Menu Close

34 Jahre deutsche Einheit – 34 Jahre verlorene Zeit für Barrierefreiheit

Ottmar Miles-Paul
Ottmar Miles-Paul
Foto: Irina Tischer

Kassel (kobinet) Die heutige angespannte Weltlage betrachtend, können wir nach Ansicht von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul froh sein, dass die friedliche Revolution von 1989 friedlich geblieben ist und am 3. Oktober 1990 - also heute vor 34 Jahren - die deutsche Einheit besiegelt werden konnte. Womit der Behindertenrechtler in seinem kobinet-Kommentar jedoch hadert ist, dass dies auch 34 verlorene Jahre für eine umfassende Barrierefreiheit in Deutschland sind. Und das hier weiter getrödelt wird. Dabei hatte alles so gut angefangen.



Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul

Und wieder begehen wir heute einen Tag der deutschen Wiedervereinigung von 1990 – schon zum 34. Mal. Und das ist auch gut so, denn aus heutiger Sicht betrachtet darf man daran zweifeln, ob die friedliche Revolution von 1989 mit dem Fall der Mauer und der anschließenden Wiedervereinigung Deutschlands heute so friedlich möglich wäre. Bei der Feierei darf man aber auch darüber nachdenken, was alles im Rahmen der Wiedervereinigung und der Zeit danach möglich gewesen wäre. So viel dazu zu schreiben wäre, will ich mich auf den behindertenpolitisch aktuellen Bereich der Barrierefreiheit beschränken.

Hoffnungsfroh war die Behindertenbewegung in den Anfangsjahren der Wiedervereinigung und des damit verbundenen Prozesses, auch wenn es dabei so manche Schattenseiten gab. Es war neuer Schwung in die Behindertenbewegung gekommen. Behinderte Menschen in den neuen Ländern hatten sich zum Teil erfolgreich in die Politik eingemischt und mit dem Rückenwind des am 26. Juli 1990 unterzeichneten Antidiskriminierungsgesetz für behinderte Menschen, dem Americans with Disabilities Act, wehte ein neuer Wind in Sachen Gleichstellung und Barrierefreiheit auch in Deutschland. Es wurde heftig diskutiert, gefordert und sich politisch eingebracht. Und die Bewegung hatte 1994 letztendlich auch Erfolg, in dem der Satz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ ins Grundgesetz mit aufgenommen wurde.

Während daraufhin einige Jahre Lobbyarbeit für Landesgleichstellungsgesetze auf Länderebene, für die Verabschiedung des Behindertengleichstellungsgesetzes auf Bundesebene im Jahr 2002 und für das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das 2006 endlich verabschiedet wurde, aufgewendet werden musste, wurde kräftig gebaut in Ost und West. Und zwar ohne, dass es eine Verpflichtung privater Anbieter von Dienstleistungen und Produkten zur Barrierefreiheit gab. So entstanden viele neue Barrieren vor Ort, aber auch im sich schnell entwickelnden Internet bzw. den sozialen Medien.

Spätestens als am 26. März 2009 die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Kraft trat, hegten viele die Hoffnung, dass nun endlich klare Regelungen zur Barrierefreiheit auch für die privaten Anbieter verabschiedet werden. Dies gelang 2016 weder bei der Reform des Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) noch danach. Und es wurde kräftig weitergebaut. Mal barrierefrei, oft aber auch nicht. Und damit wurde die Freiheit behinderter Menschen weiterhin massiv eingeschränkt bzw. deren Teilhabe erschwert. Und dann tat sich erst mal wieder eine Weile nichts.

Als im Herbst 2021 nach der Bundestagswahl schöne und hoffnungsvolle Worte im Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP in Sachen Barrierefreiheit zu lesen waren, hegten behinderte Menschen wieder große Hoffnungen, dass es nun klare Regelungen zur Barrierefreiheit geben wird. Heute, am 34. Jahrestag der Wiedervereinigung Deutschlands müssen wir uns jedoch erneut die Augen reiben, denn immer noch liegt kein Referentenentwurf für die längst in den Schubladen liegende Reform des Behindertengleichstellungsgesetz für mehr Barrierefreiheit vor, noch irgendwelche Eckpunkte für die ebenfalls im Koalitionsvertrag versprochene Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz. Und es wird immer noch weiter gebaut und gewerkelt, ohne Verpflichtung zur Barrierefreiheit.

Wie viele Chancen für ein barrierefreies Land, wie viele Chancen für eine inklusive Gesellschaft wurden in diesen 34 Jahren vergeigt, nur weil der Schutz der Diskriminierer höher bewertet wird als der Schutz der Diskriminierten, die tagtäglich durch Barrieren in unserer Gesellschaft benachteiligt werden und weit von einer gleichberechtigten Teilhabe entfernt sind? Und diese Verhinderer haben auch einen Namen: CDU/CSU und FDP, wobei die FDP mit dem von ihr geführten Bundesjustizministerium, das jegliche Initiativen in Richtung Nichtdiskriminierung verhindert, als ob es um ihren letzten Prozentpunkt an Wählerstimmen ginge. Doch nun gehen wir in das 35. Jahr der Wiedervereinigung Deutschlands und die Hoffnung, dass wir entscheidende Schritte für mehr Barrierefreiheit erreichen, stirbt zuletzt. Bleiben wir dran, vielleicht kämpfen endlich einmal ein paar zentrale Akteur*innen für gute Rahmenbedingungen für ein wiedervereinigtes barrierefreies Deutschland!