
Foto: Momentmal In neuem Fenster öffnen via Pixabay In neuem Fenster öffnen
Staufen (kobinet) Hier kommt die aktuelle Nummer der zweimonatlich erscheinenden kobinet-Literaturbeilage. Was gibt es darin zu lesen? Eine westdeutsche Nikolausgeschichte aus der Frühzeit der alten Bundesrepublik und eine ostdeutsche Ex-Punkerin erzählt bzw. schreibt ihre TV-Story fort. Außerdem vergnügliche Miniaturen von einem Marburger Blinden und einem Schweizer Rollstuhlfahrer. – Der kleine Hans-Willi in der ersten Geschichte, der auf dem Küchensofa sitzend die 1950er-Jahre-Plätzchentüte aus den Händen des Nikolaus entgegennimmt, könnte, inzwischen graubärtig, selber einen Nikolaus spielen, einen erblindeten.
Der kleine Walter, der an heilig Abend zusammen mit seinen Geschwistern beim Weihnachtslieder-Singen Späße macht (sein Rollstuhl hat an diesem Abend dienstfrei) ist gleichfalls ein längst in die Jahre gekommener älterer Herr im Rollstuhl, der als Eidgenosse Gastkolumnen bei den kobinet-Nachrichten schreibt. Seine Anekdote erinnert an „Weihnachten bei den Buddenbrooks“ von Thomas Mann. Oh Tannenbaum in „oh Tantebaum, oh Tantebaum“ abwandelnd, marschieren Onkel Christian, stets zu antibürgerlichen Späßen aufgelegt und sein Neffe, der kleine Hanno, in den von der Tante festlich hergerichteten Weihnachtssalon. Ein familiär peinlich aus der kaufmännischen Art geschlagener Onkel und sein kränkelnder, hypersensibler Neffe, zwei Behinderte avant la lettre.
Die beiden erzählerischen Miniaturen über „Spuren im Schnee“ und über den sprichwörtlichen Schalk, der gelegentlich auch einmal Behinderten im Nacken sitzt, sind von Wilhelm Gerike, blind seit seiner Geburt 1966. Heute arbeitet er als Medienfachmann beim Deutschen Verband Blinde und Sehbehinderte in Studium und Beruf. – Einige werden, wohl zurecht, die Geschichte über den Schalk im Nacken auch als eine Verneigung lesen vor dem großen jüdischen Satiriker Ephraim Kishon. Dessen humoristische Kurzgeschichten in der alten Bundesrepublik eine schwindelerregende Auflage erzielten und deren Lektüre man, oh Wunder, der so lesebesessenen BookTok GENZI nur wärmstens empfehlen kann.
Last but not least erzählt Jennifer Sonntag, wie sie, nach ihrer unfreiwilligen Begegnung mit dem Fernsehen als junge Punkerin (davon in der Oktober- Literaturbeilage), als Erwachsene tatsächlich zum Fernsehen kam. Über ihre beruflichen Erfolgserlebnisse als blinde TV-Moderatorin und auch darüber, was sie bis zuletzt vermisst hat. – Wer mehr von Jennifer Sonntag lesen möchte, der oder die sei hingewiesen auf die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift „Drunter und Drüber – Magazin für Endlichkeitskultur“. Dort erzählt sie von ihrer Großmutter und gibt kurze szenische Einblicke in ein familiäres Vertriebenenschicksal am Ende des Zweiten Weltkriegs.