Berlin (kobinet) Ärztliche Zwangsmaßnahmen, auch als Zwangsbehandlungen bekannt, sind nach Ansicht der Sprecher*innen der LIGA Selbstvertretung, Julia Lippert und Ottmar Miles-Paul, Praktiken der gesundheitlichen Versorgung, die die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht unterwandern und auch nach deutschem Recht einen massiven Eingriff in die Grundrechte bedeuten. "Zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen zählen die Verabreichung von ungewollten Medikamenten, Untersuchungen des Gesundheitszustandes oder ärztliche Eingriffe gegen den Willen", heißt es im Kommentar der beiden, den die kobinet-nachrichten im Folgenden veröffentlichen, und in dem sie auch auf eine aktuelle Petition hinweisen.
Kommentar von Julia Lippert und Ottmar Miles-Paul
Ärztliche Zwangsmaßnahmen, auch als Zwangsbehandlungen bekannt, sind Praktiken der gesundheitlichen Versorgung, die die Menschenrechte und das Selbstbestimmungsrecht unterwandern und auch nach deutschem Recht einen massiven Eingriff in die Grundrechte bedeuten. Sie sind aber nach wie vor nach deutschen Recht zulässig (§1832 BGB und PsychKGs der Länder). Die Bestrebungen diese Form des Zwangs auf den ambulanten Versorgungsbereich auszuweiten, lassen sich vielerorts beobachten. Zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen zählen die Verabreichung von ungewollten Medikamenten, Untersuchungen des Gesundheitszustandes oder ärztliche Eingriffe gegen den Willen.
Diese Entwicklung, die ärztlichen Zwangsmaßnahmen auf den teilstationären oder ambulanten Bereich auszuweiten, gilt es gemeinsam aufzuhalten, denn sie sind Resultat einer unzureichenden psychosozialen Versorgung [1] und einer Kultur ersetzender Entscheidungen, die alle, aber insbesondere Menschen mit psychosozialen Behinderungen, Menschen mit Lernschwierigkeiten und ältere Menschen, betreffen kann.
Derzeit sind ärztliche Zwangsmaßnahmen nur im Rahmen eines stationären Aufenthalts in einer Klinik zulässig. Und obwohl bereits diese Regelung menschenrechtlich betrachtet höchst fragwürdig ist, kann eine Ausweitung auf den teilstätionären oder ambulanten Bereich nicht gutgeheißen werden. Es bedarf gemeinsamer Anstrengungen diese Entwicklung aufzuhalten. Es sind nicht nur Menschen im psychiatrischen Versorgungssystem betroffen, sondern auch Menschen, die in Einrichtungen der Eingliederungshilfe oder in Altenheimen leben. Je nach Ausgestaltung zukünftiger gesetzlicher Regelungen können auch Menschen, die in eigenen Wohnungen leben, betroffen sein. So zum Beispiel im Rahmen sogenannter Behandlungsweisungen oder in der stationsäquivalenten Behandlung. Auch der UN-Fachausschuss zeigte sich in den jüngsten Abschließenden Bemerkungen zum Stand der Menschenrechte für Menschen mit Behinderungen in Deutschland zutiefst besorgt über „Zwangsinstitutionalisierung und Zwangsbehandlung von Menschen mit Behinderungen aufgrund ihrer Beeinträchtigung“ [2].
Im Kontext dieses Kampfes gegen eine weitere Einschränkung der Menschenrechte von Menschen mit Behinderungen, sei auch auf die folgende Petition verwiesen:
Verhindern Sie die Zwangsverabreichung von Psychopharmaka und ihre schwerwiegenden Folgen
[1] Im August 2023 haben sowohl das Bündnis deutscher Nichtregierungsorganisationen zur UN-Behindertenrechtskonvention als auch das Deutsche Institut für Menschenrechte jeweils einen „Parallelbericht“ zur Umsetzung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) veröffentlicht. Anlass hierfür waren die Sitzungen des Ausschusses der Vereinten Nationen für die Rechte von Menschen mit Behinderung zum Staatenprüfverfahren für Deutschland, die am 29. und 30.08.2023 stattfanden. Auf der Webseite des Kellerkinder e.V.-Projekts „Menschenrechte in Aktion“ sind relevante Stellen zum psychosozialen Versorgungssystem dokumentiert. http://menschenrechte-in-aktion.de/parallelberichte-2023/ [2] „The Committee is deeply concerned […] about the forced institutionalization and forced treatment of persons with disabilities on the basis of impairment in care and integration assistance facilities and other institutions, psychiatric institutions and forensic psychiatric care facilities.” (CRPD/C/DEU/CO/2-3, Absatz 29 (a))