
Foto: Hans-Willi Weis
Berlin (kobinet) Corona, Klima, Krieg, derzeit vor allem der Krieg, wie geht es uns Behinderten mit alledem?
Oder direkter gefragt, wie geht es Euch damit? Denn wie es mir selber geht, weiß ich ja. Schlecht, kurz gesagt. Was genau mich bekümmert, dazu im Folgenden mehr.
Warum Behinderte Katastrophen und Krieg besonders fürchten müssen
Was mich beim bloßen Gedanken an Katastrophe oder Krieg beunruhigt: Wo es von einer Sekunde zur anderen heißt, rette sich, wer kann, sind Behinderte übel dran. Mehr als andere jedenfalls. Angewiesen auf Rücksicht und Hilfe in einem Moment, da gefühlt nur der egoistische Ellbogen die eigene Haut noch zu retten verspricht. Beides, Katastrophen und Krieg, rührt an Urängste, provoziert primitive Reflexe, startet das psychophysiologische Überlebensprogramm von Kampf oder Flucht. Zu beidem, Kämpfen oder Flüchten, sind wir Behinderten denkbar schlecht disponiert. Muss einen das nicht zutiefst beunruhigen?
Wie es Euch mit Katastrophenmeldungen und den aktuellen Nachrichten zum Krieg geht, das frage ich auch deshalb, weil wie es anderen – anderen Behinderten – damit geht, schon eine gewisse Erleichterung mit sich bringen kann. Bloß finde ich dort, wo öffentlich oder medial Behinderte mit eigener Stimme sich zu Wort melden, nichts darüber, was insbesondere der Krieg, dieser Krieg mitten in Europa, mit ihnen macht. Ein Umstand, der den Anschein entstehen lässt, als ginge die Behinderten dies nichts an, jedenfalls nicht mehr und nicht weniger, als es alle anderen, auch die Nichtbehinderten, angeht.
Die eine Ausnahme, Sascha Langs Podcast, in dem er eine aus der Ukraine geflüchtete Rollstuhlfahrerin zu Wort kommen lässt. Er hat dies für mich auf eine beeindruckende und der Situation angemessene Weise getan, indem er von sich geschwiegen hat und allen Raum der Betroffenheit und den Bedürfnissen der Geflüchteten gelassen hat. – Eine sinnvolle und unmittelbar unterstützende Art und Weise im Zusammenhang dieses Kriegs und seiner Auswirkungen auch hierzulande einmal von sich selber abzusehen. Wozu sich allerdings den wenigsten von uns eine vergleichbare Gelegenheit bieten dürfte. (https://podcasts.apple.com/de/podcast/wenn-der-luftschutzbunker-nicht-barrierefrei-ist-von/id1563364492?i=1000588439608)
Wenn wir, anders als die geflüchtete Rollstuhlfahrerin, die mit knapper Not der unmittelbaren Kriegseinwirkung entkommen ist, hier in Deutschland den Krieg lediglich auf eine sehr vermittelte Weise zu spüren bekommen, drückt seine von den Medien tagtäglich präsent gehaltene Realität uns darum nicht minder aufs Gemüt. Mir jedenfalls geht es so. – Und das einmal mehr, wenn ich hier bei uns eine bestimmte „Fernwirkung“ des Kriegsgeschehens in der Ukraine beobachte. Nämlich die: In Kriegszeiten ist Härte angesagt, das Weiche droht unterzugehen.
Mit Letzterem werden auch diejenigen assoziiert, die Worte wie Frieden und Friedfertigkeit in den Mund nehmen. Pauschal werden sie eines naiven, weltfremden, sogar gefährlichen Pazifismus bezichtigt. Jetzt, da überall hart gesottene Krieger und Kriegerinnen wie Pilze aus dem Boden schießen und sogenannte Schwanzeinzieher oder Weicheier noch weniger als zuvor willkommen sind oder geduldet werden. Ist es aber nicht so, dass besonders wir Behinderten gerade auf Qualitäten wie Friedfertigkeit und Sanftmut, Rücksichtnahme und Behutsamkeit zur Bewältigung unseres ganz normalen Alltags angewiesen sind? Womit erst nur die Verhärtung im Atmosphärischen, im gesellschaftlichen Umgangston angesprochen ist und noch nicht die Rede ist von den gesellschaftspolitisch strukturellen „Umschichtungen“, sprich von den steigenden Rüstungsausgaben und den tendenziell sinkenden Sozialausgaben im Gefolge der bereits sprichwörtlichen Zeitenwende. All dies lässt in den vor uns liegenden kriegerischen Zeitläuften insbesondere mit Blick auf die gesellschaftliche Lage von Behinderten für die Zukunft nichts Gutes ahnen.
Behinderte zählen zu den gesellschaftlich und politisch Unmaßgeblichen
Muss ich mir also das Schweigen innerhalb der Behindertencommunity zum Krieg vielleicht so erklären, dass man sich hier schon einmal vorsorglich wegduckt? Schweigt, um bloß nichts Falsches zu sagen? Schließlich registriert man generell, dass diejenigen, die abweichende Meinungen von einem sich verengenden Mainstreamspektrum zu äußern wagen, seitens selbst ernannter Vertreter einer „wehrhaften Demokratie“ verbal immer öfter Prügel beziehen. – Was mich anlangt, so habe ich das urdemokratische Ideal der Zivilcourage (das in gewissem Sinne an die Stelle des aristokratischen Ideals kriegerischen Heldenmuts getreten ist) so weit verinnerlicht, dass ich mich durch Drohgebärden nicht davon abhalten lasse, mich zu äußern, wo mir dies publizistisch resp. medial noch gestattet wird. Zudem wirkt konzentriertes Nachdenken, das analytische Durchdringen dessen, was einem sozial und politisch zugemutet wird, an sich stimmungsaufhellend, ein weder rezept- noch apothekenpflichtiges Antidepressivum sozusagen.
Hier ein erstes und wichtiges Ergebnis meines Nachdenkens. Es ist schön und gut, wenn BehindertenaktivistInnen schwerpunktmäßig über Inklusion sprechen und schreiben. Inklusion als gesellschaftlicher Zielzustand, bei dem ich von meiner persönlichen Beobachtungswarte aus behaupten würde, Ideal und Wirklichkeit klaffen bis heute in einem Maße auseinander, dass der inflationäre Gebrauch der Vokabel Gefahr läuft, die Realität mit ihren harten Tatsachen ungewollt zu beschönigen. Denn für eine ungeschminkte Beschreibung dieser Realität kommt im großen Ganzen kein anderes Wort infrage als Exklusion. Unter den derzeitigen Bedingungen einer auf Härte getrimmten „kriegerischen“ Zeitenwende, deren Ende nicht absehbar ist, wird sich am Status quo dieser Exklusion noch weniger etwas Entscheidendes ändern, als es davor schon der Fall gewesen ist.
Ein zweites Nachdenkergebnis, ausgehend von der Tatsache der Exklusion: Das Gros von uns Behinderten zählt zu den gesellschaftlich und politisch Unmaßgeblichen in diesem Land und dieser Gesellschaft. Da weder wohlhabend noch prominent, gehöre auch ich – ein erblindeter Kulturwissenschaftler, der sich auch in seinem grundsicherungsbescheidenen Rentenalter gern publizistisch äußern würde – zu dieser Mehrzahl der behinderten Menschen, die de facto von sozialer Exklusion betroffen sind. Und gehöre mithin ebenfalls zu jenen gesellschaftlich und politisch Unmaßgeblichen.
Kurz noch etwas zu meiner Wortwahl, zum Begriff der Unmaßgeblichen. Der zwar soziologisch unscharf ist, aber als heuristischer Behelfsbegriff die, die sich ein Urteil bilden möchten, auf die richtige Fährte setzt. Auch trifft von den Unmaßgeblichen zu sprechen ziemlich genau deren Gefühl, wie gesellschaftlich mit ihnen umgegangen wird. Eigentlich sollte es mit Blick auf den Souverän der Demokratie, die Bürger, diesen Unterschied, den zwischen „Unmaßgeblichen“ und „Maßgeblichen“, überhaupt nicht geben. Wenn es ihn – wie es bezüglich nichtweißer Minoritäten, POC, Queere, Behinderte und andere Minderheiten empirisch der Fall ist – dennoch gibt, wäre es schön, wenn er von allen als Stachel im Fleisch der Demokratie wahrgenommen würde. Den Stich und den Schmerz jedoch scheinen wiederum nur die Unmaßgeblichen selbst zu spüren, die übrigen juckt es nicht einmal.
Schmerz und Erschrecken hängen vom Ort des gesellschaftlichen Erlebens ab
Offenbar hängt also das, was als sozial ungerecht und würdelos wahrgenommen wird, ganz wesentlich vom gesellschaftlichen Erlebnisort ab. Und darum komme ich auf meine Ausgangsfrage zurück und spreche noch einmal persönlich davon, wie es mir als einem dieser Unmaßgeblichen aus der insgesamt unmaßgeblichen Population der Behinderten bei der tagtäglichen medialen Konfrontation mit Katastrophen und Krieg geht. Katastrophenmäßig böte sich mir dafür die schrecklichen Ereignisse bei der Flut im Ahrtal an oder auch die Erfahrungen während der Pandemie. Da aber Corona, etwas flapsig gesprochen (die an Longcovid oder an Impfnebenwirkungen Leidenden mögen mir verzeihen), glücklicherweise durch ist (die Corona-App offiziell „in Schlafmodus versetzt“), erlebe ich den Krieg in der Ukraine und dessen Auswirkungen hierzulande als das mich zur Zeit am stärksten Beunruhigende, Beängstigende und schmerzlich Bedrängende. Und was mich dabei gerade vor dem Hintergrund der zurückliegenden Pandemiezeit an den derzeitigen öffentlichen und medialen Reaktionen auf den Krieg gleich als erstes erschreckt, ist ein Deja-vu.
Nämlich die Ruppigkeit, mit der leitmedial Front gemacht wird gegen Zauderer, Zögerer, Waffenlieferungsskeptiker, mahnende Stimmen, die vor einer Atomkriegsgefahr warnen. Der „Exzess“ und die „Hysterie“, die Heribert Prantl, einsamer Rufer in der medialen Mainstreamwüste, im Rückblick auf die Coronamaßnahmen und die Impfkampagne beklagt, finden gleichsam ihre Fortsetzung im aktuellen Zeitenwende- und Kriegsdiskurs, dessen Waffenlieferungs- und Rüstungsfuror. Ein ähnlich totalitärer Gestus und ein in Teilen faschistoides Vokabular gegenüber einer friedenspolitischen Minderheit, die man als „Putinversteher“ oder „Lumpenpazifisten“ rhetorisch diskreditiert, so wie man zuvor die Kursabweichler in der Pandemiebekämpfung als „Coronaleugner“ und „Sozialschädlinge“ diffamiert, stigmatisiert und sozial ausgegrenzt hat.
Verstörend für mich, wie die entsetzlichen Nachrichten vom Kriegsschauplatz in der Ukraine es den maßgeblichen Akteuren der hiesigen medialen Öffentlichkeit nicht verbieten, ihr verbales Kriegsgetöse jenem Entsetzlichen noch hinzuzufügen. Um es konkret zu machen, erschrocken hat mich die ZDF-Sendung mit Markus Lanz am 24.01.2023. Seine Talkgäste nahmen die soeben eingegangene Nachricht von der Lieferentscheidung in der Panzerfrage mit einer Begeisterung auf, bei der man förmlich das Knallen der Sektkorken hören konnte. Originalton, „wir sind jetzt alle mal glücklich“, so der Strategieexperte Christian Mölling, der uns laut Lanz den aktuellen Kriegsverlauf immer so plausibel erkläre. Er macht uns auch gleich plausibel, dass dieses Glücklichsein, weil geliefert wird, mit Sicherheit nicht unser letztes sein dürfte, wenn es demnächst, wiederum Zitat, „ein neues Investment braucht, um das Ding zu wuppen“, dann aber hoffentlich so, damit nicht nochmals „wie beim Eiertanz in der Leopardenfrage unser Zögern einen Flurschaden verursacht“. Allerdings möchte die taz-Journalistin Ulrike Hermann doch auch einmal festhalten, dass dank Scholz am Ende mehr Waffen in der Ukraine sind, als sich vorher alle haben vorstellen können, wörtlich, „das ist doch sensationell“.
Ein Jahr zuvor, drei Tage nach dem Schock des russischen Überfalls auf die Ukraine, hielt Kanzler Scholz im Bundestag seine Rede zur Zeitenwende. Damals hat mich zum ersten Mal – und ich kann es nicht anders nennen – diese Kriegsbegeisterung, dieser Hurra-Patriotismus, in Erstaunen und Schrecken versetzt. Ich meine nicht die Rede selbst, sondern die Reaktion im Plenum, die der Literaturkritiker Helmut Böttiger kürzlich im Deutschlandfunk so beschrieben hat: Jener Rede„ wurde nicht der Beifall gezollt, wie er der bedrohlichen Dimension der politischen Situation angemessen gewesen wäre. Sondern es gab ein geradezu besoffenes Stammtischgrölen, ein Männergebrüll, das an finstere Stunden der deutschen Geschichte erinnerte und besagte, dass man jetzt nach allem Gerede von politischer Korrektheit … endlich mal wieder die Sau rauslassen könne. So ähnlich muss es 1914 gewesen sein, als man den Kriegskrediten Kaiser Wilhelms II zustimmte.“
Von der sekundenschnellen Entscheidung für entweder Kampf oder Flucht habe ich oben geschrieben, davon, dass auch Krieg, gedanklich vorgestellt oder realiter erlebt, solch primitive Reflexe bei uns Menschen auslöst. Böse gesagt: Die journalistisch und politisch Maßgeblichen, die gerade zu Wort gekommen sind, können sich offenbar den Luxus gestatten, sich hemmungslos dem primitiven Reflex zu überlassen, auf offener Bühne ein demonstratives Kriegsgeheul anzustimmen. Eine Affektabfuhr, die gleichzeitig dem Einstieg in den Kampfmodus und der Schmerzabwehr dient. Nur keine Schwäche zulassen und keinen Schmerz spüren und sich fit zum Draufhauen machen. Das muss man sich (von der Warte eines so ressourcenarmen wie vulnerablen Behinderten aus betrachtet) erst einmal leisten können!
Zweimal Originalton der Maßgeblichen in diesem Land, Alphajournalisten in der Talkrunde bei Lanz das eine Mal, das andere Mal unsere gewählten Politiker im Bundestag. Wie das bei mir, einem Unmaßgeblichen, ankommt und was es mit mir macht, habe ich genügsam zum Ausdruck gebracht. Ich will abschließend nur diese eine Beobachtung und Überlegung noch hinterherschicken. Wie unglaublich fern ist doch der Habitus von Menschen, die sich in den privilegierten Kreisen der Elite oder der gesellschaftlich und politisch herrschenden Klasse aufhalten, sich also innerhalb der Blase der Maßgeblichen bewegen – wie fern sind sie doch in Mentalität und Habitus, ihrer Überheblichkeit und Selbstgefälligkeit, ihrer Wichtigkeit und Wohlhabenheit von den gänzlich anderen Lebenswelten und Alltagsnöten, in denen wir Unmaßgeblichen der unterschiedlichsten Milieus feststecken und mit deren gänzlich anderen Herausforderungen wir uns Tag für Tag herumschlagen. Und uns zu allem Überfluss dabei das Elitengeschwätz von der „Augenhöhe“ anhören müssen …
Aber bevor ich in populistische Raserei gerate, lasse ich es gut sein und denke wenigstens abschließend einmal positiv. Indem ich Euch – nachdem ich weiter oben ein wenig ungerecht kein gutes Haar an der Rede von Inklusion gelassen habe – aufmerksam mache auf das, was Heribert Prantl in einem schönen Text über Inklusion ausgeführt hat. Hier ein kurzer Auszug: „Behinderung auszugleichen ist ein gesellschaftliches Großprojekt, eine Zeitenwende. Das Grundgesetz ist nicht zynisch. Es sagt nicht, sei doch froh, dass es Dir nicht noch schlechter geht. Es sagt, Demokratie ist eine Zukunftsgestaltungsgemeinschaft und du gehörst dazu, Deiner Handicaps zum Trotz, Du gehörst zu den Zukunftsgestaltern – und die Demokratie muss alles dafür tun, dass du dabei mitmachen kannst. … Inklusion kostet Geld. Aber diese Inklusionszeitenwende kostet weniger als die andere, und ihr Mehrwert ist gewaltig, weil die Kultur des Helfens die Gesellschaft wunderbar verändern kann.“ (Zur Gänze könnt Ihr den Text nachlesen auf http://www.forsea.de/contentbeitrag-731-789-inklusion_ein_anderes_wort_fuer_demokratie.html)
P.S. Zwei weitere Hör- bzw. Lesetipps. Das obige Zitat von Helmut Böttiger aus Briefwechsel „Fragile“ zwischen Jurko Prochasko und Helmut Böttiger (gesendet 1.u.8.3.2023 in Dlf Lesezeit)
– Wir hier in Deutschland machen unsere Erfahrungen mit dem Krieg in der Ukraine in geografischer Entfernung, in sicherem Abstand gewissermaßen zum realen Kriegsschauplatz. Erfahrungen, wie sie Menschen aus dem Kriegsgebiet machen, versammelt der Band Aus dem Nebel des Kriegs, die Gegenwart der Ukraine (Suhrkamp 2023). Eine der beiden Herausgeberinnen, die in Berlin lebende ukrainische Autorin Kateryana Mishchenko, sagte im Dlf-Interview Kulturfragen: „Deutschland hat noch diesen Vorteil, zu denken und zu konzipieren“, für die Ukrainer „ist das alles so akut, dass wir maximal schnell agieren müssen und die Länder und die Räume, wo es noch möglich ist, sich Gedanken zu machen, müssen das jetzt machen …“ Worte, die ich für mich auch als eine Rechtfertigung meiner eigenen Reflexion und Stellungnahme verstehe, einschließlich der Freiheit, aus der Distanz bestimmten politischen und militärischen Schlussfolgerungen zu widersprechen, wie sie in jenem Sammelband von unter der Kriegseinwirkung unmittelbar Leidenden geäußert werden.