
Foto: Stephan Laux
Villmar-Weyer (kobinet) „Was tun Sie hier???!!!“ herrscht mich ein stattlicher, etwa mittfünfziger Mann, mit üppigen Tätowierungen und einer gewaltigen Rastafrisur an. Mir fällt fast mein Kaffee aus der Hand, als er mit seiner Handfläche auf meinen Bus trommelt. „Keine Reservierung erforderlich. Auf einem unserer hundert Stellplätze werden Sie bestimmt eine Übernachtungsmöglichkeit finden“, stand auf der Homepage des Stellplatzes, nahe der Bremer Schwankhalle, neben dem ich jetzt parke. Als ich dort vorfahre, finde ich am Eingang ein Schild, mit der Aufschrift: „Komplett belegt“, vor. „Frühstücken?“, antworte ich, angesichts meiner Kaffeetasse, wahrheitsgemäß. „Sie wurden beobachtet, wie Sie die Sanitäranlagen unseres Stellplatzes benutzten, ohne auf dem Stellplatz registriert zu sein. Die Benutzung unserer Sanitäranlagen kommt einer Benutzung unseres Stellplatzes gleich. Das zieht eine Gebühr von 21 € nach sich. Wenn Sie in 5 Minuten nicht verschwunden sind, rufe ich das Ordnungsamt!“ Ich bin kurz versucht dem Rastamann, so etwas zu antworten wie: "Hey Mann! Der selige Bob Marley hätte gewollt, dass Du gechillter auf diese Situation reagierst!“ Entscheide mich dann aber für die Feiglingsantwort: „Okay, bin gleich weg!“ Ich hatte eine ungute Nacht hinter mir. In Ermangelung an Restaurants, in denen am Feiertagsabend noch ein Platz frei war und die meinem Budget entsprachen, hatte ich mir an diesem kalten Oktoberabend in meinem Bus 3 Bratwürste zubereitet. Ich hatte diese Nacht quasi in einer unterkühlten Imbissbude verbracht.
Gechillt ist ein gutes Stichwort für den Erfahrungsbericht zum Kongress in Bremen. Er verteilt sich über 5 Tage vom 01. Bis zum 05. Oktober. Zwei Tage davon möchte ich mitnehmen. Zu mehr langt meine Auffassungsgabe nicht. Als ich am Tag meiner Ankunft in der Lounge der Schwankhalle in Bremen eintreffe, tummeln sich dort etwa 20 Leute. Ich finde niemanden, der irgendwie offiziell aussieht. Also jemanden, bei dem ich mich anmelden könnte. Da treffe ich auf Fabián Aimar, einen der Initiatoren des Kongresses. Er freut sich, mich kennenzulernen und steht mir sofort für ein Gespräch zur Verfügung. Fabio, wie er genannt werden will, ist Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller. Er hat eine Zeit lang als Begleiter in einer Sondereinrichtung gearbeitet und dann beschlossen, seine Leidenschaft, das Tanzen, allen Menschen näherzubringen. Er möchte aber nicht von inklusiven Tanzprojekten sprechen. Den Begriff Inklusion hält er, genau wie ich, für überstrapaziert und fast schon kontraproduktiv. Es ist einfach ein Tanzprojekt, sagt er. „Viele Menschen wollen tanzen. Und dass Tanz verbindet, ist selbsterklärend.“
Ich bin zu keinem der Workshops angemeldet. Mir geht es während der 2 Tage, hauptsächlich darum, die Stimmung der Veranstaltung einzufangen und dafür eignet sich das Foyer der Schwankhalle vortrefflich. Teilnehmende und Referierende kommen aus ihren Workshops in die entspannt beschallte Lounge, tauschen sich aus, nehmen ein Getränk zu sich oder treffen sich auf dem Raucherhof, der jetzt bei angenehmen Temperaturen etwas Spätsommerfeeling versprüht. Hier treffe ich Julia Maiano wieder. Sie kommt, wie ich, aus Hessen und ist u.a. im Bundesvorstand der SPD Selbst Aktiv. Schon letzte Woche hatten wir teilweise unsere Rauchpausen beim Inklusiva Kongress in Mainz gemeinsam verbracht. Sie bestätigt mir meinen Eindruck, dass sich der Kongress in Bremen angenehm unkompliziert gestaltet. Gechillt eben. Und wir kommen beide zu dem Schluss, dass wir in Hessen, gerade im ländlichen Raum, noch einigen Nachholbedarf, sowohl an „Gechilltheit“ als auch an weniger „plakativ inklusiven“ Veranstaltungen haben.
Bei dieser Gelegenheit treffe ich auch auf einen jungen technischen Mitarbeiter der Schwankhalle. Weil der junge Mann alle 5 Tage in der Schwankhalle technisch begleitet und selbst Bremer ist, frage ich ihn, ob die Öffentlichkeit in Bremen diese Veranstaltung wahrnimmt. „Die breite Öffentlichkeit eher nicht. Wohl kaum einer unterbricht seinen Einkauf, um vorbeizuschauen. Allerdings sei Bremen ein Tanzhotspot, habe kulturell einiges zu bieten und sei Studentenstadt. Der kulturelle Teil des Kongresses, der sich auf mehrere Orte in Bremen verteilt, würde daher sehr wohl von Teilen der Öffentlichkeit wahrgenommen. Diese Angebote seien gut besucht.“
Ich nutze die Gelegenheit auch um ihn nach der Barrierefreiheit der Schwankhalle bzw. der Veranstaltung zu fragen. „Habt Ihr Rampen zu den Bühnen gebaut?“, frage ich ihn. „Nein. Wir haben keine Bühnen. Die Veranstaltung findet quasi auf Augenhöhe statt. Die Referierenden sollen nicht auf das Publikum herabschauen.“ antwortet er mir augenzwinkernd.
Da schaltet sich Fabio in das Gespräch ein. Auf einigen der Workshops hätten sie Gebärdendolmetscher engagiert. Im Laufe des Angebots hätte sich herausgestellt, dass alle Teilnehmenden hörend gewesen wären. Im Bemühen, den Kongress komplett barrierefrei zu gestalten, hätten Dolmetscher immer mal wieder abgesagt, weil sie krank oder anderweitig gebucht waren. Viele Teilnehmende kämen mit ihren Assistent*innen. Sie würden sich gegenseitig und selbst helfen und man würde sie bei der Anmeldung nach ihren Bedarfen fragen, wenn sie sich nicht selbst dazu äußern würden.“ Menschen müssen sich gegenseitig helfen! Das ist Inklusion!“ sagt er.
So komme ich auch noch mit anderen Helfer*innen und Mitorganisator*innen ins Gespräch. Sie arbeiten alle im Umfeld des Vereins ProdArt e.V., der als Begründer des Kongresses gelten darf. Den Kongress über 5 Tage auszudehnen, entzerrt die Veranstaltung, erzählt mir eine der Mitarbeiter*innen, es kommt kaum zu großen Menschenansammlungen und Reizüberflutungen. Alle Teilnehmenden suchten sich Schwerpunkte, je nach Ressource und Interesse. Das Konzept leuchtet mir ein.
Mit Meline Götz bietet sich mir die Möglichkeit, auch noch mit einer der Referierenden ins Gespräch zu kommen. Sie hat u.a. einen Workshop mit Sergio Meresman angeboten. Sergio Meresman kommt aus Uruguay und vertritt laut Melanie Götz alles andere als eine klassisch deutsche Sichtweise auf Themen wie Inklusion, Behinderung und Sexualität. Schade, dass ich die Gelegenheit, ihm zuzuhören, verpasst habe. Meline Götz habe ich kurz bei ihrem Workshop „Genussvolle Sexualität ermöglichen“ erleben dürfen. Mir fiel sofort auf, dass sie spontan auf ihre Powerpoint-Präsentation verzichtete und stattdessen sofort mit den Teilnehmenden in die Interaktion ging. Sie ist Sexualpädagogin und bietet Beratungen und Fortbildungen u.a. für Menschen mit Behinderung, pädagogische Fachkräfte und Einrichtungen an. Ich hatte immer geahnt, dass es so jemanden oder so etwas geben müsse. Bin aber in meiner beruflichen Praxis nie in den Genuss einer solchen Beratung gekommen. Vielleicht habe ich mich auch nicht genügend bemüht. Der Bedarf sei hoch, sagt Frau Götz.
Apropos, ahnungslos. Neben Kulturschaffenden, Erzieher*innen und anderen in der Behindertenhilfe tätigen Menschen ergeben sich noch etliche höchst interessante Begegnungen während der 2 Tage in Bremen.
U.a. komme ich mit einem Teilnehmer mit einer ebenfalls imposanten Rastafrisur ins Gespräch. Ich nähere mich ihm mit der aus aktuellem Anlass gebotenen Vorsicht. Es stellt sich heraus, dass er kein Blockwart eines Wohnmobilstellplatzes ist. Er ist von Beruf: Sexualpädagoge bei einer Einrichtung der Caritas in Dresden! Wie bitte? Eine katholische Sondereinrichtung leistet sich einen Sexualpädagogen? „Ja! Und zwar in Vollzeit!“, antwortet mir der junge Mann. Viele der Teilnehmenden hier seien Sexualpädagogen oder Sexualpädagoginnen in Ausbildung, so wie seine Begleiterin. Das sei praktisch ihr Fachkongress, hier in Bremen. Zwar liegt der Schwerpunkt ihrer Arbeit in der Behindertenhilfe noch hauptsächlich auf der Gewaltprävention sexualisierter Gewalt. Aber Sexualität würde sich langsam aus der Tabuzone heraus bewegen. Betroffene und Ihre Eltern würden das Thema immer öfter nachfragen. Die beiden müssen weiter. Sie wollen noch eine Tanzpremiere im Rahmen des Kongresses besuchen. Wow! Das kann ich als Schlusserfahrung meines Aufenthalts so stehen lassen.
Zusammen mit dem Fazit, Teil einer gechillten, im besten Sinne inklusiven Veranstaltung gewesen sein zu dürfen.
Wenn Bob Marley noch leben würde, hätte er vielleicht einen Song dazu geschrieben. Irgendetwas mit „Inkluschen, Soluschen und Revoluschen.“ Und hopefully ohne „Illuschen“.
Stephan Laux Oktober 2024