Menu Close

Ami don´t go home – eine fortgesetzte Liebeserklärung

Silviamit weißer Kappe und Rucksack
Das Running Maid des Kolumnisten, Silvia aus Swing-State-Schwabenland
Foto: Hans-Willi Weis

Staufen (kobinet) „Ami go home“ war in den 1950er und 1960er Jahren eine Parole rechter Dumpfbacken. Dass sie Oskar Lafontaine kürzlich aus dem politrhetorischen Giftschrank hervorgeholt und auf den Deckel eines Büchleins über zeitgenössische deutsche Politik hat drucken lassen (mit dessen sachlichem Inhalt ich in weiten Teilen übereinstimme), gefällt mir gar nicht. Einen Augenblick habe ich mir vorgestellt, wie ich es fände, reiste ich als deutscher Tourist durch die USA und sähe dort in Buchhandlungen eine Titel ausliegen, der nicht ausschließt, auch an mich adressiert zu sein, „Kraut, its time to go“. – Dies kleine Ärgernis veranlasst mich, die Fortsetzung meiner Liebeserklärung mit der gegenteiligen Aufforderung als Überschrift zu versehen, „Ami dont go home“. Im Geiste zu ergänzen wäre, „es genügt, die von der US-Regierung hierzulande stationierten Atomsprengköpfe und Langstrecken-Missiles zurück in die USA zu schicken“ (und sie am besten dort auch gleich zu verschrotten).



Zwei Schmuggler auf frischer Tat ertappt

Die vorangehende Folge, Teil 1 der Kolumne, endete damit, dass Karl-Werner und ich, die beiden zwölfjährigen Quintaner, auf offener Landstraße von einer amerikanischen MP angehalten werden, deren Jeep sich langsam von hinten an uns herangepirscht hat. Wir werden aufgefordert, den Sack zu öffnen, den wir mit uns schleppen, ein für Halbwüchsige ungewöhnliches Utensil, das in den Augen Erwachsener, zumal einer Polizeistreife, einfach Verdacht erregen muss. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als die Sackkrempe auseinanderzuziehen. Die eine MP fasst ins Sackinnere und fördert ein kakifarbenes Hosenbein zutage, Teil einer zerknitterten Ausgehuniform. Sie stopft das Klamottenteil in den Sack zurück, langt mit dem Arm aber noch etwas tiefer hinein. Karl-Werner und ich schauen einander an, denn uns ist klar, jetzt sind wir geliefert, die Finger der Streife stoßen auf einen der harten Gegenstände ganz unten im Sack. So landen wir einen Moment später auf der Rückbank des Jeeps, den Sack samt Inhalt zwischen uns. Unsere Jungfernfahrt in einem Jeep der US-Army. Karl-Werner zeigt der MP am Steuer, wo es hingeht. Bei der linksseitigen Einfahrt zur Zeltstadt gleich das erste Zelt rechts. Raus aus dem Jeep, come on, die Streife schiebt uns vor sich her durch die Eingangsplane ins Zeltinnere. Mit allem scheinen unsere Auftraggeber gerechnet zu haben, bloß damit nicht, dass der Sack, mit dem sie uns vor einer guten Stunde losgeschickt haben, ihnen in diesem Augenblick vor die Füße plumpst. Eine kleine aber unmissverständliche Kinnbewegung der einen MP zu dem großen Blonden hin genügt, er bückt sich und leert den Sackinhalt auf den Boden. Ein Knäuel knittriger Ausgehuniformen, über das etliche Büchsen Bohnenkaffee kullern, kiloschwere Großhandelsware.

Von den Einzelheiten, wie wir zu unserem Schmugglerjob kamen, erinnere ich, wie uns ein hochgewachsener blonder GI ansprach, als wir eines Nachmittags bei den Zelten umher streunten. Unser zweites Jahr Schulenglisch genügte zu verstehen, er habe einen Auftrag für uns. Wir sollten einer Frau im Dorf etwas bringen, mit dem Zeigefinger wies er auf das letzte Haus beim Dorfausgang am Ende der Straße. Um was für eine Fracht es sich handelte, verstanden wir nicht, das englische Wort, das er mehrmals wiederholte und dazu mit dem rechten Arm waagerechte Bewegungen hin und her machte, sagte uns nichts. Erst als wir in jenem Haus am Ortsende den prall gefüllten Armeesack die Treppenstufen hinauf ins Dachgeschoss wuchteten und die Frau hinter dem Bügelbrett sahen, wussten wir definitiv, dass das uns unbekannte englische Wort auf deutsch „bügeln“ heißt. Die freundliche Frau nahm den Sackinhalt entgegen, das Wäschebündel und die Blechbüchsen mit dem Bohnenkaffee. Und lud im Gegenzug einen Stapel frisch gebügelter Ausgehkleidung in den Sack, dessen Gewicht sich ohne die kiloschwere Bezahlware auf dem Rückweg spürbar verringerte.

Der große Blonde und der kleine Schwarze

Der große Blonde, der Karl-Werner und mich zu sich heran gewunken und uns für den Kurierdienst angeworben hatte, war mit einem kleinen Schwarzen im Bunde. Beide füllten uns jedesmal den Sack und schickten uns damit los. Ich entsinne mich nicht, dass für uns irgend ein Obulus bei dem Unternehmen herausgesprungen wäre. Gut möglich, dass wir aus purer Abenteuerlust Gefallen daran fanden, nicht zuletzt auch aus Neugier für alles Militärische. Allein der ganze Kram, der in der walfischbauchigen Zelthöhle herumlag. Olivfarbene Planen, Decken, Kleidungsstücke, dazwischen irgendwelche Metallteile, weiß der Geier wofür, stapelweise Konserven, nebst anderen haltbaren Fressalien, darunter auch unsere Blechbomben, wie wir die Büchsen mit den Kaffeebohnen nannten, Großhandelsgröße, falls es so ein Format bei uns gibt. Der Hüter dieses Schatzes, so schien uns, war der kleine Schwarze, er führte eine Strichliste über die Sachen. Oder war er, wie man heute sagen würde, das „running maid“ des großen Blonden? Eher nicht, denn Karl-Werner und ich fanden, der ist schwer in Ordnung. Und hätte meine Mutter ihn, also den großen Blonden, zu Gesicht bekommen, würde sie sicher „ein patenter Bursch“ gesagt haben.

Slaughterhouse und Deadfactory – Schlachthof und Totenfabrik

Als ich Jahrzehnte später im vorgerückten Erwachsenenalter Melvilles Erzählung „Billy Budd“ las – nicht las, sondern hörte, in einer sehr schönen Hörversion von Christian Brückner –, trat mir ständig das Konterfei des kleinen schwarzen GI aus unserer Schmugglerepisode vors innere Auge. Obwohl Billy Budd gerade nicht klein, sondern ein Riese war und obendrein noch blond und blauäugig, wenn ich es recht erinnere. Ein Prachtkerl nicht nur der äußeren Statur nach, vielmehr auch in der Geradheit, der Aufrichtigkeit des Charakters, was ihm dann tragischerweise zum Verhängnis wird. Eine Seefahrergeschichte, von deren Dramatik Karl-Werners und meine Schmugglerstory mit ihrem harmlosen Ausgang natürlich seemeilenweit entfernt ist. In einem Punkt allerdings berühren sich die beiden Geschichten: Die fiktionale Erzählung „Billy Budd“ spielt auf einem Kriegsschiff, meine Faktuale verdankt sich einem Kriegsspiel, einem realen oder sagen wir real fingierten. Als wir das erste Mal mit dem großen Blonden das Armeezelt betraten, putzte der kleine Schwarze soeben sein Gewehr, wischte mit einem öligen Lappen den Lauf auf und ab. Er hatte eine Wollmütze auf dem Kopf und strahlte über das ganze Gesicht, ein Strahlen, so unvergesslich für mich wie der Kontrast der Schwärze dieses lachenden Gesichts zum blendenden Weiß der beim Lachen entblößten Zähne. Die Waffe in seiner Hand, da würde er drauf schwören, meinte Karl-Werner hinterher, als wir mit dem Sack unterwegs waren, das sei ein M Sixteen gewesen, ein M16 Schnellfeuergewehr. Das musst du regelmäßig putzen und ölen, so Karl-Werner, andernfalls kann es zu einer Ladehemmung kommen und Paff, schon hat dich der andere weggepustet.

Weggepustet auch hat es im November 1944 und in den darauffolgenden Monaten zehntausende junge Amerikaner in einem deutschen Wald. Davon wussten Karl-Werner und ich in unserem präpotent vorpubertären jugendlichen Leichtsinn nichts. Kam auch in der Schule auf Jahre hinaus nicht vor, der Geschichtsunterricht fing nach Steinzeit und Mammut, erst mal bei den alten Griechen an, die auf ihre altertümliche Weise Krieg spielten und Kriegsberichterstattung betrieben. „Wanderer, kommst du nach Sparta, berichte, du habest uns hier liegen sehen, ganz wie das Gesetz es befielt.“ Soll an der Schlachtstätte der Thermopylen auch später noch in Stein gemeißelt zu lesen gewesen sein. – Der Wald, indem bis März/April 1945 um die 50 000 junge amerikanische Soldaten ihr Leben ließen, kriegsberichterstatterisch noch förmlicher gesprochen „auf dem Schlachtfeld blieben“, ist der Hürtgenwald. Der liegt in der Eifel, die jenseits der Mosel sich parallel zum Hunsrück erstreckende Berg-und Buckellandschaft an Deutschlands Westgrenze. Als wir friedenszeitliche Kindersoldaten im Herbst 1963 diesseits von Eifel und Mosel am Fuß des Hunsrück uns in das dort von Großamerika veranstaltete Kriegsspiel, den „Big Lift“ einschalteten, lag die Allerseelenschlacht im Hürtgenwald gerade einmal 19 Jahre zurück. Bei der militärisch unerfahrene junge Amerikaner, wie ihnen befohlen, gegen eine kampferprobte deutsche Wehrmacht anrannten, die sie zu Tausenden abschlachtete. Weshalb die einfachen GIs untereinander nie vom „Hürtgenwald-Forest“ sprachen, sondern den Ort des Grauens stets nur die „Deadfactory“, die Totenfabrik, nannten.

Eine Bezeichnung, die in den Geschichtsbüchern, in der offiziellen War History, nicht vorkommt. Einzelne, die wie der Schriftsteller Steffen Kopetzky Nachforschungen über die Eifel-Schlachten am Ende des zweiten Weltkriegs angestellt haben, sind in der US-amerikanischen Veteranenüberlieferung,, (einem Stück „Oral History“), auf den Ausdruck „ Deadfactory“ gestoßen. Auch darauf, dass viele mit der 28. Division in den Hürtgenwald einrückenden Soldaten aus Pennsylvania stammen und deutsche, insbesondere rheinlandpfälzische Wurzeln haben, sprachlich daran erkennbar, dass in der Färbung ihres Englisch bei einigen noch Koblenzer oder Kölner Dialekt ihrer deutschen Großväter hörbar gewesen sei. – Seitdem ich von diesen historischen Hintergründen weiß (aus einem Deutschlandfunk Feature von Thomas Böhm, „Die den Schrecken des Krieges kennen“), hat meine Erinnerung an unsere Naivität und die Unbedarftheit ihrer Kriegsspielbegeisterung eine zusätzliche Facette bekommen. Seither bedauere ich, unsere rudimentären Englischkenntnisse nicht gebraucht zu haben, um den großen Blonden und den kleinen Schwarzen nicht nach ihrer Herkunft gefragt zu haben. Diesen nach seinen afroamerikanischen „roots“, jenen nach seinen möglicherweise deutschen, vielleicht sogar Hunsrücker Wurzeln. Wovon wir damals als Zwölfjährige ebenfalls keinerlei Vorstellung hatten: Dass wir unser weitgehend unbeschwertes Halbwüchsigendasein in einem von den schlimmsten Auswüchsen des Faschismus befreiten Land einer höchsten zwei Jahrzehnte älteren Generation von GIs zu verdanken hatten, als der Generation, welcher der kleine Schwarze und der große Blonde angehörten. Nämlich jener „Generation Deadfactory“, die sich dafür im Hürtgenwald geopfert hatte bzw. dort geopfert worden war. Was vielleicht einmal mehr verständlich macht, warum mir der Spruch „Ami go home“ bis heute nicht gefällt.

Szenenwechsel

Ein Häuflein amerikanischer Infanteristen, das die Verbindung zu seiner Einheit verloren hat, irrt orientierungslos in der verschneiten Landschaft umher. Ziemlich abgerissene Gestalten, ihre Bewaffnung besteht noch aus einem einzigen Karabiner sowie dem Messer, das zur Army-Ausrüstung der vier oder fünf gehört. Unter ihnen der siebzehnjährige Billy Pilgrimm, der sich in selber zugeschnittenen Gummilatschen an den wundgescheuerten Füßen nurmehr mühsam vorwärtsbewegt und immer wieder in Absencen, eine geistige Abwesenheit, verfällt und sich auf einen fremden Planeten halluziniert. Ihre Hoffnung, doch wieder irgendwie irgendwo Anschluss zu finden an General Pattons im französisch-deutschen Grenzgebiet operierende Panzertruppen, erfüllt sich nicht. Ein paar „Krauts“, Wehrmachtsangehörige mit Schäferhund, nehmen sie gefangen und an den folgenden Tagen werden sie im Eisenbahnwaggon, vollgestopft mit anderen US-Kriegsgefangenen, nach Dresden verfrachtet. Dort landet der Gefangene Billy Pilgrimm im Schlachthof, Gebäude Nummer 5. Daher der Titel von Kurt Vonneguts Roman, in dem dies alles geschildert wird, „Slaugterhouse five“. – Erzählt wird auch, wie Billy die Bombardierung Dresdens erlebt, die durch die Feuersbrunst auf halbe Körpergröße geschrumpften und in den Straßenasphalt eingebackenen Leichen und dergleichen mehr an leibhaften Schreckensbildern. Die gesamte Stadt ein einziges Schlachthaus. Kurt Vonnegut (man muss seinen Namen nicht unbedingt englisch aussprechen, er hat deutsche Vorfahren) hat „Slaughterhouse five“ mit einem weiteren Titel versehen, „ A childrens Crusade and Dutydance with Death“.

„Deadfactories“, in denen junge Amerikaner zu Zehntausenden geschlachtet wurden und ein gigantischer Kinderkreuzzug, beidem verdanken die Deutschen ihre einstmals ungewollte Befreiung vom Faschismus alias Nationalsozialismus. Je älter ich werde, umso mehr wird mir übel, wenn ich miterleben muss, wie man uns derzeit – obgleich vorerst nur spielerisch, kriegsspielerisch – wieder an Deadfactories, deren Planung und Errichtung, an Fabriken zur Erzeugung von Kriegstoten, als eine Notwendigkeit oder Selbstverständlichkeit gewöhnen möchte.

Zwischen „California Dreaming“ und „Bloodbath Nation“

Eines Tages, nach Eintritt in die Pubertät, war meine Faszination für Militär-und Kriegsspiel verflogen. Und mit ihr die infantile Begeisterung für die Leistungen Amerikas auf diesem Gebiet. Zeitlich war man in die zweite Hälfte der 1960er Jahre vorangerückt und in Presse, Funk und Fernsehen gab es immer häufiger Meldungen und Berichte über den Vietnamkrieg. Und über Proteste gegen denselben, Studentendemonstrationen so gut wie ausschließlich. Die die USA zum Aggressor erklärten und sich mit dem vietnamesischen Volk und dem für dessen Befreiung kämpfenden Vietcong solidarisierten. Ein Kampf David gegen Goliath, dazu angetan, der sich gegen die haushohe militärische Übermacht zur Wehr setzenden Kriegspartei alle Sympathien zuzuführen. Vor allem bei einer idealistischen Jugend empörte sich das Gerechtigkeitsempfinden und mobilisierte Protest-und Widerstandsenergien. Gerade auch innerhalb der kriegführenden Nation selbst, im Großen Amerika, der „Führungsmacht der freien Welt“.

An unserer Schule in der gymnasialen Oberstufe trugen Hartmut und ich – er war mein gleichgesinnter Klassenkamerad, der neben mir in der Bank saß – einen Ansteckbutton mit der Aufschrift „Stopp US-Aggression in Vietnam“. Nordvietnam, Verbündeter des in Südvietnam operierenden Vietcong, „in die Steinzeit zurückbomben“ zu wollen, versprach der US-Oberbefehlshaber General Westmoreland. Es war das Jahr 1968, über dem „Ho-Chi-Minh-Pfad“ und dem nordvietnamesischen Hanoi luden die B52 Bomber ihre Megatonnen-Bombenlast ab, während im Dschungel der südlichen Landesteile die amerikanischen Bodentruppen den einheimischen Guerilla-Kämpfern gegenüberstanden. – Unseren Schulenglisch-Wortsatz ergänzten Hartmut und ich mit Englischvokabeln aus der Kriegsberichterstattung wie dem „Bodycount“ , dem Zählen der Toten nach dem Gefecht, auf manchen Fotos sah man sie wie die Heringe nebeneinander aufgereiht liegen. Am Kriegsende ergab der summarische Bodycount auf amerikanischer Seite ca. 50 000 Gefallene US-Soldaten. Die von den CEOs im Präsidentenamt Lyndon B. Johnson und Richard Nixon in Vietnam betriebene „Totenfabrik“ hatte damit in etwa gleich viele Tote produziert (nur die amerikanischen Gefallenen gezählt), wie seinerzeit die „Deadfactory“ im deutschen Hürtgenwald.

Hartmuts Vater, ein Hauptschullehrer, hatte den SPIEGEL abonniert und sie besaßen auch einen Fernseher, an dem Hartmut die kritischen Reportagen des Politmagazins „Panorama“ verfolgte. Dies waren unsere beiden Hauptquellen, aus denen wir uns über das Kriegsgeschehen in Vietnam informierten. Kein Vergleich zum heutigen „Information Overkill“, gewissermaßen dosiert erreichten uns die Bilder vom Schrecken des Kriegs. Und vermittelten mir, dem Siebzehnjährigen, in kürzester Zeit ein Amerikabild, das dem bis zu meiner Pubertät gültigen diametral entgegengesetzt war. Ein zur Identifikation untaugliches, weil auf hässliche Weise kriegführendes Amerika, dessen Kriegsmaschinerie nicht nur Kombattanten, sondern auch Zivilisten schlachtete, Männer, Frauen, Kinder. „Hey, hey, L.B.J., how many kids did you kill today?“ So skandierten die Teilnehmenden an den Antikriegsprotesten überall in den USA, auf dem Universitätscampus, bei Sit-ins, Demonstrationen.

Kurz, ehe ich mich versah, bot sich mir da bereits ein entwicklungspsychologisch angemessener Ersatz für mein verlorenes Liebesobjekt. Ein neues, der Idealisierung und Identifikation würdiges Friedens-Amerika, eines, das für Love and Peace aufstand, ein Amerika zum Verlieben. Dessen Soundtrack die Rockmusik war, wie sie auf den Festivals von Monterey von 1967 bis Woodstock 1969, von der Westküste bis zur Ostküste, zu hören war. Ein Song wie „California Dreaming“ von den „Mamas and Papas“ (die deutlich genug abstachen von meinen leiblichen Eltern) war das Versprechen eines besseren Amerika, welches das hässliche der „Bloodbath-Nation“ hinter sich lassen würde (um mir Paul Austers Buchtitel jüngeren Datums für meine alte Erinnerungsgeschichte auszuleihen).

Unterwegs mit dem Windhund oder „Babylon by Bus“

„Babylon“ – das Babylon der Lyrics auf Bob Marleys Alben „Babylon by Bus“ oder „Exodus“ – ist eine andere Chiffre für das Amerika des Imperialismus. Der leider noch nicht abgedankt hat, als ich 1983 mit meiner Schwester zusammen durch den Südwesten der USA reiste. Der Präsident hieß Ronald Reagan und fantasierte in geistig beschränkter Starwars-Manier von SDI (Strategic Defense Initiative) einer atomaren Weltraumraketenabwehr. Und in Alteuropa und speziell in Old Germany hatten die tonangebenden Politiker nichts eiligeres zu tun, als mit ihm die Pershing II Nato-Nachrüstungsraketen in Deutschland zu stationieren. Während meine Schwester und ich uns also auf die Suche nach den Spuren des California Dreaming America machten und uns im Greyhound-Bus über Land kutschieren ließen. Zu einem etwas ermäßigten Fahrpreis, denn meine Schwester hatte bei der Busgesellschaft einen Ausweis erworben, der sie als mein „Attendant“ auswies, meine Sehbehinderten-Betreuerin also. Der ADA, der American Desability Act, wurde erst 1990 verabschiedet und ich weiß nicht, ob es auch darauf zurückzuführen ist, dass wir außer mir während unserer monatelangen Tour keinem anderen sichtbaren Behinderten oder einer Rollstuhlfahrerin begegnet sind.

Wenn man unterwegs mit dem Windhund bzw. dem Greyhound stundenlang Meile um Meile durch die monotonen Steppen- und Wüstenlandschaften Arizonas und Nevadas schaukelt, fällt man leicht in Trance und es überkommt einen das „Born to be wild feeling“, wie es sich beim bloßen Anhören der Easy Rider Platte von „Steppenwoolf“ daheim im stillen Kämmerlein nicht einstellt. Und möglicherweise versteht man dann auch, was der Emigrant und jüdische Flüchtling aus Nazi-Deutschland Theodor W. Adorno – in den 1940er Emigrationsjahren nach Pacific Palisades unterwegs – gemeint hat mit seiner Bemerkung die amerikanische Landscape komme ihm stets „so unrasiert“ und „ungekämmt“ vor und es ihr sichtlich fehle, „auch einmal gestreichelt zu werden“. Da geht es, denke ich mal, bis zum heutigen Tag den meisten Durchschnittsamerikanern wahrscheinlich nicht viel anders als ihrer Landschaft. Das in den Rock-Lyrics der Sixtees besungene und beschworene hedonistische Wildheitsversprechen wurde nicht eingelöst. Statt „Wildheit“ nach ihrer zärtlichen Seite hin auszulegen, zu entwickeln, zu kultivieren, scheint sich im gegenwärtigen Amerika ihre zwischenmenschlich maximal brutale, barbarische Variante des neoliberalen „catch as catch can“ durchgesetzt zu haben. – Aber 1983 sitzend und dösend im Grauen Hund, der auf schnurgerader Highway-Piste unter einem stahlblauen Himmel durch die farblose und struppige Einöde irgend einem Zielort zustrebte, mochten meine Schwester und ich noch nicht alle Hoffnung auf ein besseres Amerika fahren lassen.

Ich weiß nicht mehr, ob wir davor Monument Valley besucht hatten und das Navajo-Reservat, kann sein, jetzt könnte Las Vegas die nächste Zwischenstation gewesen sein, wo wir – einen Aufenthalt in dem Eldorado für Spielsüchtige planten wir nicht – lediglich den Greyhound wechseln sollten und uns ein Weilchen Wartezeit auf den Anschlussbus bevorstand. In der Station angekommen, kletterten wir mit allen anderen Passagieren, dieser Greyhound endete in Las Vegas, mit steifen Gliedmaßen aus dem Bus und drängten uns wie die übrigen um den Driver, um von ihm unsere beiden Rucksäcke aus dem Bauch des Fahrzeugs in Empfang zu nehmen. Anscheinend lagen unsere Säcke ganz hinten in der Bauchhöhle, denn ein ums andere Mal hatte der Fahrer Gepäckstücke anderer Fahrgäste am Wickel. Wir müssen ihn dermaßen entgeistert angestarrt haben, als er Anstalten machte, die Gepäckladeklappen zu schließen und ihm das „stopp, our backpacks“ meiner Schwester in die Parade fährt, dass er ihr mit spöttischer Gebärde bedeutete, sich dann doch zu ducken, den Kopf einzuziehen und selber von der gähnenden Leere dort drinnen zu überzeugen.

Redaktionelle Notiz: Fortsetzung folgt, in der erzählt wird, was sich nach der unangenehmen Überraschung im nächtlichen Las Vegas weiter zugetragen hat und wie wir auch dieses amerikanische Abenteuer mit Bravour bestanden haben und reich an Erkenntnis aus ihm hervorgegangen sind.