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Liebeserklärung an Amerika

die Flagge der USA
Amerikanische Elegie: Ein Kolumnist erinnert sich an sein Amerika
Foto: Gemeinfrei

Staufen (kobinet) „Good morning America, how are you,“ sang Arlo Guthrie morgentlich munter in den aufbruchsbereiten Sixtees, „so dont you know me, Im your native son.“ Was ich schon mal nicht bin, eingeborener Amerikaner. Bin 1951 in Idar-Oberstein zur Welt gekommen, also nicht „am Fuß der blauen Berge“, sondern zu Füßen des Hunsrück, deutsche Provinz. Egal, bereits 1951 war Amerika irgendwie überall. Beleg dafür: Die zwei in Idar-Oberstein geborenen Willis von Rang und Belang. Der eine ist Bruce Willis, der andere der beiden Willis bin ich, der Hans-Willi. – Eine authentisch deutsch-amerikanische Zwillingsgeschichte, wie ihr sie so noch nirgends gelesen habt.



Wie es den beiden Willis heute geht, also Bruce und mir

Zunächst einmal muss ich sagen, dass ich mir echt Sorgen mache wegen Bruce. Klingt gar nicht gut, was ich da so höre, im Netz, wir telefonieren ja nicht miteinander, haben wir noch nie gemacht. Kurz gesagt, Bruce ist dement. Richtig gehört, der Gewinner des Golden Globe Award, stolzer Träger der Goldenen Palme des Filmfestivals von Cannes, hat Alsheimer. Bruce Willis Schauspielerkarriere ist zu Ende, sollte er noch Filmpläne gehabt haben, kann er vergessen. Tut mir ehrlich leid für ihn. Auch wenn wir außer der Idar-Obersteiner Nachbarschaft unserer frühen Kindheitsjahre nicht viel miteinander zu tun gehabt haben.

Seine Demenz, meine Erblindung, ist das vergleichbar? Als Altersschicksal, meine ich. Für den Fall, man betrachtete die beiden Willis als Rivalen, von denen der eine ein Filmstar wird und der andere, meine Wenigkeit, ein Nobody, könnte man sagen, die zwei sind jetzt endlich quitt, der eine blind und der andere dement. Waren wir aber nicht, Feinde oder Rivalen. So wenig wie miteinander befreundet. Wären wir Freunde geworden, würde ich doch zu ihm fliegen. Sagen, mach mal Kopfstand, Bruce, täglich, so wie ich, sorgt für Durchblutung. Nicht nur im Kopf. Das ärztliche Herumdoktern an deiner Hirnmasse schadet womöglich mehr, als dass es hilft. – Aber wie gesagt, befreundet sind wir auch nicht. Und deshalb muss man sich nicht wundern, wenn Bruce Willis auf seine alten Tage nicht kopfsteht.

Bruce ist sogar vier Jahre jünger als ich. Es muss eben nicht immer der Ältere zuerst dement werden. Als Bruce 1955 bei uns in Idar-Oberstein das Licht der Welt erblickte, war ich, der 1951 geborene Willi, vier Jahre alt, hatte längst laufen gelernt und mich aufs Töpfchen setzen, statt in die Windeln zu machen oder in die Hose zu scheißen. Doch was heißt das Licht der Welt erblickt, Bruce kam in einer Kellerwohnung zur Welt. Oder jedenfalls stand dort Bruce Kinderbettchen, während ich ein paar Straßen entfernt oberirdisch zur Welt gekommen war, im Einfamilienhaus meiner Eltern. Der eine, die ersten Lebensjahre unter der Erde, der andere über ihr wohnend und auf dem Töpfchen thronend, hatten die beiden Willis von Anfang an unterschiedliche Startbedingungen. Für mich, den Willi an der lichten und luftigen Oberfläche der Erde, schienen es zunächst die günstigeren Ausgangsbedingungen zu sein. Doch da zogen Bruce Willis Eltern, ein GI und sein nachkriegsdeutsches Fräulein – Bruce wird gerade mal gelernt haben aufs Töpfchen zu gehen, statt sich in die Hose zu machen –, auch schon aus der Kellerwohnung aus und flogen mit ihm nach Amerika. Ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten, während ich im Fünfziger-Jahre-Deutschland zurückblieb. Noch ehe also überhaupt Gelegenheit für sie gewesen wäre, sich zu sehen, hatten sich die beiden Willis schon wieder aus den Augen verloren.

Und während der eine von uns, Bruce Willis, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten seine Filmkarriere startete, blieb mir, dem anderen Willi, im zurückgebliebenen Deutschland nichts anderes übrig, als zügig mit meiner Nobody-Karriere durchzustarten. Da verrate mir nun jemand, wer von uns Zweien – der eine inzwischen dement, der andere schon lange blind – schlussendlich das bessere Los gezogen hat. – Er sei mit einem silbernen Löffel im Mund geboren worden, sagt Pozzo di Borgo von sich, der Topdog der beiden Typen aus „Ziemlich beste Freunde“. Und bricht sich dennoch das Genick. Von Geburt an einen silbernen Löffel im Mund, stelle ich mir auch alles andere als unanstrengend vor. Eine lebenslange Behinderung irgendwie, mit der man womöglich auch noch andere behindert. Dann lieber ein Nobody, sage ich mir, denn Hauptsache, du bist überhaupt wer und fühlst Dich wohl dabei. Und wovon ich nicht minder überzeugt bin: Wären Bruce und ich ziemlich beste Freunde geworden und hätten uns nicht so knapp verfehlt, wir hätten es der Welt gezeigt, die sähe heute nicht dermaßen beschissen aus.

Keine Ahnung, wo in den USA die Familie Willis damals gelandet ist. Möglicherweise über kurz oder lang, falls Papa Willis bald darauf seinen Abschied von der Army genommen haben sollte, auf einer Ranch am Fuß der Blauen Berge. Die Zeit, in der in Deutschland die ersten Fernseher auftauchen, auf deren Schwarzweiß-Bildschirmen die ersten Wildwestserien für Kinder und Jugendliche laufen, „ Am Fuß der Blauen Berge“ eben und die „Rancher“, „Bonanza“ folgt wohl etwas später. Weil wir zu Beginn der 1960er Jahre zuhause keinen Fernseher hatten, nur den Radiokasten im Wohnzimmer, bekam ich davon nur soviel mit, wie am anderen Morgen in der Schule dem spontanen „Reinactment“ meiner Mitschüler an Action, an Handlungsfragmenten und Namen von Protagonisten, zu entnehmen war.

Bruce Willis ist übrigens noch einmal nach Deutschland gekommen. Irgendwann in den 2000er Jahren machte er, wahrscheinlich unterwegs zu einem Drehtermin, bei einem Zwischenstopp von Frankfurt Airport aus einen Tagesabstecher in seine Geburtsstadt Idar-Oberstein (das in der Nähe an der Nahe noch immer zu Füßen des Hunsrück liegt). Die müssen dort vollkommen aus dem Häuschen gewesen sein, nötigten Bruce, dem Filmstar, lästiges Händeschütteln auf dem Rathaus ab und dieses ganze Theater. Ein oder zwei Minuten wurde er sogar in der Straße mit der einstmaligen Kellerwohnung gesichtet. Stelle mir vor, wie eine Frau aus der Nachbarschaft zufällig aus dem Fenster schaut, nicht an sich halten kann und schreit, mich trifft der Schlag, das ist doch der Bruce Willis. Ehe sie noch aus der Haustür stürzen und ihm auf die Schulter klopfen kann, Bruce alter Junge, wie geht es dir, hatte der sich aus dem Staub gemacht – würde ich nicht anders gemacht haben. Weil ich seit Jahrzehnten Idar-Oberstein am Fuß des Hunsrück den Rücken gekehrt hatte, sind wir, die gebürtigen Idar-Obersteiner Willis, auch diesmal einander nicht begegnet. – Mir geht nur soeben der Gedanke durch den Kopf, könnte Bruce aufgrund der schlecht belüfteten Kellergeburt eine Frühschädigung davon getragen haben? Die sicherlich nicht seiner Filmkarriere hinderlich gewesen ist, diese jedoch via Demenz früher beendet. Clint Eastwood, der Unsympath, hat bis ins hohe Alter gedreht. Wäre eine derartige Spätfolge medizinisch denkbar?

Welcome auf Alcatraz – Stippvisite am Ort eines unliebenswürdigen Amerika

Der Name Clint Eastwood führt mich zu einem anderen Schauplatz und zwar unmittelbar auf dem Territorium von „gods own country“. 1983 besuchten meine Schwester und ich auf einem Ferientrip durch den Südwesten der USA jenen Ort. Davor haben wir bereits andere und darunter durchaus liebenswürdige Schauplätze touristisch in Augenschein genommen, in und um Los Angeles, wie Monteray und natürlich San Francisco. Sind per pedes auf dem Sidewalk über die Golden Gate Bridge gepilgert. Jetzt noch läuft mir ein Schauer über den Rücken, denke ich an den Wahnsinnsblick nach unten und daran, dass Leute das stählerne Gerüst der Brückenbalustrade wie eine Barrikade erklimmen, um sich hinabstürzen und von den Fluten in der Tiefe verschlungen zu werden. – Dann lieber, wenn schon lebensmüde, dem Sog des Blicks nachgeben, mit dem Auge nach oben gleiten, die mächtigen Eisenstreben entlang, an diesen rostroten Riesen empor sich in schwindelerregender Höhe verlieren. Golden Gate auf Schusters Rappen also, überhaupt sind wir viel zu Fuß unterwegs. Sonntag nachmittags haben wir uns im Peoples Park vollkommen relaxed in der „easy going drift“ (der kreuz und quer umher und luftig umeinander wirbelnden Folks jedweder Couleur und sämtlicher Sozial-und Altersklassen) zeitlos treiben lassen. Dem Gezappel der Breakdancer neben ihrem Ghettoblaster zugesehen, die Schlangenlinien, Pfeilgeraden, Serpentinen, weit ausschwingenden Bögen und Loops der Skateborder bestaunt, den über die Köpfe hinweg schwirrenden Frisbee-Scheiben hinterher geschaut. Wie angenehm, Volksfeststimmung einmal ohne die entweder aufgesetzte Lustigkeit oder derbe Ausgelassenheit deutscher Jahrmarktsgaudi. Und an Fischermans Wharf haben wir uns wie alle Besucher dort aus den aufgerissenen Mäulern plump und blöd glotzender Seehunde anblöken lassen.

Schließlich findet meine Schwester – im Vollbesitz ihrer Sehkraft die Routenplanerin in unserem Zweierteam –, es sei an der Zeit, uns ein Kontrastprogramm zu Gemüte zu führen, um den American Way of Life nicht bloß ausschnittsweise, sondern seiner ganzen Breite nach in den Blick zu bekommen. Und setzt einen Besuch auf der Gefängnisinsel Alcatraz auf unser Besichtigungsprogramm. Halb so wild, denke ich, mittlerweile ja nur mehr ein Gefängnismuseum. Neben anderen Schaulustigen an Deck schipperten wir mit dem Fährboot die anderthalb Seemeilen aufs felsige Eiland hinüber, das an sich wenig einladend aus den Fluten der Bay ragt. Von 1933 an, dem Jahr, als man das seit Bürgerkriegstagen dort gelegene Fort in ein Gefängnis verwandelte, bis zum Jahr 1963 diente die Felseninsel als Hochsicherheitsknast für schwere Jungs. Vom Kaliber Machine Gun Kelly, Al Capone und wie sie alle hießen und zum Teil durchs Kino verewigt wurden. In dem für die Besichtigung hergerichteten Zellenblock ging es über endlose Treppenstufen hinab ins Verlies, wo uns der Museumsguide durch die Gänge schleuste und sein Repertoire an Schauergeschichten abspulte.

What I remember 41Jahre later von unserem Besichtigungstermin am Gruselort? Geblieben ist vor allem dieser eine sinnenstarke Eindruck: Meterdickes Gemäuer, Rauputz, fad grüner Anstrich, oben unten, rechts und links von dir. Die grüne Farbe bot die beste Gewähr gegen Tobsuchtsanfälle, wusste ich aus dem schulischen Malunterricht, grün wirkt maximal besänftigend, sogar auf Raubtiere. Das andere Bild, das sich bis heute erhalten hat, der Blick durch bodentiefe Gitterstäbe ins Innere jener Zelle, die man auch in dem Clint Eastwood Movie „Escape from Alcatraz“ sehe, so unser Führer. Ein quadratischer Kubus, leer, desperatly nothing, eine gemauerte Pritsche längs der rechten Wandseite, in der Ecke der gegenüberliegenden eine Öffnung am Boden, das Loch zur Bedürfnisverrichtung. Das wars, nothing else. – Häftlinge in einer Zelle wie dieser an einem Ort wie diesem waren, dafür gab es ein einziges Wort, lebendig Begrabene. Desto unglaublicher, dass es während der drei Jahrzehnte Betriebsdauer der todsicheren Verwahranstalt Häftlingen trotzdem immer wieder gelungen sein soll, ihrem steinernen Grab zu entkommen. Wenngleich nur für die kurze Frist einer wilden Freiheitsillusion, so lange, bis die Stärke der Meeresströmung, gegen die sie anschwimmen mussten und die eisige Wassertemperatur in der Bucht ihnen den Garaus machte. Den spektakulärsten Fluchtversuch brachte Clint Eastwood mit seinem Film auf die Leinwand. Das Gefangenentrio entwich durch einen vom Salzwasser porös gewaschenen Lüftungsschacht, nie wieder ward es gesichtet, weder tot noch lebend.

Meine Schwester und ich hingegen waren nach unserem vergleichsweise kurzen Alcatraz-Aufenthalt nach wie vor quicklebendig, kampierten wir doch anderntags am Abend bereits auf dem Gelände des Yosemite Nationalparks. Als ich am nächsten Morgen aus der Zeltluke kroch, stolzierte einige Armlängen entfernt eine Krähe auf und ab, die geschätzt den fünf- bis zehnfachen Leibesumfang unserer heimischen Exemplare besaß. Was ich sinnbildlich als frühmorgendlichen Beleg für die Erkenntnis nahm, dass in der transatlantischen neuen Welt alles mindestens zwei- bis dreimal so umfänglich, so groß oder great – oder sollte man sagen monströs – ist wie bei uns in Alteuropa. – Allein dieser auf Schritt und Tritt sinnfällig beglaubigten Tatsache halber lohnte sich damals noch eine Reise nach Amerika. Während man heutzutage, um mit dem Ungeheuer namens Zukunft in Tuchfühlung zu gehen, nicht nach Amerika, sondern ins Reich der Mitte reisen muss. Und das Stück Chinesische Mauer, das man dort zu Gesicht bekommt, wird mit der Mensch und Monster identifizierenden, das Menschliche mit dem Monströsen ineinssetzenden „Alcatraz-Gänsehaut-und-Gruselevent-Qualität“ ohne weiteres konkurrieren können. Um den staunenden Mauergästen, den Chinese Wall Visitors, einen Vorgeschmack dessen zu vermitteln, mit was sie zukünftig zivilisationsgeschichtlich noch alles werden rechnen dürfen, ganz im Sinne der altgriechisch sophokleischen Einsicht „nichts ungeheurer als der Mensch“.

Klein Amerika hinterm Friedhof

Das leibhaftige Amerika meiner Kindheit begann gleich hinterm Friedhof. Das Amerika der Wildwestfilme im Kino und im Fernsehen kam erst später. Mein heimisches Kindheitsamerika war die Straßburg-Kaserne, das Areal der frei zugänglichen Wohnblocksiedlung für Familien und Armeeangehörige linker Hand des Friedhofaufgangs. Das eigentliche Kasernengelände hinter unbefugten Zutritt verwehrenden Mauern und Palisaden lag rechter Hand am unteren Saum des Friedhofterrains. Klein Amerika umschloss sozusagen hufeisenförmig unseren dörflichen Totenacker. In dessen Mitte stand auf einer kleinen Anhöhe ein Lindenbaum, unter welchem zwei Bänke zum besinnlichen Ausruhen einluden. Neben der rechten Bank eine halbhohe Gipssäule, an der ein Engel lehnte, den Arm auf den Säulenstumpf gestützt, die Wange und das lockige Haupt in die Handfläche geschmiegt, ein seliges Lächeln auf dem Gipsgesicht. Ich machte mir einen Spaß daraus, mich wiederum an den Engel zu lehnen und ihm meinen Arm um den Hals zu schlingen. Wehte zufällig im gleichen Moment das Trompetensignal des Zapfenstreichs aus der Kaserne herüber, hatte ich manchmal das Gefühl, unsere Skulptur hebe vom Erdboden ab und drehe himmelwärts eine Ehrenrunde über dem Gesamtareal aus Friedhof, Kaserne und Klein Amerika. Das hätte Bruce Willis sehen sollen, wäre er nicht nach Groß Amerika entfleucht.

„Das Grab muss noch gegossen werden“, lautete einer der sommerlichen Standardsätze zuhause, „sonst sind die Blumen vertrocknet“. Mit denen sich meine Mutter solche Mühe gemacht hatte, damit es ordentlich aussieht und die Leute nicht reden. Die Oma war fürs Grabgießen zuständig und ich ging ihr dabei zur Hand. Auf dem Weg zum Friedhof kamen wir an der Kaserneneinfahrt vorüber, dem weiß gestrichenen Schlagbaum und dem grauen Wachhäuschen aus Stein mit dem Pyramidendach. Zwischen Schlagbaumende und Wachhäuschen war ein Durchschlupf für Fußgänger, auch Zivilisten, die der Wachposten bei Vorzeigen eines Passierscheins durchwinkte. Durch ihn gelangte auch ich jenes eine Mal aufs Kasernengelände, was für mich zu einem Initiationserlebnis erster Güte werden sollte. Zu verdanken hatte ich diesen kindlichen Entwicklungsschub Tante Gerda, meiner „Got“, die näheren Umstände liegen im Dunkeln, vermutlich arbeitete sie ein oder zweimal die Woche für einen Armeeangehörigen. Zählte also zu den Begünstigten im Dorf, die „ins PX“ konnten. „Was, du kannst ins PX, bringste mir was mit?“ Diesen Satz bekam sie wahrscheinlich mehr als einmal wöchentlich zu hören. – Als Tante Gerda mich und Annelie, ihre Jüngste, die so alt war wie ich, sieben oder acht, ins PX mitnahm, kauften wir nicht nur ein, sondern gingen anschließend noch nebenan ins Kino. Mithin eine zweifache Initiation, eine doppelte Einweihung an einem einzigen Nachmittag.

Zum ersten Mal im Leben passierte ich eine Supermarktkasse mit einer echten Kassiererin, eine Angestellte im adretten Overall, die den ganzen Tag über nichts anderes tat als nur Kassieren. Ich staunte nicht schlecht, was es bereits hier in Klein Amerika an großamerikanischem Fortschritt zu besichtigen gab. Beim besten Willen erinnere ich mich nicht an einen einzigen Einkaufsartikel. Stelle mir vor, dass es für Annelie und mich mindestens einen Wrigley Kaugummi gab. Ob auch „Icecream“ aus der Kühltruhe? Eher nicht, denke ich, das Eis wäre hinterher in der stickigen Raumluft des Kinos geschmolzen und zerlaufen, aus Gerdas Einkaufstasche hätte es getropft und ein dünnes Rinnsal wäre nach vorne zur Kinoleinwand geflossen, vor der sich die klebrige Flüssigkeit in einer Pfütze gesammelt hätte. – An eines allerdings erinnere ich mich genau: Nachdem im Kinoraum das Licht ausgegangen war und wir wie in Platons Höhle in absoluter Dunkelheit nach vorne auf die Leinwand starrten, wurden nacheinander zwei Filme vorgeführt. Ein Vorfilm in Schwarzweiß und dann der Hauptfilm, der in Farbe war. Im Vorfilm fuhr eine Kolonne schwarzer Limousinen durch graue Häuserschluchten, nahm scharfe Kurven und stoppte plötzlich, schwarz gekleidete Männer mit Schießgewehr sprangen aus den Autos und eröffnete das Feuer auf andere schwarz Gekleidete und Maskierte. Wäre ich mir heute sicher, dass es sich nicht doch um Stummfilmszenen gehandelt hat, die lediglich mit Musik und Geräusch unterlegt waren, würde ich schwören, zum ersten Mal den Namen Al Capone gehört zu haben. Der darauffolgende Spielfilm in Technicolor war selbstverständlich ein Western. Die mit Feuerwaffen bestens ausgestattete Kavallerie der Blauen gegen eine Horde primitiver Rothäute. Der Film zeigte zum Vergleich, wie Kasernen im Wilden Westen ausgesehen haben, ein hölzernes Fort, palisadenbewehrt, ohne Schlagbaum. Gleich geblieben war das Trompetensignal zum Zapfenstreich. Mit einem Wort, als das Licht im Vorführraum wieder anging, war ich über das Wichtigste im Bild, was ein deutschstämmiger Kleinamerikaner über das große Amerika wissen musste.

Amis mit „Big Lift“ bei uns gelandet, anno 1963

Ein weiterer Meilenstein auf meinem abenteuerlichen Weg bereits in frühen Jahren und quasi vor unserer Haustür, Amerika kennen und lieben zu lernen, war der Herbst 1963. Es begann mit jenem eindrücklichen Bild, das sich mir als Zwölfjährigem an einem Novembernachmittag hinterm Dorf „Auf dem Klotz“, wie die Gegend hieß, offenbarte. Gleich nach dem letzten Haus am Dorfende sah ich es. Eine Zeltstadt soweit das Auge reicht. Große rechteckige Armeezelte, Ton in Ton mit der braunen Erdfarbe der Novemberlandschaft. An einer Stelle, wo sich sonst nur leere Gegend erstreckt, so dass ich an eine Fata Morgana hätte glauben können, hätte mir nicht schon mein Vater beim Mittagessen nach der Schule gesagt, seit heute früh lagern die Amis hinterm Dorf.

So vollkommen überraschend war das dennoch alles nicht. Denn Presse und Rundfunk hatten in den Nachrichten die militärstrategisch für außerordentlich wichtig befundene transatlantische Luftlandeübung „Big Lift“ bereits in den ersten Herbsttagen 1963 angekündigt. Geübt wurde die für den plötzlichen Krisenfall als notwendig erachtete kurzfristige Verlegung großer Truppenkontingente samt Gefechtsmaterial von den USA nach Europa. Die innerhalb von Tagen mit Höchstgeschwindigkeit zu bewerkstelligende Truppenverlegung und das darauf folgende Manöver entlang des Eisernen Vorhangs wurde in den Nachrichtensendungen als Glanzleistung technischer Präzision und den Feind im Osten abschreckende Demonstration der Kampfstärke angekündigt. Für die Zeit des Kalten Krieges ein typisches Kriegsspielszenario. In das ich mich mit meinem Schulkameraden Karl-Werner an den folgenden Tagen aktiv einschaltete.

Das, wovon ich erzählen möchte, beginnt wie ein Kinofilm mit maximaler Kamerablende, Blick in die Totale. Unter einem weiten Himmel eine zum Kameraauge hin sanft abfallende Mulde in flacher Landschaft. Das schmale Band einer Teerstraße durchschneidet sie mittig und läuft breiter werdend aus dem Bild heraus auf den Zuschauer vor der Leinwand zu. Auf halber Strecke erblickt der Kinobesucher in seiner Richtung zwei Jugendliche, zwei Jungs, auf sich zukommen. Gemeinsam schleppen sie einen unförmigen Sack, den sein Gewicht nach unten zieht, so dass sie ihn über den Boden schleifen, durch den Staub und die Grasnabe am Rand des Asphalts. In der Ferne taucht ein Armee-Jeep über der Horizontlinie auf, in langsamer Fahrt nähert er sich von hinten den beiden Jungen. Die den Jeep erst bemerken, als er neben ihnen stoppt. Der GI am Steuer und der vom Beifahrersitz springen aus dem Fahrzeug. Ihr Dress weißer Koppel mit diagonalem Brustriemen über auberginefarbener Uniform und weiße Großbuchstaben, ein M und ein P, auf die Stirnseite des Helms appliziert, ist unmissverständlich. Wortlos, doch mit eindeutiger Geste, fordern die Militärpolizisten Karl-Werner und mich auf, ihnen den Sackinhalt zu eröffnen. Gehorsam, ohne den Sack loszulassen, treten wir einen Schritt auseinander und ziehen ein jeder seinen Teil der Sackkrempe zu sich heran. Der Sack steht offen und der Blick in sein Inneres ist frei. Die eine der beiden MPs beugt sich über die Öffnung und langt mit dem Arm ins Sackinnere.

Redaktionelle Notiz: Fortsetzung folgt, in der das Geheimnis des Sackinhalts gelüftet und das Abenteuer der beiden Halbwüchsigen zu Ende erzählt wird.