Kassel (kobinet) Prof. Dr. Marianne Hirschberg von der Universität Kassel geht in ihren Forschungen u.a. auch der Frage nach, ob die Behindertenbewegung eine Befreiungsbewegung ist und welche Parallelen es zu anderen Befreiungsbewegungen gibt. kobinet-Redakteur Ottmar führte mit Marianne Hirschberg ein Interview zu diesen Fragen und ihren aktuellen Forschungsvorhaben.
kobinet-nachrichten: Sie sind als Professorin an der Universität Kassel tätig und beschäftigen sich dabei u.a. auch mit der Situation behinderter Menschen. Was ist dort ihr genaues Wirkungsfeld?
Prof. Dr. Marianne Hirschberg: Mein Fachgebiet heißt „Behinderung, Inklusion und Soziale Teilhabe“, das ist die offizielle Denomination meiner Professur, auf die ich berufen worden bin. Ich arbeite schon lange aus Disability Studies-Perspektive, auch meine Menschenrechtsperspektive (durch meine frühere Tätigkeit am Deutschen Institut für Menschenrechte) fließt in Seminaren ein. Im kommenden Semester habe ich Forschungssemester, in dem ich mich vertieft damit befassen werde, was von über die Ausgrenzungsstrukturen, -prozesse, -praktiken und -politiken behinderter Menschen von dekolonialen Studien zur Ausgrenzung und Befreiung (kolonialisierter Menschen im eigenen Land durch die Kolonialherrscher) gelernt werden kann.
kobinet-nachrichten: Bei Ihrer Antrittsvorlesung haben Sie sich u.a. mit der historischen Entwicklung und Ausrichtung der Behindertenbewegung befasst. Was sind dabei für Sie entscheidende Entwicklungsschritte gewesen?
Prof. Dr. Marianne Hirschberg: In meiner Antrittsvorlesung habe ich mich auch bereits mit Ausgrenzung und ihren unterschiedlichen Mechanismen, ihren Instrumentarien beschäftigt und strukturen befasst und dabei Ähnlichkeiten in der Ausgrenzungserfahrung unterschiedlicher Gruppen festgestellt: essenzialisierende, ableistische Zuschreibungen gegenüber Personen und Personengruppen sowie die Erkenntnis, dass nicht die ausgegrenzten Personen, sondern die ausgrenzende Gesellschaft das Problem sind.
Historisch hat sich die Behindertenbewegung gegen die ausgrenzenden Bedingungen im Wohn-, Bildungs-, Arbeits- und Gesundheitswesen sowie in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen und gegen die negative Bewertung von Behinderung u.a. durch vorgeburtliche Diagnostiken und Sterbehilfe-Angebote zur Wehr gesetzt – immernoch aktuelle Problematiken verbunden mit der Ausrichtung auf Erwerbsarbeit oder Leistungsfähigkeit.
Der Beginn der regionalen behindertenpolitischen Proteste und auch internationalen Bewegungen seit Ende der 1960er bzw. Anfang der 1970er Jahre knüpfte an die Anliegen der Frauenbewegungen und auch beispielsweise der Civil Rights Movement in den USA an.
kobinet-nachrichten: Sie gehen u.a. auch der Frage nach, ob die Behindertenbewegung eine Befreiungsbewegung ist und es Parallelen zu anderen Befreiungsbewegungen gibt. Wie ist dazu Ihre Einschätzung?
Prof. Dr. Marianne Hirschberg: Für die Behindertenbewegung kristallisiert sich m.E. ebenso für andere Bewegungen heraus, dass diese gesellschaftliche und staatliche Ausgrenzung, die Ver-Besonderung benachteiligend ist und zwar sowohl für die Gruppe behinderter Menschen, als auch für jeden einzelnen behinderten Menschen. Dies kann auch mit individueller oder gruppenbezogener Diskriminierung verbunden sein. Die oben genannte Erkenntnis, dass die gesellschaftliche Ausgrenzung mit ihren Verbesonderungsstrukturen wie Sonderschulen, Werkstätten, Wohnheimen etc. machtvoll ist, fehlende Barrierefreiheit im ÖPNV oder auch in kulturellen Einrichtungen die Hindernisse sind, und die jeweiligen Beeinträchtigungen zwar auch Schwierigkeiten mit sich bringen können, aber die beschriebene Benachteiligung behindernd ist: diese Erkenntnis war und ist befreiend.
Hier bestehen Parallelen zu den Befreiungsbewegungen in früheren Kolonialstaaten gegen die kolonialisierenden Herrschaftsverhältnisse und die mit diesen verbundenen Aussonderungspraktiken wie z.B. separierenden Verwaltungsregimen im Zugang zu Rechten. In genauer Analyse des Zugangs zu gesellschaftlichen Bereichen finden sich wiederum auch Parallelen wie gesonderte öffentliche Bereiche für afroamerikanische Menschen in den USA, gegen die sich die Civil Rights Movement widersetzte, oder auch der Ausschluss von Frauen von universitärer Bildung etc. oder der Ausschluss vom Wahlrecht, gegen das sich z.B. die erste Frauenbewegung zur Wehr setzte.
kobinet-nachrichten: Welche Bedeutung hat Ihrer Meinung nach die Betrachtung der Behindertenbewegung als Befreiungsbewegung?
Prof. Dr. Marianne Hirschberg: Auch wenn eingewandt werden kann, dass der Terminus Befreiungsbewegung spezifisch für die Befreiung von Kolonialherrschaft verwendet wird, ist der befreiende Impetus auch in den gesellschaftlichen Bewegungen gegen die Benachteiligung und Unterdrückung im gleichen Land durch staatliche Strukturen und Mechanismen sowie gesellschaftliche Diskurse und Praktiken zu erkennen. Die Befreiung von Degradierung, das Protestieren gegen die Ausgrenzung in Sonderwelten ist mit einer Selbstbemächtigung, einem eigenen Empowerment verbunden: Dies charakterisiert m.E. auch die Behindertenbewegung, sodass diese daher auch als befreiende Bewegung bezeichnet werden kann.
kobinet-nachrichten: Wenn Sie zwei Wünsche für die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention frei hätten, welche wären dies?
Prof. Dr. Marianne Hirschberg: Das ist eine schwierige Frage, da ich nun mehrere einzelne Bereiche nennen könnte, wie die Abschaffung des Sonderschulwesens und statt dessen den Aufbau eines qualitativ hochwertigen inklusiven Bildungssystems für alle Kinder und Jugendlichen sowie Erwachsenen. Gleiches gilt für die Abschaffung des Klassen-Arbeitssystems (des allgemeinen Arbeitsmarktes sowie des Aussonderungs- und als Rehabilitation gefassten Werkstattsystems, in dem noch nicht einmal der Mindestlohn gezahlt wird), welches durch ein allgemeines inklusives Arbeitssystem ersetzt werden sollte, in dem auch geringe Arbeitstätigkeit adäquat honoriert und Sorge- und Reproduktionsarbeit ebenfalls als Arbeit anerkannt und adäquat honoriert werden sollte.
Doch statt dieser zwei spezifischen Zugänge zum Recht auf Bildung und Recht auf Arbeit würde ich mir wünschen, dass die Bundesrepublik Deutschland sich systematisch, strukturell und voll umfänglich dafür einsetzt, dass eine Behinderung und auch die damit verbundene Beeinträchtigung ein wertvoller Teil der menschlichen Vielfalt sind. Dies sollte sich in allen politischen Entwicklungen aller Handlungsfelder und damit aller Ressorts/Ministerien deutlich machen, ebenso auf diskursiver Ebene, um behinderten Menschen in allen Lebensbereichen die gleiche Rechtsumsetzung zu ermöglichen wie nichtbehinderten Menschen. Damit verbunden sollte auch eine klare Entgegnung gegenüber Äußerungen wie der von Herrn Höcke in seinem mdr-Sommer-Interview sein und eine klare Positionierung für Inklusion als Staatsräson, die eine demgemäße Umsetzung der Behindertenrechtskonvention nach sich zieht.
Der erste Wunsch ist also die Anerkennung und Akzeptanz behinderter Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt (Art. 3d BRK) und der zweite deren adäquate Umsetzung. (Dies würde sich natürlich in der Gewährung und Umsetzung aller Einzelrechte wie dem Recht auf Bildung (Art. 24) und Recht auf Arbeit (Art. 27) widerspiegeln).
kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.