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Triage-Diskussion: Erschütternd geschichtsvergessen und einseitig medizinisch-ökonomisch

Prof. Dr. Theresia Degener
Prof. Dr. Theresia Degener
Foto: KSL Amsberg

Bochum (kobinet) Nach der Anhörung vom 19. Oktober im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestag zum Gesetzentwurf für Regelungen im Falle einer Triage sitzen die Abgeordneten in diesen Tagen an möglichen Änderungsanträgen für die voraussichtlich am 10. November anstehende Verabschiedung des Gesetzes im Bundestag. Während die Verbände mit Spannung auf die Änderungsanträge warten, hallt die Anhörung noch kräftig nach. Als "erschütternd geschichtsvergessen und einseitig medizinisch-ökonomisch“ fasste beispielsweise Prof. Dr. Theresia Degener vom Bochumer Zentrum für Disability Studies (BODYS) ihre Eindrücke von der Anhörung zusammen.

„Erschütternd geschichtsvergessen und einseitig medizinisch-ökonomisch“ – so das Resümee der Leiterin von BODYS, Prof. Dr. Theresia Degener, zur zweistündigen Anhörung im Gesundheitsausschuss des Deutschen Bundestages zum sogenannten Triage-Gesetz. Mit dem Gesetzentwurf zum Infektionsschutzgesetz soll der Triage-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts umgesetzt werden“, heißt es in der BODYS-Presseerklärung.

„Im Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht, an dem auch BODYS als Sachverständiger beteiligt war, ging es um die Frage, wie knappe intensivmedizinische Ressourcen in der Pandemie zugeteilt werden sollen, wenn es nicht ausreichend Beatmungsgeräte oder Intensivbetten gibt. Das BVerfG folgte den schwerbehinderten Beschwerdeführer_innen in der Auffassung, dass diese Fragen die Gesetzgeber_innen und nicht die medizinischen Fachverbände zu entscheiden hätten und dass es für diese Situation ein diskriminierungsfreies Gesetz braucht“, erläutert Prof. Dr. Theresia den Hintergrund der aktuellen Diskussion.

„Der nun vorgelegte Gesetzentwurf“, kommentierte Degener, „genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. So führt ein Abstellen auf das Kriterium der ‚aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit‘ zur Benachteiligung behinderter und alter Menschen. Vermeidbar wäre das mit dem Losverfahren. So schwierig die Akzeptanz des Zufallsprinzips bei Entscheidungen über Leben und Tod ist, so klar ist auch, dass es den einzigen Diskriminierungsschutz in Triage-Situationen darstellt, also in solchen Situationen, in denen nicht alle behandelt werden können. Der aufgrund der nationalsozialistischen Euthanasiemorde im deutschen Verfassungsrecht besonders fundamental entwickelte Grundsatz der Lebenswertindifferenz gebietet nichts Anderes.“

Daran erinnerte Theresia Degener als Sachverständige in der Anhörung. Doch weder die historische Verantwortung noch die Vorreiterrolle, die Deutschland auf internationaler Bühne mit diesem Gesetz einnehmen wird, wurden in der Anhörung ihrer Ansicht nach weiter diskutiert. „Stattdessen wurde den Vertreter_innen der Bundesärztekammer, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und der Fachverbände der Intensivmedizin breiter Raum für deren Bestreben nach Entkriminalisierung der Ex-post-Triage eingeräumt.“

Dabei gehe es um den Behandlungsabbruch zugunsten von Patient_innen mit höheren Erfolgsaussichten. Welch unerhörte und gerade vor dem Hintergrund der historischen Verantwortung Deutschlands unerträgliche Folge dies hätte, bringt Prof. Degener auf den Punkt: „Damit würde das Prinzip ‘survival of the fittest’ verabschiedet und in Gesetzesform gegossen.“ Und sie ergänzt: „Es war furchtbar anzuhören, wie sich die Ärzteschaft im Einklang mit der AfD dafür einsetzte.“ Scharfe Kritik gab es nach der Anhörung deshalb auch von Vertreter_innen der Behindertenverbände.

Link zur Presseinformation von BODYS