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Der Schalk im Nacken. Oder wie ich einmal Fallschirm gesprungen bin. Und Spuren im Schnee

Porträt
Wilhelm Gericke
Foto: Wilhelm Gericke

Berlin (kobinet) Die beiden erzählerischen Miniaturen über „Spuren im Schnee“ und über den sprichwörtlichen Schalk, der gelegentlich auch einmal Behinderten im Nacken sitzt, sind von Wilhelm Gerike, blind seit seiner Geburt 1966. Heute arbeitet er als Medienfachmann beim Deutschen Verband Blinde und Sehbehinderte in Studium und Beruf. – Einige werden, wohl zurecht, die Geschichte über den Schalk im Nacken auch als eine Verneigung lesen vor dem großen jüdischen Satiriker Ephraim Kishon. Dessen humoristische Kurzgeschichten in der alten Bundesrepublik eine schwindelerregende Auflage erzielten und deren Lektüre man, oh Wunder, der so lesebesessenen BookTok GENZI nur wärmstens empfehlen kann. (Aus dem Editorial)

Der Schalk im Nacken. Oder wie ich einmal Fallschirm gesprungen bin

Ich sitze im Zug. Es ist eine relativ langweilige Fahrt irgendwo mitten in Deutschland. Wir sitzen in einem dieser Abteile. Meine Frau und ich auf der einen Seite, ein älterer Herr sitzt uns gegenüber und natürlich fängt er an. Immer mit demselben Thema: Wie reist man denn als Blinder überhaupt alleine. Wie geht denn dies und wir geht das? Plötzlich spüre ich etwas in meinem Nacken. Es packt mich. Ich weiß, er ist wieder da, mein Schalk. Ephraim, so lass mich doch endlich los. Der gut gekleidete Mann grinst mich an. Er trägt einen dreiteiligen Anzug und eine bunte Krawatte dazu. Und hat die obligatorische Kippa auf dem Kopf. Na komm, sagt er, erzähl doch. Ephraim, sage ich, das geht doch nicht. Ich müsste doch ansonsten lügen. Na, erzähl, sagt er, und ich erzähle doch mal. Also. Ich habe mal mit einem Freund eine Wette verloren. Und da haben wir dann unseren Wetteinsatz einlösen müssen. Man hat uns über Russland abgeworfen. Und wir mussten die nächste Stadt finden. Beide waren wir blind. Bist du, sag mal mit dem Fallschirm abgesprungen, irgendwo in der Taiga. Bilder von einer ganzen Zeit durch den Wald. Immer Stopp voran. Einen Kompass in der Hand, damit wir auch nach Westen fanden. Wir wollten ja nach Moskau zurück. In der Nacht kletterten wir dann auf einen hohen Baum, um uns vor den Tieren zu schützen. Jo hatte Gott sei dank ein Seil dabei, so dass wir nicht herunter fallen konnten.
Am nächsten Morgen hatten wir Hunger. Joe wusste, wie man Kaninchen fängt. Mit seinem Blindenstock stocherte er so lange, bis endlich eines aus seinem Bau kam. Als gelernter Jäger wusste er, wie man damit umgeht. Er hat das Kaninchen erstmal waidgerecht erlegt, dann hat er es aufgebrochen. Und uns ein leckeres Filet zubereitet. Ich hatte mich in der Zwischenzeit nützlich gemacht und ein Feuer angezündet. So hatten wir dann längere Zeit etwas zu essen. Erst viel später erfahren, dass wir für einen der größten Waldbrände in der Taiga verantwortlich waren. Offensichtlich hatten wir das Feuer nicht richtig ausbekommen. Einmal sind wir dann auch Wölfen begegnet. Aber auch hier wusste sich Joe zu helfen. Er konnte nämlich wunderbar einen Bären nachmachen und das hat dann die Wölfe in die Flucht geschlagen. Da war ihnen dann auch egal, dass immer noch etwas von unserem Kaninchenbraten übrig war.
Nach etwa einer Woche erreichten wir eine kleine Stadt, wo wir dann telefonieren konnten. Wir hatten also unsere Wette hervorragend eingelöst. Na, Ephraim sage ich, soll ich das wirklich erzählen? Und da sitzt meine Frau neben mir, der Schutzengel. Sag’s nicht, sag‘s bloß nicht, raunt sie. Und so habe ich ihm dann wieder erzählt, dass man als Blinder doch hervorragend reisen kann. In der Bahn gibt es Ansagen, es gibt den Mobilitätsservice, den man anrufen kann, wenn man eine Umsteigehilfe braucht. Aber die Geschichte mit dem Fallschirm ist doch gut. Oder?

Spuren im Schnee

In den 90er Jahren haben wir bei einer lieben Freundin einmal im Monat zusammen gekocht. Neben dem gemeinsamen Genuss ging es auch darum, wie man Speisen am besten zubereitet und man einen Tisch einladend deckt. An einem Tag im Winter war es wieder einmal so weit. Das Essen wurde gemeinschaftlich zubereitet und verzehrt. Natürlich gab es ein paar Fläschchen guten Weins dazu, den wir uns ebenfalls schmecken ließen. Ich habe an diesem Abend etwas getrödelt und mich als letzter von unserer Gastgeberin verabschiedet. Frohen Mutes trat ich aus der Haustür. Jetzt passierten zwei Dinge gleichzeitig: Ich erschrak und war nüchtern. Was war passiert? Es hatte ordentlich geschneit. Die Uhr zeigte etwa halb zwei, eine Zeit, wo man niemanden mehr aus dem Bett holt. Der letzte Bus war ebenfalls längst gefahren. Mein Weg nach Hause war nicht schwer. Es ging immer bergab. Vier Straßen waren zu überqueren, dann ging es um eine scharfe Kurve nach rechts, dann noch einmal über die Straße und da war auch schon meine Haustür. Das ist die Theorie, die immer funktioniert, wenn es nicht gerade gefühlte 10 cm hoch geschneit hat. „Schnee ist der Nebel des Blinden“, hat ein kluger Mensch gesagt, Recht hat er. Ich nutze das Klappern meines Blindenstockes um mich akustisch zu orientieren. Auch zeigt er mir die Straßenüberquerungen an. Und nun? Erst einmal los. Bergab zu laufen ist ja kein Problem, das bekommt man ja mit. Ich werde nie die erdrückende Stille vergessen, die mich umgab. Natürlich fuhr auch kein Auto, an dessen Geräuschen ich mich hätte orientieren können. So tappte ich also langsam den Berg hinunter. Die Straßenüberquerungen waren kaum zu tasten und so bog ich natürlich zu früh ab. Das Fahrgeräusch des einzigen Autos machte meinen Irrtum offensichtlich. Ich ging irgendwo über die Straße, lief bis zur Kurve zurück, bis ich meinen eigentlichen Weg wiederfand. Ich bin lange unterwegs gewesen, bis ich endlich vor meiner Haustür stand. Heute erzähle ich lächelnd diese Geschichte. Damals habe ich ordentlich geschwitzt.