte uns ein alter Herr über die Hintergründe auf, der war ein paar Schritte ums Haus gegangen und hatte sich interessiert umgeschaut, das Gelände war nicht umzäunt, das Hoftor stets offen. Silvia sprach ihn an, vom Badezimmerfenster aus, das auf den Hof ging. Seit Jahren widme er sich als Pensionär im Beamtenruhestand der Erforschung der Regionalgeschichte. Während der dreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts, nach Antritt der nationalsozialistischen Herrschaft, sei in dem zuvor jahrelang leerstehenden Gebäude ein jüdisches Kinderheim untergebracht gewesen, das Ende des Jahrzehnts schließen musste. Die Betreiberin konnte seinen Nachforschungen zufolge in die Schweiz ausreisen und habe wohl auch ein und das andere Kind mitnehmen können. Dort, wo Silvia und ich unsere Zimmer und unsere Betten hatten, standen also vor gut sieben Jahrzehnten die Stockbetten jüdischer Heimkinder, bis sie eines Tages weggebracht wurden, einige vielleicht in Sicherheit, wohin die anderen, darüber muss man nicht lange nachdenken. Silvia und ich wurden bereits nach fünf Jahren wegen Eigenbedarf gekündigt, entgegen einer mündlichen Absprache mit dem Vermieter, der mit im Haus wohnenden Erbengemeinschaft.

Wie Judenschlösschen ist auch Kattenhorn eine Ortsbezeichnung, die zum Sinnieren einlädt. Katte hieß doch der Kumpel vom Alten Fritz, der Busenfreund des Kronprinzen, zwei Halbwüchsige, die miteinander durch dick und dünn gehen, Herr Henn, der Volksschullehrer, wer sonst, muss uns Drittklässlern die Geschichte erzählt haben, wie er auch vom Adolf erzählt hat, der die Arbeitslosen von der Straße geholt hat, nur das mit den Juden besser nicht gemacht hätte. Kattes Hinrichtung nach dem Scheitern ihrer gemeinsamen Flucht hat der Alte Fritz, der junge also, mitansehen müssen, auf Befehl des Königs, des Soldatenkönigs, ein autoritärer Knochen, der auch familiär kein Pardon kannte, der ohne mit der Wimper zu zucken unbotmäßige Untertanen köpft, reihenweise, wie wir Kinder Gänseblümchen geköpft haben, ist uns was gegen den Strich gegangen. Wie komme ich auf Gänseblümchen, zum Köpfen sind die viel zu niedrig, nicht bloß für einen Säbelhieb, auch fürs Lineal, ich habe nur den Gänseblümchengeruch von der Vorfrühlingswiese in der Nase, daran wird es liegen. Doch habe ich eine bessere Assoziation, Kattenhorn ein landschaftliches Sanssouci, eine Freiluftstätte der vorübergehenden Sorglosigkeit, ein elysisches Gefilde. – Ob das auch für diejenigen zutrifft, die hier vor Ort ihren Wohnsitz haben oder ein Grundstück erwerben möchten, weiß ich nicht. Ein freundlicher Herr auf der Straße hat uns gesagt, das Wiesengrundstück neben dem seinem habe er neulich für fünf Millionen Euro auf der Immobilienseite der Stuttgarter Zeitung inseriert gesehen. Man müsste also nicht einmal Multimillionär im dreistelligen Bereich sein, um sorgenfrei das Monopoly mitzuspielen. Aber wenn man ohnehin nicht vorgehabt hat, Kattenhorner zu werden und es auch hernach wie wir dabei belässt, kann einem das alles egal sein. Es würde einen nur davon abhalten, die Gänseblümchen zu riechen, von denen ich nicht weiß, ob es sie auf dem fünf Millionen teuren Wiesengrundstück am See überhaupt gibt. Und es mich nicht wundern würde, sollte es sie dort nicht geben, was, noch einmal synchronistisch gedacht, bloß konsequent wäre, weil die am Grundstückserwerb Interessierten die Gänseblümchen gleich gar nicht interessieren.

Petra liest das Namensschild, Dr. Ratzel, das Tor und die Hecke verwehren ihr die Sicht in den Vorgarten, wo vielleicht soeben die erste Narzisse ihren Blütenkelch öffnet, sie riechen für mich weniger streng als die Gänseblümchen, dafür noch mehr nach Frühjahr, nach Osterspaziergang. Ratzels Anwesen ist das letzte Haus vor dem Naturschutzgebiet, bevor man in dessen Aura eintaucht, als schlüpfe man in einen Wollärmel. Ein Herr mit Hund hinter der ersten Wegbiegung, gestern auf unserem Rückweg, war das nicht Dr. Ratzel? Älterer Herr, graue Schläfen, verspiegelte Brille, verschlossenes Gesicht, stelle ich mich vor, wer soll das anders sein als Dr. Ratzel. Olivier Messiaen, der mit dem Kassettenrekorder fürs Komponieren Vogelstimmen aufnimmt, Unsinn. Wenn hier einer am Wegrand steht und wartet bis der Hund sein Geschäft verrichtet hat, dann liegt es nahe, dass es sich um Dr. Ratzel handelt, dem sein Vorgarten zu schade ist fürs Hundegeschäft. An Leute wie mich denkt er nicht. Köter kackt in Biosphärenreservat und ein Blinder tappt hinein, wäre auch mal eine Überschrift fürs Lokalblatt, den Bodenseekurier, die Lebenswirklichkeit von Blinden und Behinderten generell kommt dort viel zu wenig vor und wenn, dann geht es immer nur um Barrierefreiheit. Was nutzt mir aber Barrierefreiheit, wenn der Weg, der frei ist, mich in die Scheiße laufen lässt, geradewegs buchstäblich. Ob ein Blindenhund mit seinem Blinden einfach einen Bogen um den Scheißhaufen machen würde? Kann schon sein.

Meine Schwester hat übrigens nie gefragt, warum ich mir noch keinen Blindenhund zugelegt habe. Grundsätzlich habe ich nichts gegen Hunde. Und das ist keineswegs nur so dahergesagt wie, ich habe nichts gegen Ausländer, aber, blablabla und kennen dann nicht einmal welche persönlich. So verhält es sich bei mir gerade nicht. In Bollschweil lebte ich mit Sorbas im Haus, kein Grieche, kein Ausländer also, ein Hund, der Schäferhund unserer Vermieter. Sorbas Hundehirn wusste nichts von griechischer Mythologie, was ihn aber nicht davon abgehalten hat, den Zerberus zu spielen, den Höllenhund, auch wenn es nur meiner Schwester und dem Schwager so vorgekommen ist, als wäre die alte Villa der Eingang zur Unterwelt. Kam Besuch, hat das Gebell ihn angekündigt, noch ehe es an der Haustür klingelt, ich gehe runter, ruhig Sorbas, sage ich, der kläffend und sprungbereit an der Tür steht und hake mit gekrümmtem Zeige- und Mittelfinger unter sein Halsband, um ihn zurückzuhalten, er bellt weiter, will sich losreißen, die gestreckten Vorderläufe schlittern auf den Fliesen, während ich ihn mit aller Kraft rückwärts zerre, mehr als einmal hätte er beinahe mich mit sich fort nach draußen gezogen. Mit der freien Hand öffne ich die Haustür und geschwind schlüpft der Besuch an uns vorbei ins Treppenhaus, eilt die Stufen hinauf und bringt sich in Sicherheit. Ich lasse das Halsband los, klopfe ihm kurz den Nacken, brav Sorbas, das Bellen hört auf, Ruhe kehrt ein. Santal, unsere Vermieterin, als sie mich das erste Mal dabei beobachtet hat, staunte nicht schlecht, Sie machen das aber ganz gut mit dem Sorbas, wie Sie ihn festhalten. Mich in artgerechter Tierhaltung auszukennen, wäre zuviel gesagt, aber immerhin. Zu wünschen übrig ließ die artgerechte Haltung seitens der Vermieter, während deren Arbeitszeit tagsüber im Flur eingeschlossen, kauerte die bedauernswerte Kreatur eines Tages auf dem Fußabtreter, die Schnauze neben einer Urinlache. Obwohl Katzenpisse ungleich penetranter in die Nase sticht, sind mir die beiden Katzen eigentlich lieber gewesen, die ebenfalls zum Haus gehörten, Murphy und Percy. Auf unserem Rundweg durchs Gehölz gegenüber vom Haus, konnte es geschehen, dass plötzlich Murphy aus dem Gebüsch auftaucht, uns mit Mauzen begrüßt, ein Stück vor uns herläuft und, schwuppdiwupp, sich auf den Rücken wirft, alle Viere von sich streckt oder wie Kafkas Gregor Samsa mit den Beinchen rudert und so lange schnurrt, bis einer von uns, Silvia oder ich, vor ihm in die Knie, in die Hocke geht und ihm das Bauchfell krault, worauf er, satt geschnurrt, noch einmal schwuppdiwupp sich auf und davon macht. Geblieben sind meine Erinnerungen memories of Murphy.

Die Stille in Bollschweil, im Haus am Waldrand, war ähnlich wie die Stille hier in der Ferienwohnung am See. Eine Stille, die, wenn man in sie hineinlauscht, die Welt zum Verschwinden bringt. Um die es wahrlich nicht schade ist, so miserabel, wie sie gerade zur Zeit wieder ist. Und dem Tagebuchschreiber drei Worte genügen, das Wesentliche seines Eindrucks von ihr festzuhalten,
die Wüste wächst. Nietzsche. Auch die Stille in Sils Maria stelle ich mir ähnlich vor wie die Stille jetzt hier in unserem friedlichen Ferienwohnungswinkel über dem See. Wer aus dem stillen Winkel kommt oder von seiner Bergeshöhe herabsteigt wie Nietzsches Zarathustra und wieder eintaucht in den Lärm und das Kriegsgeschrei der Welt, kann schwerlich anders, als im Urteil über sie den Nihilisten hervorzukehren. Und um wie vieles mehr noch, wenn das Wort Krieg mit einem Mal alles Metaphorischen entblößt für nichts als die nackte Wirklichkeit steht, die brutale Gegenwart physischer Gewalt – was anderes als Wüste, die wächst oder wachsende Verwüstung sollte eine solche Welt als tatsächlichen Eindruck bei jemanden hinterlassen, der oder die aus einer äußeren oder inneren Stille kommend über sie und die eigene Verlorenheit in ihr Tagebuch führt. Kriegstagebuch, denn unter Weltverhältnissen wie diesen kann es sich schlechterdings um kein anderes Genre handeln, wer gegenwärtig seinen Anspruch auf Wahrhaftigkeit beim Schreiben nicht aufgeben will, muss von einem Kriegstagebuch sprechen, so wie entsprechende Aufzeichnungen der vergangenen beiden Jahre ebenso folgerichtig und zwingend Coronatagebücher hießen. Diese Welt ist ein totalitärer Moloch nicht erst seit gestern, nur hindert dies nicht, dass sie stets noch einen Tick totalitärer sich gebärdet und in das Intimste und Privateste eindringt.

Die Wüste wächst, wie im Großen so im Kleinen. Im Kleinsten in meiner Schachtel beispielsweise, kann ich versuchen, ihr Wachstum zumindest einzudämmen. Zum Beispiel, indem ich auf keinen Fall das Radio auch noch in der Nacht anschalte. Wie ich es vorgestern tat, als ich von der Toilette kam, einen Schock frostige Frischluft ins Zimmer ließ und von den Nachrichten zur vollen Stunde nur mehr den Wetterbericht erwischt habe, der einem trotz Minustemperaturen noch nicht den Schlaf rauben muss, wie der Griff an den Heizkörper auch jetzt am Vormittag bestätigt. Heute früh dann war die Meldung, so gegen drei Uhr in der Nacht, habe es für kurze Zeit nach der ganz großen Katastrophe ausgesehen, von einem Brand und von Gefechten auf dem Gelände war die Rede, da musste man kurzzeitig mit dem Schlimmsten rechnen. Nähere Informationen und eine vorsichtige Entwarnung habe es erst heute früh gegeben, das Feuer sei offenbar in einem Nebengebäude ausgebrochen und lasse sich wahrscheinlich unter Kontrolle bringen. Wie beruhigend, vielleicht kommt heute Mittag die Meldung, es habe sich lediglich um einen Schwelbrand in der Latrine gehandelt, den die russischen Befreier des AKW in einer von Putin persönlich geleiteten pyrotechnischen Spezialoperation binnen Stunden unter Kontrolle gebracht hätten. Ohne Not also hätte die Meldung in der Nacht mich um den Schlaf gebracht, was mir eine Warnung sein soll, das Radio auf dem Nachttisch auch weiterhin nächtens ausgeschaltet zu lassen, das Einschalthebelchen nicht anzurühren, sei es auch bloß eine Armlänge entfernt.

Der Flashback ist dennoch nicht ausgeblieben bei mir und anderen Ferngeschädigten der Reaktorkatastrophe von 1986. Auf einmal ist alles wieder da, die Erinnerung an das erschrockene Aufhorchen, ein Zusammenziehen in der Magengrube, als nachmittags im Radio erste Meldungen zu hören sind von einem Unfall oder hieß es zuerst nur Störfall, nichts genaues wusste man noch. Die Nachrichtenlage war dürftig, wie nicht anders zu erwarten bei Ereignissen, die sich in der Sowjetunion zutrugen. Nur, dass diesmal das Ereignis nicht auf das dortige Territorium begrenzt sein würde, ohne so unmittelbar darauf auch schon zu wissen, was genau da auf uns zukommt aus einer Ferne, die nicht länger eine Ferne ist, sondern eine plötzlich bedrohliche Nähe. Abends endlich die Tagesschau, gewissermaßen die amtliche Bestätigung, kein Zweifel mehr, man hat sich nicht verhört bei den nachmittäglichen Nachrichten, nicht halluziniert, auch wenn es nach wie vor an verlässlichen Informationen zu der „mutmaßlichen“ Reaktorkatastrophe mangelt, das Ausmaß unklar ist. Klar ist nur, was es für den Moment heißt. Angst und Ungewissheit, was die nächsten Stunden bringen, was in den folgenden Tagen sein wird, alles noch passieren kann. Man beobachtet die Leute um sich her, bei wem die Angst schon in Panik umschlägt und stellt womöglich bei sich selber fest, wie Angst und Ungewissheit, je länger es dauert, sich in Angstlust und Sensationsgier verwandeln. Und wie ein anderer Teil der Angst sich in Furcht verwandelt, bei der man immerhin, anders als bei der Angst, etwas Konkretes vor Augen hat, sei es auch wenig fassbar, greifbar, etwas so Wolkiges wie dieses radioaktive Wolke, die sich da unaufhaltsam von Osten her nähert und vor der man nicht weglaufen kann. Oder doch? Tut der Bekannte von Rudi nicht genau das Richtige, packt Frau und Kinder in den Golf und nichts wie weg, Südspanien, auf alle Fälle über die Pyrenäen. Wir reden uns die Köpfe heiß am WG-Tisch.

Jetzt also, knapp vier Jahrzehnte später, beinahe Tschernobyl Zwei. Weniger die Erfahrung von Endlichkeit also, von Ende schlechthin, mit was wir uns dieser Tage konfrontiert sehen, weniger ein geschichtliches oder politisches Ende mit Schrecken, als vielmehr ein Schrecken ohne Ende. Der sich nicht allein mit dieser Wiederholung anzukündigen scheint, sprechen doch auch andere Indizien eher für eine ewige Wiederkehr des Gleichen oder die Wiederkehr des ewig Gleichen. Eben noch mit scholzomatischemVolldampf voran „mehr Fortschritt wagen“ und schon, ereignisgeschichtlich nicht einmal ein Wimpernschlag, in der Zeitschleife festhängen, Transformation rückwärts. Muss sich ein Politiker da nicht fühlen wie der Formel Eins-Pilot, den es im Rennen um den Grand Prix soeben 180 Grad um die eigene Achse gedreht hat. Mit Karacho in eine Vergangenheit zurück nach der niemandem der Sinn steht, der halbwegs bei Trost ist. – Und wie wir seit Kierkegaard wissen, darf man sich das mit der Wiederholung nicht zu simpel vorstellen, was einschließt, dass wenn es an sich um eine üble Sache geht, dieselbe bei der Wiederholung nicht noch schlimmer ausgehen könnte als das vorige Mal. Ganz das also, wonach es rückblickend aussieht. Tschernobyl Eins kommt mir beinahe harmlos vor, verglichen mit dem, was uns derzeit blühen könnte. Und das liegt auch nicht an einer subjektiv verzerrten Wahrnehmung, an meinem jetzigen Alterspessimismus, der Kontext war damals ein gänzlich anderer. Gorbatschow war gerade mal ein Jahr im Amt des Generalsekretärs, aber seine Idee vom gemeinsamen europäischen Haus lag irgendwie schon in der Luft und relativierte perspektivisch die radioaktive Wolke, wir würden noch einmal glimpflich davon kommen, außer den Löschmännern auf dem brennenden Dach des havarierten Meilers sowie auch all jenen, deren Habitat schlussendlich doch zu nahe der Unglücksstelle gelegen war und deren Körper nicht imstande waren die Überdosis an Fallout oder Strahlung zu tolerieren. Während wir WGler, weit genug westlich, in genügendem Sicherheitsabstand zum Epizentrum der nuklearen Katastrophe, allabendlich vor dem Fernseher die neusten Hiobsbotschaften kommentierten, die von dort durch die undichten Stellen im eisernen Vorhang nach Westen sickern. Wir uns am Frühstückstisch über die Strahlenbelastung der Biolebensmittel unterhalten, die Becquerelzahl in der Milch fürs Müsli oder der Kaffeesahne, dass wir das zum ersten Mal selber angebaute Gemüse im Garten dieses Jahr ja wohl vergessen könnten. Und Rudis running gag von der köstlichen Tschernobyl-Zwiebel aus heimischen Anbau für den Tomatensalat und die Spagettisoße durchnudeln.

Nachdem die stratosphärischen Winde die radioaktive Wolke mal hier hin, mal dort hin, einmal auf nordwestliche Route und dann wieder in südwestliche Richtung geweht hatten, war sie irgendwann aus dem Fokus der Aufmerksamkeit verschwunden, hatte sich scheinbar verflüchtigt, quasi in Luft aufgelöst. Andere Winde übernahmen das Zepter, „the winds of change“, die von den Skorpions besungen wurden und im Endeffekt den eisernen Vorhang wegblasen sollten. Wo seit Jahrzehnten auf einem gespaltenen Kontinent feindliche Mächte bis an die Zähne bewaffnet einander gegenüber standen, bereit, den Gegner zu vernichten und sein Territorium zu verwüsten, dort schien auf einmal die Vision einer einzigen, ungeteilten, friedlich und in Freiheit bewohnbaren Erde vom Ural bis zum Atlantik in Erfüllung zu gehen. Unter dem Dach eines gemeinsamen europäischen Hauses zukünftig nur blühende Landschaften und glückliche Bewohner. Es sah so aus, als sollte das New Age, von dem wir, die spirituell Alternativen unter dem Dach unseres wohngemeinschaftlichen Hauses, der nuklearen Giftwolke zum Trotz, träumten, ausgerechnet in der großen Politik als erstes Einzug halten. Wie hatte alle Welt, von uns spirituellen Träumern bis zu den Realpolitikern, nur dermaßen daneben liegen können.

Hätte man genauer hinschauen müssen? Eine, die genauer hingeschaut hat, spät zwar, schon zu diesem Zeitpunkt hatte der Wind wieder gedreht, doch immerhin, ist Swetlana Alexijewitsch. Dort, wo sie hingeschaut hat, kennt sie sich aus vor Ort, in der ehemaligen Sowjetunion, in Russland, geboren in der Ukraine, aufgewachsen in Weißrussland. Auf dieser Seite der nach dem Mauerfall 1989 geöffneten Ost-West-Grenze konnte von einem New Age nicht die Rede sein, das Gros der Menschen war nicht in einer Neuen Zeit angekommen, sondern in einer „Second Hand Zeit“14 wie Alexijewitschs Buchtitel sie nennt. Dieser Tage erinnere ich mich an die Lektüre, Sommer 2016, während der durchwachsenen Ferientage im Allgäu. Dem enttäuschend verlaufenen Besuch im Wohnprojekt Aufwind und der genau so ernüchternden Begegnung mit den Leuten im Zenkloster Buchenberg, zwei verblasste lebensweltliche Reminiszenzen von New Age im Westen, diesseits der einstigen Demarkationslinie zwischen den Blöcken, auch damals waren wir zu dritt unterwegs, hatte Petra uns begleitet. Und da mein hauptsächliches blindentechnisches Ausrüstungsteil, der Daisy-Player, mich ohnedies überall hin begleitet, begleitete ich nun per Kopfhörer Swetlana Alexijewitsch in postsowjetische Wohnküchen und zu Gesprächspartnern in Duschanbe oder anderen transkaukasischen Städten. Meistens draußen auf einer Terrasse oder auch mal auf einer Bank im Park, während Silvia zum Moorbad in den schlammigen Tümpel steigt, auf dem Schild am Pfosten bei Befolgen der Kneippschen Regel ausdrücklich empfohlen. Mir in Erinnerung geblieben von der durchweg konsternierenden Lektüre, dem in dieser uns fremden unbekannten Ferne gesprochenen und hierzulande von mir als ferner Ohrenzeuge Mitgehörten, ist bis heute der deprimierende Eindruck seelischer Verwüstung, welche das gescheiterte Experiment des Kommunismus in seinen Protagonisten, Tätern und Opfern, hinterlassen hat. Ihre Seelen ein wüstes Land, Spiegelbild der Verheerungen im Außen, in der physischen und sozialen Umwelt. Was hätte nach der Liquidation des Imperiums auf dessen innerseelischer Konkursmasse, einer verbrannten Erde, wachsen und gedeihen sollen, wahrlich, ein neues Zeitalter gewiss nicht. Vielmehr war, was der kommunistischen Diktatur postsowjetisch an Freiheit und Demokratie gefolgt ist, auf seine Weise verheerend und ist es nach wie vor. Sieben Jahrzehnte Kommunismus und anschließend ein gnadenloser Kapitalismus für noch einmal die Hälfte dieser Anzahl an Jahren summieren sich zu einer gigantischen Gesamthinterlassenschaft an Niedertracht, Zynismus, Täuschung, an missbrauchtem Idealismus, zerstörtem Vertrauen, gebrochenen Versprechen, an maßlos enttäuschten Erwartungen durch das eine wie das andere System, Systemverhängnis.

Muss ich mir die Zeitkapsel, die alle in den kommunistischen und dann postkommunistischen Mahlstrom Einbezogenen, also so gut wie alle auf dem kontinentalen Territorium zwischen Baltikum und Transkaukasien, von der Ukraine bis ins nordöstliche Sibirien heute Lebenden und gesellschaftlich und politisch Handelnden, in sich tragen, nicht wie eine Büchse der Pandora vorstellen, deren Inhalt – wird sie mutwillig und nicht ohne machtpolitische Einflussnahme auch von anderswo geöffnet – beim Entweichen nicht nur diesen Teil der Erde in einen unkontrollierbaren Ereignisstrudel zu reißen droht, sondern am Ende die ganze Welt in Chaos und Vernichtung stürzt, die Potentaten in der jeweiligen Befehlszentrale und die Superreichen auf ihrem Insel-Ressort vielleicht ausgenommen. In wie vielen der politisch maßgeblichen auf beiden Seiten des aktuellen Konflikts, der russischen und der ukrainischen, ist dieses destruktive Erbe virulent, bei den Älteren aufgrund unmittelbarer lebensgeschichtlicher Erfahrung ohnehin und bei den Jüngeren durch transgenerationelle Weitergabe, auf alle Fälle dürfte es sich um eine erschreckend große Zahl von Akteuren handeln, die von der toxischen psychopolitischen Erbschaft in unterschiedlich starker Dosierung kontaminiert sind. – Sobald wir nach den Ferien wieder zuhause sind, nehme ich mir vor, werde ich noch einmal hineinhören in das verstörende Stimmengewirr, das die Autorin in „Second Hand Zeit – Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ aufgezeichnet hat, auch wenn jetzt erst recht Grund besteht, sich davon beunruhigen zu lassen. Doch wo sonst nach einer halbwegs plausiblen Erklärung suchen für etwas, das gestern noch unvorstellbar schien und heute tägliche Radiomeldung oder Fernsehnachricht ist.

Wie viel von dem, wovon man geglaubt hat, es habe für immer ein Ende gefunden, ist zurückgekehrt binnen Tagen, quasi über Nacht. Wie das unter meterdickem Beton in seinem Sarkophag als atomares Menetekel ein für alle Mal erledigt geglaubte Tschernobyl. Krieg, so darf daraus geschlossen werden, ist weniger der Vater aller Dinge, als vielmehr der Wiedererwecker von so mancherlei Totgeglaubtem. Krieg in Europa natürlich, nicht der außereuropäische, der fern von uns stattfindende, der uns Europäern, der Ehrlichkeit halber muss man es so zynisch sagen, gewöhnlich am Arsch vorbeigeht. Innerhalb von Tagen wiedererweckt hat der für undenkbar gehaltene Krieg mitten in Europa, bei den Älteren, das gespenstische Kopfkino aus den Zeiten der Blockkonfrontation, der wechselseitigen atomaren Vernichtungsdrohung, des unerbittlichen Freund-Feind-Denkens und der militärischen als der einzigen Logik einer prekären Friedenssicherung und des Überlebens der Menschheit. Was dem nur allzu verwandt gegenwärtig an Denkschemata und Affekten die Politik und die mediale Öffentlichkeit beherrscht und von einem Tag auf den anderen bis dahin Gültiges, Vernünftiges und Wünschenswertes in den Wind schlägt oder hintan stellt, sind Logiken, Plausibilitäten, Verhaltensreflexe und Handlungsbereitschaften, über die wir zuvor den Kopf geschüttelt hätten, wenn einer sie politisch ernsthaft in Erwägung gezogen hätte. Hätte, hätte, Panzerkette, der heiße Krieg hat die Schrecknisse des kalten von einst in unser aller Leben und Wirklichkeit zurückgeholt, die atomare Vernichtungsdrohung, Rüsten und Aufrüsten um die Wette, Bunkerbau und Luftschutzkeller von jetzt an wieder ABC-Schutzräume verbindlich für alle einstürzenden Neubauten. Panzerfäuste statt Pazifismus, die Jüngeren bekunden nicht nur Verständnis, sondern persönliche Opferbereitschaft für die Belange der Landesverteidigung, sprechen sich aus und begeistern sich für militärisch wehrhaften Patriotismus. Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin – es will sich das aber keiner vorstellen, Krieg und keiner geht hin, Hingeher genießen Sympathie. Der postheroisch totgesagte Heroismus, der klassisch kriegerische, meldet sich, reanimiert, geschichtlich zurück, auf der richtigen Seite, der der Guten, wo auch unsere Freiheit verteidigt wird und die Demokratie, sind Helden wieder gefragt – Heldentum, Heldenmut, Heldentat, Heldentod.

Tod, auf den läuft so oder so, also auch für die, welche einen selbstgewählten Abgang als Kriegsheld verschmähen, das Leben eines jeden und einer jeden hinaus, irgendwann, einen Unterschied macht lediglich, wie weit sich jemand noch entfernt glaubt vom finalen Ende und sich gewissermaßen unsterblich wähnt. Das unglückliche Bewusstsein meiner eigenen Endlichkeit – etwas anderes als bisher kommt von nun an nicht mehr, privat oder individuell nichts Neues unter der Sonne ab jetzt, aus steht einzig das Ende, das ist es, was noch kommt –, in dieses persönliche Endzeitbewusstsein mischt sich seit Tagen das Gefühl eines irgendwie unwirklichen deja-vu, alles geht von vorn los, politisch, kalter Krieg die kommenden Jahrzehnte, unter einen atomaren Schutzschirm begi