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Möglichkeiten behinderter Menschen in Werkstätten neu denken

Bild vom Podium bei der Lesung des Buchs Zündeln an den Strukturen vom 13.3.2024
Bild vom Podium bei der Lesung des Buchs Zündeln an den Strukturen vom 13.3.2024
Foto: Christian Draheim

Braunschweig / Bremen (kobinet) Dass es notwendig ist, die beruflichen Möglichkeiten von Menschen mit Behinderungen, die in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten, einmal gänzlich neu zu denken, dies ist eine Erkenntnis, die Christian Draheim aus der Lesung des Romans "Zündeln an den Strukturen" am 13. März 2024 in Bremen mitgenommen hat. Christian Draheim aus Braunschweig macht seit Anfang März 2024 bei der Weiterbildung des Bildungs- und Forschungsinstituts zum selbstbestimmten Leben Behinderter (bifos) zum Empowerment zur Selbstvertretung behinderter Menschen in der Politik und in Gremien mit. Er reiste von Braunschweig nach Bremen und war einer der 130 Teilnehmenden der ausgebuchten Lesung im Kwadrad Bremen mit Ottmar Miles-Paul. Für die kobinet-nachrichten hat Christian Draheim folgenden Bericht über die Lesung verfasst, die vom Team des Landesbehindertenbeauftragten von Bremen organisiert wurde.

Bericht von Christian Draheim

Als ich das lichtdurchflutete Foyer im Quadrat Bremen betrete, bin ich noch der einzige Besucher an diesem Nachmittag. Es ist ein wenig wie die Ruhe vor dem Sturm, den ich zu diesem Zeitpunkt noch erwarte. Schließlich birgt nicht nur der Titel des Buches „Zündeln an den Strukturen“ von Ottmar Miles Paul, aus dem heute gelesen wird, jede Menge Sprengstoff – so denke ich. Nein, auch die Tatsache, dass wir uns an einem der Orte befinden, dessen Strukturen durch das Buch in Frage gestellt werden, sorgt für einen gewissen Spannungsbogen. Schnell füllen sich die zahlreichen Stuhlreihen, die in zwei großen Blöcken aufgestellt sind. In der Mitte befindet sich ein breiter Gang, der Platz für Rollstuhlfahrende bietet. Ich mache einen Streifzug durch den immer voller werdenden Raum, um bewusst die Stimmung aufnehmen zu können. Dominierendes Thema in den zahlreichen Unterhaltungen scheint mir das offene Gespräch des Autors mit dem Werkstattrat zu sein, welches im Vorfeld der Lesung stattgefunden hat. Mein Eindruck ist, dass dieser Austausch sehr gut angekommen ist und dass da etwas im Entstehen ist; etwas positives und konstruktives. Dann geht es endlich los.

Nach einer kurzen Begrüßung durch den Landesbehindertenbeauftragten von Bremen, Arne Frankenstein, betritt der Hauptprotagonist das Podium. Nun verstehe ich auch, warum da vier Stühle stehen. Eingerahmt wird Miles Paul von Kerstin Czerner-Nicolas, die für die Besucherinnen und Besucher in Leichte Sprache übersetzt sowie von Susanne Göbel und Nele Emrich, die für den ehemaligen Landesbehindertenbeauftragten von Rheinland-Pfalz aus dem Buch vorlesen. Doch bevor wir einen Einblick in den Roman erhalten, gibt es erst noch ein paar einführende Worte des Autors. Was nun folgt, ist für mich ein absoluter „Aha-Moment“. Miles Paul erklärt, dass es natürlich nicht darum geht, Werkstätten tatsächlich anzuzünden, wie es die Protagonistin Helen Weber am Anfang der Erzählung tut. Vielmehr geht es darum, dieses fiktive Szenario zu nutzen, um einfach einmal ganz neu zu denken, welche Alternativen zur Werkstatt es für Menschen mit Behinderungen geben kann.

Dann folgt die Übersetzung in Leichte Sprache. Um mich herum nehme ich einige sehr erleichterte Reaktionen wahr. Da ist doch einigen Menschen ein großer Stein vom Herzen gefallen. In diesem Moment ist mir etwas sehr deutlich vor Augen geführt worden, was ich eigentlich bereits wusste. Wenn wir es mit der Inklusion ernst meinen, dann führt kein Weg an einer umfassenden Barrierefreiheit vorbei. Eine Übersetzung in Leichte Sprache darf kein „nice to have“ sein, sondern es muss eine Selbstverständlichkeit sein. Leichte Sprache ist eine der Grundvoraussetzungen für echte Teilhabe.

Doch zurück zur Lesung. Nun lernen wir Stück für Stück einige Protagonistinnen und Protagonisten besser kennen und wir erfahren etwas über ihre Erfolge. Auch hier werden die vorgelesenen Abschnitte zusammengefasst und in Leichte Sprache übersetzt.

Dann kommen die Besucherinnen und Besucher ins Spiel. Sie haben nun die Möglichkeit, Fragen zu stellen, was auch reichlich wahrgenommen wird. Aber auch hier bleibt der große Sturm aus. Eine Besucherin berichtet von ihrer Arbeit in der Werkstatt, wo sie Soundmodule für Mercedes produziert. Sie bringt deutlich zum Ausdruck, dass sie sich in der Werkstatt sehr wohl fühlt. Von Miles Paul erhält sie zunächst eine verbale Auszeichnung dafür, dass sie dazu beiträgt, dass Elektroautos einen Sound erhalten. Dann geht er auf den Inhalt ein. Der langjährige Aktivist bringt noch einmal mit klaren Worten zum Ausdruck, was seine Botschaft ist. Es ist gut und richtig, wenn Menschen sich in einer Werkstatt wohlfühlen. Genauso gut und richtig ist es aber auch, wenn Menschen mit Behinderungen sich in einer Werkstatt nicht richtig fühlen. Und genau deshalb ist es notwendig, die beruflichen Möglichkeiten von Menschen mit Behinderungen einmal gänzlich neu zu denken und an den Werkstattstrukturen zu zündeln.

Nach der Lesung des Romans hat Christian Draheim ein fünfminütiges Videointerview mit Ottmar Miles-Paul für seinen Instagram-Kanal geführt.

Link zum Interview auf Instagram

Link zum Instagram-Kanal Inklusion im Kopf, bei dem sich Christian Draheim engagiert

Link zu Inklusion im Kopf auf X

Link Infos zum Bezug des Romans, zu Hinweisen auf weitere Lesungen und auf erschienene Berichte zum Roman