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Inklusion und Krieg: Wieso wir Ukrainer*innen mit Behinderung jetzt aktiv unterstützen sollten

Dr. Monika Rosenbaum
Dr. Monika Rosenbaum
Foto: Dr. Monika Rosenbaum

Münster (kobinet) Dr. Monika Rosenbaum vom NetzwerkBüro Frauen und Mädchen mit Behinderung / chronischer Erkrankung Nordrhein-Westfalen fordert in einem Beitrag für die kobinet-nachrichten die Einmischung deutscher Behinderten- und Selbsthilfe-Organisationen. Zudem plädiert sie für mehr Inklusion in der deutsch-ukrainischen Zusammenarbeit, insbesondere in den Bereichen: Barrierefreier Schutz und Hilfe sowie Inklusiver Wiederaufbau in der Ukraine, barrierefreie Sprach- und Integrationskurse sowie Arbeitsförderung, Inklusion als bilaterales Querschnittsthema sowie die Beteiligung ukrainischer Menschen mit Behinderung in Planung und Umsetzung auf allen Ebenen.



Beitrag von Dr. Monika Rosenbaum

Nach dem russischen Angriff vor 2 Jahren flüchteten Millionen von Ukrainer*innen. Sie suchten Schutz in sicher scheinenden Landesteilen oder im benachbarten Ausland. Es kamen viele Frauen, oft gut ausgebildet, häufig mit ihren Kindern, aber auch viele Menschen mit Behinderung und alte Menschen. Viele Länder reagierten mit enormer Solidarität. In der EU wurde am 4. März 2022 die „Massenzustrom-Richtlinie“ aktiviert: so erhielten ukrainische Geflüchtete automatisch einen Aufenthaltsstatus und mussten nicht das aufwändige Asylverfahren durchlaufen. Dieser Schutz wurde mittlerweile bis zum 4. März 2025 verlängert.

Diese aufenthaltsrechtliche Sonderregelung bedeutet eine Besserstellung der ukrainischen Geflüchteten – und lässt sich ganz unterschiedlich bewerten. Mit Blick auf Geflüchtete mit Behinderung lautet eine wichtige Frage: Hat diese Besserstellung zur schnelleren und effektiveren Integration von Geflüchteten mit Behinderung geführt?

Als NetzwerkBüro Frauen und Mädchen mit Behinderung / chronischer Erkrankung NRW hatten wir im April 2022 zusammen mit dem ukrainischen Dachverband der Menschen mit Behinderung (NAIU, About NAIU | Національна Асамблея людей з інвалідністю України) erstmals zu einem Austausch mit Geflüchteten eingeladen: Die Teilnehmer*innen hatten sich in der Ukraine in Behindertenverbänden und in der Interessensvertretung engagiert und waren jetzt nach Deutschland geflohen.

Themen waren fehlende Schutzräume und Bunker für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, dramatische Schwierigkeiten auf der Flucht, das Zurücklassen der individuellen Infrastruktur, aber auch die Kompetenzen der Teilnehmenden: Der Maler, der städtische Verwaltungsbeamte, die Übersetzerin und die Inklusionsaktivistin – sie alle wollten so schnell wie möglich wieder arbeiten, sich ihren Lebensunterhalt verdienen und sich sinnvoll einbringen.

Die schnell gestarteten Unterstützungsangebote für Ukrainer mit Behinderungen von ISL und dem Crossroads Projekt von Handicap International trugen dazu bei, einen leichteren Zugang zu den möglichen und erforderlichen Unterstützungsangeboten in Deutschland zu finden. Sie zeigten aber auch die vielen Begrenzungen für Menschen mit Behinderungen in Deutschland im Allgemein, für Geflüchtete im Besonderen. Ein Beispiel: die fehlenden barrierefrei zugänglichen Sprach und Integrationskurse.

Nach fast zwei Jahren in Deutschland ergaben Rückfragen bei ukrainischen Aktivist*innen, die sich in Deutschland wieder engagieren, ein gemischtes Ergebnis: Die Rückkehr in die Ukraine ist in weite Fern gerückt, viele Geflüchtete mit Behinderung haben sich mit dem Leben in Deutschland arrangiert – aber aus dieser Gruppe hat kaum jemand Zugang zum Arbeitsmarkt gefunden. Der Blick in andere EU-Länder zeigt, dass andere Länder deutlich mehr ukrainische Geflüchtete in den Arbeitsmarkt integrieren konnten, während Deutschland Barrieren eher auf- als abbaut.[1]

Während die Angriffe auch auf die ukrainische Zivilbevölkerung andauern und der strenge Winter die Folgen noch verschärft, zeichnen sich fünf Bereiche ab, in denen wir als deutsche Zivilgesellschaft, Behindertenverbände und Interessenvertretung Probleme ansprechen und Veränderungen einfordern müssen:

· In der Ukraine barrierefreie Schutzräume und Zugänge zu humanitärer Hilfe schaffen.
Auch nach fast zwei Jahren Krieg sind Menschen mit Behinderung schlechter geschützt, sind Bunker nur selten barrierefrei und die wenigen barrierearmen Notunterkünfte überfüllt. Zudem sind bestehende Großeinrichtungen in sicheren Gebieten überfüllt und schlecht ausgestattet, materiell ebenso wie im Blick auf Schutzvorrichtungen[2].

· Inklusion, Barrierefreiheit und De-Institutionalisierung im ukrainischen Wiederaufbau berücksichtigen: „Building Back Better!“ „Wir müssen Familien bereitstellen, nicht Waisenhäuser wiederaufbauen!“ (we must provide families, not rebuild orphanages“), so hieß im März 2023 ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch zur Situation in ukrainischen Heimen[3]. Das Ziel eines schnellen Wiederaufbaus lädt dazu ein, Heime und Großeinrichtungen wieder aufzubauen anstatt dezentrale Versorgungsstrukturen zu entwickeln. Damit werden jedoch Verhältnisse zementiert, an deren Veränderung die ukrainischen Behindertenorganisationen schon seit Jahren arbeiten.

· Barrierefreie Deutsch- und Integrationskurse anbieten und berufliche Integration fördern Arbeitswillig, gut ausgebildet und mit gesichertem rechtlichen Status: Ukrainer*innen mit Behinderung hätten zum integrativen Erfolgsmodell werden müssen und zum positiven Beispiel für Migrationspolitik. Stattdessen müssen wir miterleben, wie Barriere

· In Städte- und Solidaritätspartnerschaften von deutscher Seite aus inklusive Ansätze fördern. Viele Städte und Gemeinden haben ihre Städtepartnerschaften intensiviert der neue Soli-Partnerschaften gestartet – aber das Querschnittsthema Inklusion ist kaum vertreten. Es gibt gute Beispiele, wie die Partnerschaft zwischen Lviv und Freiburg, die das Thema Barrierefreiheit in die Stadtplanung gebracht hat. Die ukrainischen Erfahrungen mit dem Wiederaufbau im Osten des Landes zeigen aber, dass

· Ukrainische Menschen mit Behinderung in allen Planungen und Maßnahmen einbezogen werden müssen. Diese Forderung bezieht sich auf die Planung in Deutschland ebenso wie deutsch-ukrainischen Maßnahmen, von der durch die Bundesregierung geförderten „Plattform Wiederaufbau“ über Solidaritätspartnerschaften der Bundesländer bis hin zu Hilfsaktionen von Verbänden und Vereinen oder Städtepartnerschaften.

Krieg und Flucht, Behinderung oder Erkrankung – wenn dies zusammenkommt, bleibt den einzelnen Menschen mit Behinderung oft wenig Kraft, sich politisch für mehr Inklusion einzusetzen. Hier können und müssen wir zeigen, dass solche Themen wichtig sind, müssen Verantwortung übernehmen und ihnen den Rücken stärken!

[1] Eine detailliertere Darstellung findet sich im Artikel „Bleiben oder zurückgehen? Perspektiven für ukrainische Geflüchtete mit Behinderung im kommenden Jahr“ v. Monika Rosenbaum in Soziale Sicherheit 12/2023, S. 452-455) [2] Vgl. den Bericht “The Rights of Persons with Disabilities who are Institutionalised in Wartime: Research Findings”, 2023, Edit_Report_The Rights of Persons with Disabilities (khisr.kharkov.ua) [3] Vgl. den Bericht “We Must Provide a Family, Not Rebuild Orphanages”: The Consequences of Russia’s Invasion of Ukraine for Children in Ukrainian Residential Institutions | HRW 2023 [2] Eine detailliertere Darstellung findet sich im Artikel „Bleiben oder zurückgehen? Perspektiven für ukrainische Geflüchtete mit Behinderung im kommenden Jahr“ v. Monika Rosenbaum in Soziale Sicherheit 12/2023, S. 452-455) [3] Vgl. den Bericht “The Rights of Persons with Disabilities who are Institutionalised in Wartime: Research Findings”, 2023, Edit_Report_The Rights of Persons with Disabilities (khisr.kharkov.ua) [4] Vgl. den Bericht “We Must Provide a Family, Not Rebuild Orphanages”: The Consequences of Russia’s Invasion of Ukraine for Children in Ukrainian Residential Institutions | HRW 2023

Viele Tipps und nützliche Hinweise für geflüchtete Ukrainer*innen mit Behinderung in Deutschland gibt’s im Telegram-Kanal „Чат допомоги людям з інвалідністю Україна – Німеччинa