
Foto: Hans-Willi Weis
Staufen (kobinet) Welch langer Weg von Kleinasien europawärts in nördlicher Richtung über Meer und Land bis hinauf zu uns ins Dorf. Vom Bischof zu Myra an der kleinasiatischen Mittelmeerküste im dritten nachchristlichen Jahrhundert bis zu dem weißbärtigen Mann im roten Kapuzenmantel mit dem Sack über der Schulter, den ich als Kind Jahr für Jahr am 6. Dezember nach Einbruch der Dunkelheit, das Wohnzimmerlicht ausgeschaltet und meine Nase an die Fensterscheibe gedrückt, draußen auf der Straße im Lichtkegel der Laterne zu erspähen hoffte. Die Laterne war keine Funzel mit hutförmigem Lampenschirm von anno dazumal, sondern eine helle Neonleuchte. Über der Straßenmitte zwischen Nachbars Haus und unserem Haus hing sie an einem Elektrokabel, das jeweils am Dachansatz der einander zugekehrten Hausecken befestigt war. Dort geriet sie bei stärkeren Windböen arg ins Schlingern und wurde irgendwann einmal von einer Böe derart gerüttelt und geschüttelt, dass das Kabel riss und sie an dessen Strippe durch die Luft gewirbelt auf dem Asphalt zerbarst. Ein blechernes Scheppern, lauter als das Pfeifen des nächtlichen Sturms, weckte meine Eltern und mich aus dem Schlaf und am andern Morgen waren das durch den Sturmwind vom Dach gerissene Stromkabel und die auf der Fahrbahn zerschmetterte Laterne die erste Nachricht des Tages.
Damals war ich für die gute Beleuchtung vor allem deswegen dankbar, weil man im hellen Lichtschein der Laterne bei Regen oder Schnee dessen Art und Stärke gut beobachten konnte, ein abendlicher Zeitvertreib von ganz eigenem Reiz. Zu sehen, wie der Regen rann, bei leichtem Wind in schrägen Fäden oder windgepeitscht beinahe waagrecht an der Fensterscheibe vorüberschoss. Wenn es schneit, zu erkennen, ob es sich eher um Naßschnee handelt, der gleichsam in Bindfäden senkrecht oder leicht schräg aus der Dunkelheit in den Lichtkegel fällt oder ob es richtiger Schnee ist, Bilderbuch- oder Märchenwaldschnee, der dicht und in wolligen Flocken zu Boden rieselt, so wie man es sich wünscht.
Und natürlich erst recht wünscht man es sich am Weihnachtsabend wie auch am Nikolaustag. Ein Wunsch, der selten in Erfüllung ging, am Nikolaustag noch seltener als am Weihnachtsabend. – Wie aber verhielt es sich mit dem Wunsch, der Nikolaus möge nicht erst spät abends, wenn ich längst im Bett lag, draußen vor der Tür etwas in den Schuh oder den Stiefel stecken, den ich dort zum nämlichen Zweck neben den Fußabtreter gestellt hatte. Sondern er möge schon am frühen Abend zu Beginn seiner Runde durchs Dorf bei uns anklopfen, eintreten und in seiner ganzen Größe vor mir erscheinen? Was mich sicher gleich um etliche Zentimeter schrumpfen und noch mehr zu dem Zwerg werden ließe, als der man sich den Großen gegenüber ohnehin vorkommt. Empfand ich überhaupt den Wunsch nach einer solch leibhaftigen Begegnung mit dem Nikolaus? Bis heute spüre ich, wie in den frühen Jahren, da ich noch nicht einmal zehn war, sich Begegnungen mit Gestalten wie mit dem Nikolaus, die eine mysteriöse Aura umgab, so angefühlt haben, dass in der kindlichen Brust das Erwartungsfrohe mit dem Bänglichen im Widerstreit lag und infolgedessen von einem eindeutigen Wünschen schwerlich die Rede sein konnte.
Aus jener Frühzeit erinnere ich deutlich dieses eine Mal, dass am Nikolaustag der Nikolaus tatsächlich vor mir stand. Ich saß auf der Couch, die links ans Küchenfenster anschloss und mit dem Kopfende an die Wand stieß, wo der Küchenschrank stand. In den frühen Kinderjahren war die Couch tagsüber auch mein Krankenlager, wenn ich einmal Fieber hatte oder sonst wie kränkelte. Und die Schwester gerufen wurde, meinen Zustand zu begutachten und die Gabe von Zäpfchen oder die Einnahme von Hustensaft zu empfehlen. Die Gemeindeschwester, schwarz gekleidet wie die Omas oder die alten Frauen auf dem Dorf, bloß rüstiger und das blütenweiße Diakonissenhäubchen auf der strengen Frisur.
Krank war ich meines Wissens an diesem Nikolaustag jedoch nicht. Auf dem Flur waren schwerfällige Schritte zu vernehmen, schon klopfte es an die Küchentür, mein Vater oder meine Mütter öffnete und herein trat der Nikolaus. Er stapfte durch die Gasse zwischen Küchenschrank und Küchentisch geradewegs auf mich zu, grußlos, wie ich mich zu entsinnen glaube. Ich war überrascht auf meiner Couch, wie schwungvoll er den Sack von der Schulter nahm und vor sich auf den Boden stellte, sich darüber neigte und mit dem Arm darin nach etwas angelte. Ehe er es hervorzog, blickte er mich kurz und streng an und fragte mit tiefer Stimme, ist der Bub auch brav gewesen? Ich nehme an, ich habe genickt oder ein Ja gemurmelt, denn er sagte, dann lassen wir die Rute diesmal im Sack und einen Augenblick lang sah ich das störrige Reisigbündel in seiner Hand, ein Stück von einem dieser Kehrbesen, mit denen man auf dem Land die Höfe und Rinnsteine fegte. Stattdessen nun zog seine Hand die übliche Nikolaustüte hervor und reichte sie mir. Und das war es auch schon, er richtete sich auf, schwang den Sack über die Schulter, wandte sich um, ging zur Tür, mein Vater hielt sie auf und weg war er.
Mir war es recht, ich hatte volles Verständnis, ihn in Eile und so kurz angebunden zu erleben, schließlich musste er an diesem Abend noch an zig weitere Türen klopfen. Ich vermochte es nicht, mir vorzustellen, wie der Nikolaus das überhaupt schaffen sollte, an einem einzigen Abend. Mit dem Christkind an Heilig Abend war es das gleiche, nur dass mir der Fall um ein vielfaches rätselhafter erschien, wegen der ungleich größeren Anzahl auszuliefernder Geschenkartikel, ein auf einem Schlitten sich bis zum Himmelszelt türmender Paketberg.
Die Nikolaustüte im Schoß, machte ich es mir bequem auf der Couch, ich löste das Bändchen von dem Krönlein, zog knistern das Papier der Tüte auseinander und inspizierte den Inhalt. Weihnachtsplätzchen, Dominosteine, eine dicke Navelapfelsine, das Übliche also. Eigenartig, die Plätzchen, die Zuckerbrötchen, glichen zum Verwechseln den von meiner Mutter gebackenen und schmeckten auch so. Alles in allem also eher enttäuschend, vermutlich hatte ich zu jener Zeit noch nichts von der Erwachsenenweisheit gehört, wonach sowieso die Vorfreude das Schönste sei.
Am aller schönsten meiner jetzigen Erinnerung nach war es auf alle Fälle, gelang es mir an den Nikolausabenden vom Wohnzimmerfensterplatz aus und bei ausgeschalteter Deckenlampe genau jenen Moment abzupassen, da St. Nikolaus draußen im Dunkeln auf einmal in den Lichtkegel der Straßenlaterne trat und ich ihn beim Überqueren der Kreuzung kurz zu Gesicht bekam, für einen Augenblick nur und mit pochendem Herzen. – Auch konnte es sein, dass er soeben von meiner Mutter beim Verlassen von Scheffes Haus gesichtet worden war, wo er Scheffes Karl-Robert, dem arglistigen Bengel – er hatte mir mitten auf der Dorfstraße einmal das Gesicht zerkratzt, war urplötzlich aus seinem Versteck hinter einem Hauseingang hervorgeschossen –, gewiss die verdiente Rute gebracht hatte. Und sich nun zügigen Schritts der Kreuzung der Dorfstraße mit der Bundesstraße vor unserem Wohnzimmerfenster näherte und dort gleich dieselbe im Lichtkegel der Laterne überqueren und auf Suhrsch Haus mit dem Treppenaufgang zusteuern würde. Wo er anschließend mit der ihm aufgabenhalber knapp bemessenen Zeit im Flur verschwinden würde, um in der oberen Küche dem allzeit arglosen Kläuslein – ein Namensvetter des Nikolaus zudem – einige Pfeffernüsse und ein paar Zuckerbrötchen in der mustergültigen Nikolaustüte auszuhändigen.
In den vorgerückten Kindheitsjahren, als sich das Lebensalter bereits nach zweistelligen Ziffern bemaß, ja selbst noch in den Jugendjahren, da ich über den Weihnachtsmann längst im Bilde war und am Nikolaustag mir schon lange nicht mehr den ganzen Abend über in unserem Wohnzimmer die Nase an der Scheibe plattgedrückt habe, konnte es nach Anbruch der Dunkelheit noch immer geschehen, dass meine Mutter von der Küche her rief, geh mal geschwind ans Fenster, da kommt ein Nikolaus, gerade hab ich ihn vom Küchenfenster aus gesehen. Und ich bin tatsächlich aufgestanden, knipste kurz das Deckenlicht aus und spähte aus dem Wohnzimmerfenster. Erwischte ich den rechten Augenblick, tauchte in der Tat das leuchtende Rot des Kapuzenmanns für einige Sekunden im Lichtkreis der Straßenbeleuchtung auf. – Von heute aus betrachtet erscheint es mir so, dass der Nikolaus die eindrücklichste unter den mir während der Kindheit eingeprägten mythischen Figuren gewesen ist, deren Faszination in schwächer werdenden Ausläufern ein Lebtag angehalten hat. Bis heute vergeht kein 6. Dezember, ohne dass ich an diesem Tag wenigstens einmal an den Nikolaus denke und zwar aufs Lebhafteste. Für einen kurzen Moment tritt er dann im vollen Glanz seiner Erscheinung in den Lichtstrahl der Erinnerung und mit geradezu überirdischer Intensität leuchten das prächtige Rot von Mantel und Kapuze und das Schneeweiß ihrer Borte für den Bruchteil einer Sekunde vor meinem inneren Auge auf. Sinnlich berückende Insignien einer von Anbeginn stets auch ein wenig zwiespältigen Glücksgestalt, wundersam entsprungen aus einer Art Miltonschen „Paradise Lost“ der Kindheit.
Da der Nikolaus nun einmal eine so charismatische Vergangenheit und ein solch fernes Herkommen hat, drängt sich die Frage nach seiner Zukunft förmlich auf. Gibt es ihn noch für die Generation Z und die ihr folgenden Generationen, falls es diese noch geben wird? Müsste ihm dazu nicht schon jetzt gendergerecht eine Nikoläusin zur Seite gesellt werden? BischöfInnen gibt es bei den Evangelen schließlich seit Jahren, was man sich damals im kleinasiatischen Myra, einem antiken Kaff im Grunde, sicher gar nicht hat vorstellen können. „Mulier taceat in ecclesia“ (die Frau hat in der Kirche zu schweigen), der kirchliche Maulkorb für Frauen war seinerzeit ein unumstößlicher Glaubenssatz, der alte weiße Mann namens Paulus lässt grüßen die Jahrhunderte hindurch. Und ich lasse es hiermit gut sein, denn die Frage, ob St. Nikolaus das Anthropozän überleben wird, kann ich beim besten Willen nicht beantworten.