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Nixklusion in Deutschland am Beispiel der Schulsituation – eine Mutter berichtet

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Foto: ISL

Kassel (kobinet) Im Vorfeld der Staatenprüfung Deutschlands zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention am 29. und 30. August 2023 in Genf haben die kobinet-nachrichten eine Reihe von Statements von verschiedenen Akteur*innen der Behindertenpolitik zu ihren Erwartungen angefragt und veröffentlicht. Dabei haben sich auch einige Personen an die Redaktion gewandt und ihre Erfahrungen in Sachen Inklusion oder besser gesagt mit Nixklusion geschildert. Da diese in der Regel anonym bleiben wollen, weil sie Nachteile für sich oder ihre behinderten Kinder befürchten, hat kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul ein Beispiel herausgegriffen, das neben den Zahlen und Fakten, die in Genf vom UN-Ausschuss für die Rechte behinderter Menschen betrachtet werden, deutlich macht, wie Inklusion in Deutschland immer noch erschwert bzw. zum Teil unmöglich gemacht wird.

Bericht von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul

„Ich habe einmal aus der Perspektive einer Mutter aufgeschrieben, was Deutschland so tut, um Inklusion zu verhindern“, schrieb die Mutter eines behinderten Sohnes an die kobinet-nachrichten, die anonym bleiben will. „Unser Sohn ist ein besonderes Kind. Hier ist unsere Geschichte in Stichworten zusammengefasst: Suche nach einem Kindergarten – sehr schwierig. Der in der Nähe kann nicht genommen werden, da man keine besonderen Kinder möchte und man auch keine Erfahrung damit hat. Ausserdem sind die Gruppen zu gross. Nach Rücksprache bei der Stadt auf eigene Faust auf die Suche gemacht. Schwierig! Ein Kindergarten in der Nähe bietet uns einen Platz an, allerdings müsse das Kind dann täglich bis 16 Uhr bleiben. (Die ‚gesunden‘ Kinder dürfen mittags abgeholt werden). Auf die Frage nach einer Begründung heisst es: Die Sonderschule, auf die er ja dann gehen wird, wird ja auch bis 16 Uhr sein. Ah ja, welche Sonderschule?“

Die Mutter beschreibt die weitere Entwicklung wie folgt: „Endlich einen Regelkindergarten gefunden, der das Kind mit Einzelintegrativplatz annimmt. Tägliche Fahrzeit von 2 x einer halben Stunde. Viel versprochen, was man alles an Therapien macht, die man auch bezahlt bekommt vom Amt, aber fast nie absolviert. Angeblich tolle Therapeuten, die in die Einrichtung kommen und viel Ahnung haben. Es geht um Ergotherapie zum Erlangen von vorschulischen Kompetenzen. Auch angeblich besondere zeitliche Zuwendung für unser Kind in Form von Einzelspielzeit mit einem Erzieher. Papier ist geduldig!“

Und dann die Suche nach einer Schule, die das Kind nimmt. „Wieder das Gefühl, als Bittsteller zu agieren. Es gibt viel zu wenige inklusive Plätze für besondere Kinder, schon gar nicht in der Nähe. Die Schulen in unserer Stadt haben jedenfalls keinen für uns, obwohl wir uns sehr früh gekümmert haben. Also Privatschule, tägliche Fahrzeit von 2 x 30 Minuten. Monatliche Kosten von 150 Euro. Grosse Freude, die nehmen ihn. Die besonderen Kinder seien mittendrin und könnten so optimal profitieren. Jedes Kind könne nach eigenem Tempo lernen und das wäre überhaupt der beste Ansatz“, berichtet die Mutter über die Informationen, die sie bekommen hatte. Das wurde dann dem Bericht der Mutter zufolge draus: „Die besonderen Kinder durften nicht im Klassenraum bei den anderen sein, sie wurden separiert. Allerdings, ohne sich mit Lesen und Schreiben zu befassen. Im Foyer gab es jeweils einen Erwachsenen, der ihnen vorgelesen hat. Oder sie waren im Werkraum oder Aussengelände. Und das Schlimmste: Unser Sohn wurde als geistig beeinträchtigt beurteilt, damit die Schule mehr Gelder erhält. Wie wir hinterher erfahren haben, sind wir leider kein Einzelfall. (Warum darf die Schule überhaupt solche Gutachten selber erstellen? Hier ist doch Missbrauch Tür und Tor geöffnet.) Nach jahrelangem Kampf mit Hilfe eines Anwalts den Förderschwerpunkt ‚Geistige Entwicklung‘ losgeworden.“

Wir reden immer noch von den Erfahrungen einer Mutter – irgendwo in Deutschland. Sie berichtet weiter: „Nach einem Gespräch mit der Schule und der Rückmeldung, dass man für die besonderen Kinder bzw. deren Beschulung keine Kapazitäten hätte, haben wir nach einem Jahr die Reissleine gezogen und ihn von der Schule genommen. Er hatte bisher noch gar nichts an Kulturtechniken gelernt. Also, selber gekümmert und begonnen, zu Hause mit ihm lesen und schreiben zu üben. Nach einem Tipp der Ergotherapeutin ein tolles Programm gefunden, das man auch als ‚Nicht Lehrerin‘ mit ihm machen kann. Und Bingo! Kind lernt lesen und schreiben und wächst über sich hinaus. Er ist stolz auf das, was er kann. Wir bleiben dran! Und das tun wir bis heute. (Wenn ich mal zusammenrechnen würde, was wir an Lernmaterialien für unser Kind auf eigene Kosten gekauft haben, geht es in die Tausende)

Nachdem es in der einen Schule nicht geklappt hat, muss eine neue Schule her. „Aufgrund seines Alters kann er nicht nochmal in eine erste Klasse eingeschult werden, das Schuljahr ist ausserdem vorbei. Was bleibt? Sonderschule ist die einzige, die einen Platz hat. Die wollten wir nie, er ist auch privat mittendrin, wir wollen keine Parallelwelt für unser Kind. (Von der schlechten Perspektive mal ganz abgesehen.) Das richtige Leben zählt. Aber wir haben keine Chance. Wir sind froh, dass er die Sonderschule nach der Grundschulzeit hinter sich lassen kann. Wir haben einige Lehrer kennengelernt, die nervlich am Limit sind (oder weiter) und die Kinder oft defizitär beurteilen. Ich hätte nie gedacht, was unser Sohn angeblich alles nicht kann. Das braucht kein Mensch und ist für ein besonderes Kind, das um jede Form von Anerkennung noch mehr kämpft, besonders schlimm. Auch die Verpflichtung (!), unser Kind täglich bis nachmittags dort zu lassen, finden wir unter aller Kanone. Abgesehen davon, dass es auch eine Benachteiligung zu gesunden Kindern darstellt“, berichtet die Mutter über die Förderschulzeit ihres Kindes.

Dann kam wieder eine Schulsuche. Das liest sich dann wie folgt: „Wir versuchen nochmal Inklusiv, weil wir sicher sind, dass es das Beste ist für unseren Sohn ist. Grosse Freude, wir haben einen Platz. Und dann: Ganz viel Frust und Kampf, es gibt definitiv zu wenige Lehrer, zu wenige Räume, zu wenige Schulbegleiter, viel Gegenwind. Sogar an der Inklusiven Schule wird uns immer wieder das Märchen von der tollen Sonderschule erzählt und man empfiehlt uns einen Wechsel dorthin, weil man unserem Kind nicht gerecht werden könne. Und das sogar zum ersten Mal, BEVOR man unser Kind überhaupt kennengelernt hat! Das heißt, zuerst schickt man uns eine schriftliche Zusage, dass wir genommen werden an dieser Schule, und dann kurz vor den Sommerferien, bevor er dort starten soll, erhalten wir einen Anruf mit ganz vielen Argumenten, die dafür sprechen, doch die Sonderschule zu wählen und mit der dringenden Empfehlung, dorthin zu wechseln. Wir sind natürlich wie vor den Kopf geschlagen und haben einmal mehr das Gefühl, Bittsteller zu sein und dass man unser Kind nicht möchte. Das schmerzt sehr! Zum Glück sind wir sehr gut vernetzt und erfahren von anderen Eltern, dass man ihnen das Gleiche gesagt hat. Auch erfahren wir, dass jedes Jahr zahlreiche Kinder diese Schule Richtung Förderschule verlassen, weil die Eltern Angst um die Bildung ihrer Kinder haben.“

Zusammenfassend beschreibt die Mutter diese Geschichte so: „Unser Sohn hat ein Recht darauf, inklusiv beschult zu werden und daran halten wir fest. Es ist schlimm, welche Kraftanstrengungen und finanziellen Aufwendungen wir auf uns nehmen müssen, um das Recht unseres Kindes auf Bildung durchzusetzen. Ich habe noch nie in meinem Leben einen Anwalt gebraucht, seit unser Sohn die Schule besucht, mussten wir vier Mal einen einschalten, um seine Rechte wahrzunehmen. Von den unzähligen Stunden, die wir mit Recherche und Telefonaten mit Ämtern und Beratungsstellen zugebracht haben, ganz zu schweigen. Sehr traurig und auch ärgerlich!“

Für mich als Verfasser dieses Berichtes bleibt neben den beschämenden Erfahrungen, die diese Mutter und ihr Sohn sowie manche Akteur*innen machen müssen, die sich in Deutschland für echte Inklusion einsetzen, vor allem die Erkenntnis: Eine der wohl größten Menschenrechtsverletzung ist, dass solche Berichte anonym erscheinen müssen, weil Betroffene befürchten müssen, dass sie mit Bekanntwerden ihrer Erfahrungen noch mehr Nachteile erleben und erleiden müssen. Wie oft höre ich den Satz: „Sag bloß nichts“ nachdem einzelne behinderte und nichtbehinderte Menschen über massive Diskriminierungen und Ausgrenzung berichteten, aber berechtigte Ängste haben, dass ihnen das Bekanntwerden der Zustände weitere Nachteile bringen könnte. Die Abhängigkeit ist hier also immens und beschämend für ein Land wie Deutschland.

Deshalb ist es gut und wichtig, dass auch eine Reihe von Eltern behinderter Kinder nach Genf gereist sind, um ihre Sicht der Dinge zum Stand der Inklusion in Deutschland darzustellen. Auch wenn das nicht bei der offiziellen Anhörung des Ausschusses der Vereinten Nationen möglich ist, bleibt zu hoffen, dass ihre Stimmen nicht überhört werden.