Kassel (kobinet) Das Bundessozialgericht (BSG) hat in einem Urteil von September 2024 festgestellt, dass alle berechtigten und bedürftigen Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen mit Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) von der Erbringung des Eigenanteils befreit sind. Darauf macht Henry Spradau in seinem heutigen Bericht für die kobinet-nachrichten aufmerksam.
Bundessozialgericht zum Eigenanteil bei unentgeltlicher Beförderung im ÖPNV
Bericht von Henry Spradau
Das Bundessozialgericht (BSG) hat in einem Urteil von September 2024 festgestellt, dass alle berechtigten und bedürftigen Bewohner*innen von Pflegeeinrichtungen mit Anspruch auf unentgeltliche Beförderung im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) von der Erbringung des Eigenanteils befreit sind.
Der Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Die schwerbehinderte Klägerin wohnte in einem Pflegeheim; ihr wurde das Merkzeichens G zuerkannt. Der Sozialhilfeträger übernahm die Heimkosten und rechnete ihr zu berücksichtigendes Einkommen an. Von den ihr noch zur Verfügung stehenden Einnahmen erwarb sie die entsprechende Wertmarke für die unentgeltliche Beförderung im ÖPNV. Da sie die Auffassung vertrat, von dieser Zahlung befreit zu sein, forderte sie den Betrag von ihrem Sozialhilfeträger, der jedoch ablehnte. Ihre Klage vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig war erfolgreich; das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen lehnte den Anspruch jedoch ab. Ihre Revision beim BSG hatte hingegen Erfolg.
Rechtlicher Hintergrund ist, dass schwerbehinderte Menschen mit erheblicher Gehbehinderung den ÖPNV unentgeltlichen nutzen können, regelmäßig gegen einen Eigenanteil von € 91 jährlich (ab 1.1.2025 € 104). Befreit davon sind Bedürftige, die Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem 3. und 4. Kapitel des Sozialgesetzbuches (SGB) XII beziehen.
Das BSG entschied nun, dass die Klägerin Anspruch auf Erstattung des Eigenanteils für die ausgegebene Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung schwerbehinderter Menschen im ÖPNV hat. Sie erfüllt die Voraussetzungen für eine unentgeltliche Beförderung im ÖPNV nach § 228 Absatz 1 Satz 1 SGB IX wegen ihrer Schwerbehinderung und der Zuerkennung des Merkzeichens G. Sie ist auch nach § 228 Absatz 4 Nr. 2 SGB IX von der Erbringung eines Eigenanteils befreit. Zwar erfasst die Vorschrift ihrem Wortlaut nach eigentlich nur den Bezug von laufenden Leistungen zum Lebensunterhalt (3. und 4. Kapitel SGB XII). Allerdings sind die Voraussetzungen darüber hinaus auch dann erfüllt, wenn Hilfe zur Pflege (7. Kapitel SGB XII) in einem Alten- und Pflegeheim bezogen wird. Dies folgt aus einer entsprechenden Anwendung der Regelung auf hilfebedürftige Heimbewohner*innen, die durch den Bezug von Hilfe zur Pflege dem Existenzsicherungssystem der Sozialhilfe zugehörig sind. Das BSG hat durch dieses Urteil insoweit eine planwidrige Regelungslücke im SGB IX geschlossen.
Urteil BSG vom 19.9.2024 -B 9 SB 2/23 R
Vorinstanzen: Urteil SG Braunschweig vom 24.6.2022 -S 8 SB 392/21; Urteil LSG Niedersachsen-Bremen vom 24.6.2022 -L 10 SB 107/22
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