
Foto: Ralph Milewski
Fladungen (kobinet) "Nichts über uns ohne uns" – so lautet eine zentrale Forderung der Behindertenbewegung. Doch was passiert, wenn genau diejenigen, die angeblich für Teilhabe stehen, die Themen, Fragen und Debatten vollständig kontrollieren? Die "Teilhabe-Community" von Aktion Mensch ist ein perfektes Beispiel dafür, wie Partizipation suggeriert wird, während in Wahrheit die Deutungshoheit bei der Organisation selbst bleibt.
Was ist die „Teilhabe-Community“?
Aktion Mensch hat gemeinsam mit dem Marktforschungsunternehmen Ipsos eine Plattform ins Leben gerufen, die ausschließlich Menschen mit Behinderung umfasst und deren Meinungen in Umfragen und Forschungsprojekten gesammelt werden. Die offizielle Darstellung: Eine Initiative, die Betroffene mitreden lässt und ihnen eine Stimme gibt. Doch ein genauer Blick zeigt: Es handelt sich weniger um eine freie Meinungsplattform als um ein kontrolliertes Panel, in dem Aktion Mensch bestimmt, was diskutiert wird – und was nicht.
Teilnehmer*innen können an Befragungen zu Themen wie Alltagserfahrungen, Mobilität, Arbeitsleben oder Barrierefreiheit teilnehmen. Auftraggeber – darunter Unternehmen, politische Akteure oder Medien – können gezielt Fragen an das Panel stellen. Die Ergebnisse werden dann für Forschungszwecke, Produktentwicklung oder politische Lobbyarbeit genutzt.
Die unsichtbare Steuerung: Wer die Fragen stellt, kontrolliert die Antworten
Das entscheidende Problem: Wer die Fragen formuliert, formt das Ergebnis. Aktion Mensch gibt vor, eine breite Debatte über Teilhabe und Inklusion zu führen, doch in Wahrheit werden nur bestimmte Themen zugelassen. Kritische Fragen über die gesamte Inklusionsindustrie und ihre Profiteure? Fehlanzeige. Eine offene Diskussion darüber, ob große Wohlfahrtsverbände wie die Lebenshilfe oder die Caritas Teil des Problems sind, weil sie selbst von der Exklusion wirtschaftlich profitieren? Nicht vorgesehen.
Es gibt auch keine Umfragen darüber, ob Betroffene die Projekte von Aktion Mensch tatsächlich als wirksam empfinden oder ob sie sich durch die permanente „Hilfe“ eher fremdbestimmt fühlen. Der Fokus liegt auf Themen, die das Image von Aktion Mensch nicht gefährden – während strukturelle Probleme im Hilfesystem oder Fragen zur Selbstbestimmung systematisch ausgeklammert werden.
Scheinbeteiligung statt echter Teilhabe
Die „Teilhabe-Community“ vermittelt den Eindruck, als würden Menschen mit Behinderung aktiv an gesellschaftlichen Veränderungen mitwirken. Doch in Wirklichkeit werden sie in einen engen Rahmen gezwängt, in dem sie nur zu vorgegebenen Themen befragt werden. Die Ergebnisse dieser Umfragen werden dann als „Stimme der Betroffenen“ verkauft – obwohl entscheidende Fragen nie gestellt wurden.
Besonders problematisch: Die Forschungsergebnisse aus der Community dienen nicht nur politischen oder sozialen Akteuren, sondern auch Unternehmen, die sich mit dem Thema Inklusion schmücken wollen. So kann etwa ein Konzern, der sich als sozial engagiert präsentiert, gezielt Befragungen zu seinen Produkten oder Dienstleistungen durchführen lassen – mit dem Label „direkt aus der Teilhabe-Community“. Doch wie unabhängig sind solche Ergebnisse wirklich, wenn die Fragen von wirtschaftlichen Interessen beeinflusst werden?
Die Illusion der freien Meinungsbildung
Ein weiterer Punkt ist die völlige Abwesenheit interner Kritik. Wer sich in der Community anmeldet, kann nicht einfach eigene Themen vorschlagen oder kontroverse Fragen stellen. Es gibt keine offenen Diskussionsräume, in denen sich Menschen mit Behinderung untereinander austauschen und eigenständig Forderungen formulieren können. Stattdessen bleibt alles im Rahmen der von Aktion Mensch gesteuerten Agenda.
Gleichzeitig wird die Community als repräsentative Plattform dargestellt – obwohl die Auswahl der Teilnehmenden nicht transparent ist. Wie vielfältig sind die Meinungen wirklich? Welche Stimmen fehlen? Wie werden die Antworten gewichtet? Ohne klare Kriterien bleibt die „Teilhabe-Community“ ein in sich geschlossenes System, das weniger echte Mitbestimmung ermöglicht als vielmehr ein vorhersehbares Meinungsbild produziert.
Fazit: Wer bestimmt die Inklusionsdebatte?
Aktion Mensch nutzt die „Teilhabe-Community“ als Instrument der Meinungssteuerung. Anstatt echte Mitbestimmung zu ermöglichen, wird hier eine Form der gelenkten Partizipation geschaffen. Unangenehme Fragen, die die Organisation selbst oder die gesamte Inklusionsindustrie hinterfragen könnten, werden gar nicht erst gestellt. Dadurch entsteht eine scheinbare Einigkeit über die Notwendigkeit bestehender Strukturen – obwohl diese möglicherweise Teil des Problems sind.
Wer Inklusion wirklich ernst nimmt, sollte sich fragen: Ist es noch Selbstbestimmung, wenn die Bedingungen der Teilhabe von einer Organisation definiert werden, die selbst von diesem System profitiert? Oder braucht es vielmehr eine echte, unabhängige Plattform, in der Betroffene selbst entscheiden, welche Fragen relevant sind – und nicht nur die Fragen beantworten dürfen, die ihnen vorgelegt werden?
Hallo Ralph Milewski,
danke für den interessanten und kritischen Beitrag! So funktioniert eben die „Wohlfahrtsmaffia“ (ein Begriff den mein verstorbener Freund und Inklusionsstreiter Maik Nothnagel) damals oft gebraucht hat und dafür oft politisch „verhauen“ wurde. Wir leben ja im realexistierenden Kapitalismus mit all seinen Facetten und Märkten Krisen und Kriegen… deshalb muß nicht nur die gesamte Inklusionsindustrie wie du geschrieben hast hinterfragt werden.
Ich teile die Einschätzung des Autors. Aber ist das Problem nicht auch, dass man solche Themen, die ja relevant sind der Aktion Mensch überlässt? Könnte der DBR, die ISL oder eine andere Organisation nicht so ein Panel betreiben und dafür Fördergelder aus anderen Fällen beziehen. Das Problem ist doch, dass obwohl es Dutzende von behinderten-Verbänden und unzählige Vereinigungen gibt jede Gruppe nur für sich selbst kämpft und nur selten gemeinsam an einem Strang zieht. Klar, die Aktion Mensch hat Geld ohne Ende. Aber wenn sich mehrere Verbände zusammenschließen würden und man z.B. Geld für die Nutzung eines Panels nimmt, ließe sich sowas doch aufbauen.
Mein Eindruck ist, dass die Aktion Mensch ihre Befugnisse überschreitet, indem sie Aufgaben übernimmt, die ihr nicht zustehen, die Repräsentation von behinderten Menschen sollten die Behinderten-Verbände übernehmen.