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Was Sigrid Arnade am Küchentisch mit Robert Habeck zu besprechen hätte

Sigrid Arnad an einem Schreibtisch sitzend auf dem die Tastatur eines Computers zu sehen ist. Im Hintergrund Bücherregal
Dr. Sigrid Arnade
Foto: ISL

Berlin (kobinet) Wie einem Bericht von ZEIT ONLINE zu entnehmen ist, will der Kanzlerkandidat von Bündnis 90/Die Grünen, Robert Habeck, zu Bürgerinnen und Bürgern nach Hause kommen und Wahlkampf an Küchentischen betreiben. Dies hat Prof. Dr. Sigrid Arnade vor kurzem zum Anlass genommen, den Vizekanzler und Kanzlerkandidat der Grünen zu sich nach Hause an ihren Küchentisch einzuladen. Die kobinet-nachrichten haben bei Sigrid Arnade nachgefragt, ob sie schon eine Reaktion auf die Einladung erhalten hat und vor allem, was die seit Jahrzenten engagierte Behindertenrechtlerin und Sprecherin der LIGA Selbstvertretung denn mit Robert Habeck zu besprechen hätte, wenn dieser zusagt und bei ihr vorbei kommt.

kobinet-nachrichten: Hat Robert Habeck bereits seinen Besuch bei Ihnen angekündigt?

Sigrid Arnade: Nein, ich habe nur eine Serienmail bekommen, die wohl alle Interessent*innen erhalten. Aber immerhin, besser als gar keine Reaktion.

kobinet-nachrichten: Was würden Sie denn gerne mit Robert Habeck besprechen?

Sigrid Arnade: Noch hoffe ich, dass er kommt. Dann schenke ich ihm ein Exemplar der Schattenübersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) und fühle ihm auf den Zahn, inwieweit er mit Menschenrechten im Allgemeinen und mit der UN-BRK im Speziellen vertraut ist. Dabei versuche ich, ihm zu verdeutlichen, dass die UN-BRK auch für BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein Kompass für politisches Handeln sein muss und zwar nicht nur in der Sozialpolitik.

kobinet-nachrichten: Das klingt ja ganz nett. Aber geht es etwas konkreter?

Sigrid Arnade: Konkret betrifft das letztlich alle Politikfelder, wovon ich einige exemplarisch nennen möchte.

Ich fange mal mit der Frauenpolitik an: Das gesamte Hilfenetzwerk für Mädchen und Frauen, die von Gewalt betroffen sind, muss barrierefrei werden und angemessene Vorkehrungen vorhalten. Das betrifft Beratungsstellen und Frauenzufluchtsunterkünfte, aber auch Präventionsangebote wie Selbstbehauptungs- und Selbstverteidigungskurse. Frauenpolitik muss auch die Situation behinderter Mütter verbessern, die Erwerbstätigkeit behinderter Frauen fördern und ihre Armut bekämpfen. Nicht zuletzt müssen Selbstvertretungsorganisationen behinderter Frauen verlässlich finanziert werden.

kobinet-nachrichten: Aber für das Gewalthilfegesetz sieht es doch gar nicht so schlecht aus?

Sigrid Arnade: Das ist richtig, es gibt noch eine Chance. Aber das Gesetz muss nicht nur vom Bundestag, sondern auch vom Bundesrat verabschiedet werden. Da lauern noch etliche Fallstricke. Ich mache mal mit der Wohnungs- und Verkehrspolitik weiter, zunächst zur Wohnungspolitik: Es mangelt an barrierefreiem bezahlbarem Wohnraum. Es müssen schnell viele Wohnungen gebaut werden, aber bitte barrierefrei, auch damit ältere und alte Menschen in ihren Wohnungen bleiben können. Außerdem würde ich als Rollstuhlfahrerin gerne mal am Küchentisch von Freund*innen oder Robert Habeck Platz nehmen. Derzeit müssen alle zu mir kommen. In dem selbstbestimmt gewählten Wohnraum muss natürlich auch die notwendige Assistenz gewährleistet werden.

Jetzt zur Verkehrspolitik: Der Öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) sollte bis zum 1. Januar 2022 vollständig barrierefrei sein. Hat nicht geklappt. Laut Ampel-Koalitionsvertrag sollte es nun 2026 so weit sein. Aber es passiert viel zu wenig. Auch dieses Datum wird wohl wieder ungenutzt verstreichen. Die Situation bei der Bahn wird eher schlechter als besser: Eingebaute Lifte werden nicht bedient oder funktionieren nicht; Züge werden mit defekten Rollitoiletten eingesetzt; das Bahnpersonal weigert sich, die mobile Einstiegshilfe zu bedienen. Wir brauchen verbindliche Entschädigungsregelungen sowie verbindliche Verabredungen zur Anschaffung neuer Züge, zur regelmäßigen Reinigung der Toiletten und zur menschenrechtsbasierten Fortbildung des Bahnpersonals.

kobinet-nachrichten: Was meinen Sie mit der menschenrechtsbasierten Fortbildung des Personals?

Sigrid Arnade: Die Bahnmitarbeiter*innen, die den Hublift bedienen, damit Rollstuhlfahrer*innen in den Zug ein- oder aussteigen können, sind der Ersatz für fehlende Barrierefreiheit. Sie sind sozusagen die angemessene Vorkehrung für die Übergangszeit, bis ich endlich barrierefrei selbständig ohne fremde Hilfe in alle Züge gelange. Sie spielen sich aber oft auf, als könnten und müssten sie entscheiden, ob ich mit einem Zug fahre oder nicht. Ich will im Sinne der Gleichberechtigung auch die Möglichkeit haben, schwarz zu fahren. Dazu muss das Bahnpersonal ohne wenn und aber meinen Einstieg ermöglichen.

Ich würde gerne noch zur Bildungspolitik kommen: Auch wenn schulische Bildung zur Länderkompetenz gehört, hat der Bund die Gesamtverantwortung für inklusive Bildung und muss sie auch wahrnehmen. Gemeinsam mit den Ländern und Selbstvertretungsorganisationen sind verbindliche Pläne zum Systemwechsel zu erarbeiten und umzusetzen.

Zur Sozialpolitik, Gesundheitspolitik und Arbeitsmarktpolitik habe ich mich jetzt noch gar nicht geäußert. Da muss jeweils auch viel passieren, was ich Robert Habeck dann alles gerne erklären werde.

kobinet-nachrichten: Das hat aber jetzt noch nicht sehr viel mit den „Abschließenden Bemerkungen“ nach der letzten Staatenprüfung vor dem UN-Fachausschuss von 2023 zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland zu tun, oder sehe ich das falsch?

Sigrid Arnade: Der UN-Fachausschuss drängt vor allem auf Deinstitutionalisierung in Bezug auf Bildung, Wohnen und Arbeit. Das heißt: Das Förderschulsystem, große Wohnheime und das Werkstattsystem sollen abgeschafft werden. Auf die Themen Bildung und Wohnen bin ich eingegangen. Beim Thema Arbeit müssen inklusive Alternativen zu den Werkstätten für behinderte Menschen realisiert werden.

kobinet-nachrichten: Meinen Sie, Robert Habeck kommt zu Ihnen, wenn er dieses Interview gelesen hat?

Sigrid Arnade: Jemand, der Bundeskanzler werden will, sollte auch den Mut aufbringen, an meinen Küchentisch zu kommen.

kobinet-nachrichten: Was möchten Sie zum Schluss noch loswerden?

Sigrid Arnade: Mein Appell an alle Aktivist*innen lautet: Bleibt streitbar und unverzagt, lasst euch nicht unterkriegen und stärkt euch gegenseitig!

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview und wir berichten dann, wenn Robert Habeck an Ihren Küchentisch gekommen ist.

Mit der LIGA Selbstvertretung hat Prof. Dr. Sigrid Arnade übrigens vor kurzem 10 Gebote für eine zukunftsfähige Behindertenpolitik für die Bundestagswahl 2025 veröffentlicht.

Link zu den 10 Geboten für eine zukunftsfähige Behindertenpolitik der LIGA Selbstvertretung zur Bundestagswahl 2025

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