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Behinderte Menschen kommen im Entlastungspaket nicht vor

Dr. Martin Theben
Dr. Martin Theben
Foto: privat

Berlin (kobinet) Der Berliner Rechtsanwalt Dr. Martin Theben blickt für die kobinet-nachrichten häufig zurück in die Vergangenheit und berichtet als Hobby-Chronist über wichtige Aktiviäten und Meilensteine der Behindertenbewegung. Anlässlich der derzeit im Deutschen Bundestag stattfindenden Haushaltsberatungen mischt er sich in eine aktuelle Debatte ein und kommentiert die Pläne für das sogenannte dritte Entlastungspaket der Bundesregierung. Für Dr. Martin Theben kommen behinderte Menschen im Entlastungspaket der Bundesregierung bisher nicht vor.

Kommentar von Dr. Martin Theben

Die Bundesregierung und die Ampelkoalition feiern das sogenannte dritte Entlastungspaket als großen Erfolg. Wuchtig sollte es sein, doch viele der Maßnahmen, wie etwa die Abschaffung der kalten Progression oder die umfassende Reform des Wohngeldes treten wohl erst im kommenden Jahr in Kraft. Auch die Einmalzahlungen an Rentner*innen, Studierende und Auszubildende sind lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein und werden die massiven Preissteigerungen der Lebenshaltungskosten wohl kaum hinreichend kompensieren können. Es reicht ja nicht aus allein viel Geld auszugeben, wenn es am Ende dann doch nicht dazu beiträgt, die zum Ende des Jahres wohl mit voller Wucht sich entfaltende Krise abzumildern.

Das Wichtigste aber ist: Menschen mit Behinderungen kommen in diesem Entlastungspaket nicht vor. Dabei hätten sich eine Reihe von ganz konkreten Schritten, sowohl rechtlich als auch tatsächlich, realisieren lassen. Warum beispielsweise werden die Einmalzahlungen in Höhe von 300 Euro nicht auch auf Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen erstreckt. Wäre es zudem nicht auch möglich, die Anrechnung des Pflegegeldes nach Paragraph 37 SGB XI für BezieherInnen und Bezieher von Leistungen der Hilfe zur Pflege auszusetzen. Auch müsste das Pflegegeld selbst mindestens um einen Inflationszuschlag an die aktuelle Krise angepasst werden; gleiches gilt für Beschäftige bei Assistenznehmer*innen.

All dies könnte zeitlich befristet für einen Zeitraum von etwa sechs Monaten von Oktober bis März kommenden Jahres realisiert werden. Das so etwas möglich ist, hat die leletzt Corona-Krise ja bewiesen. Mittelfristig sollten die Länder dahin zurückkehren, das Landespflegegeld, welches in den 80er und Anfang der 90er Jahre vielen Menschen mit Behinderungen dazu verholfen hat, tatsächlich ein selbstbestimmtes Leben unabhängig von Sozialstationen oder ambulanten Pflegediensten zu führen, wieder zu beleben. Es sei daran erinnert, dass das Forum behinderter Juristinnen und Juristen in seinem Entwurf für ein Bundesteilhabegesetz ein sogenanntes einkommens- und vermögensunabhängiges Teilhabegeld vorsah. Die damalige Sozialministerin Andrea Nahles, heute Leiterin der Bundesagentur für Arbeit, hatte dies aber frühzeitig abgelehnt! Warum sollte sich so etwas nun nicht auf Länderebene realisieren lassen. Entsprechende Initiativen könnten hier von den Landesbehindertenbeiräten, die es ja in allen Bundesländern gibt, initiiert werden. Natürlich ließe sich so etwas auch auf Bundesebene realisieren. Auf weitere Defizite hat ja schon beispielsweise der Sozialberater des Allgemeinen Behindertenverbandes in Deutschland völlig zurecht aufmerksam gemacht.

Als Vater von sechs Kindern sei mir abschließend auch noch die Bemerkung erlaubt, dass die Erhöhung des Kindergeldes um 18 Euro für das erste und zweite Kind dann doch eher so etwas wie eine schallende Ohrfeige darstellt. Im Übrigen hätte ich mir auch zumindest von den behindertenpolitischen Sprecher*innen der Oppositionsparteien, aber mindestens auch von der die Koalition tragenden Fraktion der Grünen deutliche Worte der Kritik am Entlastungspaket bezogen auf die Ignoranz gegenüber Menschen mit Behinderungen gewünscht. Aber vielleicht hören wir ja entsprechendes noch heute am 8. September, wenn dort im Rahmen der Haushaltsberatungen über den Haushalt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales debattiert wird.

Link zum kobinet-Bericht über die heutige Haushaltsdebatte

Lesermeinungen

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8 Lesermeinungen
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Konrad W.
08.09.2022 22:53

Auch wenn ich Ihnen grundsätzlich zustimme und ebenso die Entlastungen für behinderte Menschen vermisse, so muss ich doch etwas korrigieren:

„Warum beispielsweise werden die Einmalzahlungen in Höhe von 300 Euro nicht auch auf Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen erstreckt.“
Das wurde gemacht! Nachdem das Bundesministerium für Arbeit bereits auf dem letzten Werkstätten-Tag in Saarbrücken über ihren Staatsminister verkünden ließ, dass die Beschäftigten in WfbM nach dem Einkommensteuergesetz per Definition „Entgeltempfänger“ sind (die halt nur keine entsprechende Steuer zahlen), bekommen alle Beschäftigten im Arbeitsbereich einer Werkstatt die Energiepreispauschale von 300 Euro. Die Personen in Eingangsverfahren und Berufsbildungsbereichen gehen jedoch leider leer aus.
Wie nun EU-Rentner im Dezember gehandhabt werden, die bereits im September die Einmalzahlung (als Werkstattbeschäftigte) erhalten haben, ist vollkommen offen.

Aber ja: Das dritte Entlastungspaket geht an den meisten behinderten Menschen vorbei.

Marion
Antwort auf  Konrad W.
14.09.2022 12:51

Das muss man genauer analysieren, denn das Entlastungspaket macht erst einmal keinen Unterschied darüber, ob ein Mensch eine Behinderung hat oder eben nicht. Somit ist es mit dem Grundgesetz vereinbar.

WfbM: Diese Menschen erhalten meist unterstützend Grundsicherung (leider) und darüber gibt es doch auch eine Entlastung, da Grundsicherung auch Heizkosten übernimmt.

EU-Rentner: Das sind meist Menschen die auch eine anerkannte Behinderung haben. Diese sollen doch über die Rente eine Einmalzahlung bekommen. Wer dann zusätzlich noch Wohngeld bezieht, oder durch die Wohngeldreform in die Gruppe Berechtigter hinein kommt, erhält auch eine Entlastung.

Erwerbstätige: Da kommt die Entlastung über Arbeitgeber/Steuer

Habe ich jetzt eine Personengruppe vergessen?
Ich frage mich nämlich jetzt, wo Menschen mit Behinderungen in besonderer Form im Entlastungspaket benachteiligt sind. Vielleicht mache ich einen Denkfehler, dann lasse ich mich hier gerne des Besseren belehren.

Alexander Drewes
Antwort auf  Marion
15.09.2022 16:31

Sie verkennen – wie häufiger – die verfassungsrechtlichen Grundlagen.
Ob eine Regelung dem Gleichheitsgrundsatz entspricht oder nicht, bemisst sich nach der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht (BVerfG) nicht ausschließlich danach, ob verschiedene Personengruppen „gleich“ behandelt werden.
Es ist stündige Rechtsprechung des BVerfG, dass nur wesentlich Gleiches gleich behandelt werden darf, wesentlich Ungleiches aber ungleich behandelt werden muss.
Nun dürfte es eigentlich jedermann nachvollziehbar sein, dass beeinträchtigte Menschen regelmäßig einen höheren Bedarf insbesondere auch an Heizenergie aufweise, als das bei nicht beeinträchtigten Menschen der Fall ist.
Ich könnte Ihnen jetzt mein eigenes Fallbeispiel benennen, ich sitze seit knapp anderthalb im Rollstuhl (dass ich daneben taubblind spielt für das Thema jetzt keine relevante Rolle).
Allein durch die erhebliche Unbeweglichkeit z.B. der Muskulatur frieren die meisten Rollstuhlnutzenden wesentlich schneller und bei Kälte auch heftiger, als dies bei Menschen, die die Beinmuskulatur (und die dadurch weiterhin beanspruchten Muskelgruppen) noch hinreichend verwenden (können), der Fall ist.
Dem hat der Gesetzgeber – zumindest in den grundsicherungsleistenden Bereichen – auch dadurch entsprochen, dass er eine Öffnungsklausel bei den Kosten der Unterkunft und Heizung zugelassen hat, die er allerdings relativ restriktiv bemessen hat.
Mithin gibt es gute – zugegeben: im Beitrag nicht näher genannte – Gründe für eine mindestens pauschalierte Aufstockung der sowieso schon viel zu niedrig bemessenen Energiepauschale im Entlastungspaket.

Marion
Antwort auf  Alexander Drewes
17.09.2022 14:06

Ihr Vorwurf, ich würde „verfassungsrechtlichen Grundlagen verkennen“ verwundert mich schon sehr, verweise ich doch gerade auf diesen.

Grundsätzlich: Menschen mit Behinderungen und Menschen ohne Behinderungen, sind vor dem Gesetz gleich – Dieser Grundsatz meint, dass die Leistungen unabhängig von einer Behinderung, erst einmal für alle Menschen gleich sind.
Daher auch meine Frage.

Das, was Sie schildern, ist ja im Prinzip, ein medizinisch/behindeungsbedingter begründbarer Mehrbedarf. „Mehrbedarfszuschlag von 17 % des maßgebenden Regelsatzes“, so heißt es bspw. Über diesen Mehrbedarf, werden in der Regel auch der Mehrbedarf an Energiekosten abgedeckt. Wie das allerdings auf Grundlage der steigenden Energiekosten sich auch auf den Mehrbedarf auswirken wird, bleibt abzuwarten. Notfalls muss hier das Recht juristisch geltend gemacht werden.

Und ja es stimmt, dass die Heizkosten nur im angemessenen Rahmen erstattet werden, das bedeutet, dass dazu der Bundesweite Heizkostenspiegel zur Berechnung verwendet wird (BSG, B 14 AS 36/08 R vom 02.07.09).

Jetzt haben wir eine neue Situation, nämlich steigende Energiekosten (bitte nicht mit Verbrauch vergleichen) unter Maßgabe der Energieersparnis. So wie sich aber bisher die Bundesregierung äußert, sollen die Grundsicherungsämter diese Kosten übernehmen. Dabei vermute ich, dass man aber auch darauf achten wird, dass der Energieverbrauch (gemessen in KW) mindestens gleichbleibend, wenn nicht sogar fallend ist.

Alexander Drewes
Antwort auf  Marion
20.09.2022 23:04

Sehr geehrte Internet-Nutzerin,

das Rekurrieren auf einen Umstand heißt ja nicht zwingend, dass man davon auch Ahnung haben muss.
Wie bereits dargelegt, haben Sie eine etwas merkwürdige Definition des verfassungsrechtlichen Gleichheitsgrundsatzes. Gleichheit heißt nicht, dass – um jetzt ein plastisches Beispiel zu benennen – der Rollstuhlnutzende schon deshalb gleich behandelt wird, wenn er in der ersten Reihe vor einer ein Meter hohen Wand steht und deshalb nichts sieht, während der Geh- und Stehfähige damit regelmäßig ersichtlich kein Problem haben wird, vorausgesetzt, er weist die entsprechende Körpergröße aus. Den Gleichheitsbegriff – wie Sie das tun – rein statisch zu fassen, verkennt den verfassungsgerichtlichen Ansatz, der – ich wiederhole mich – davon ausgeht, dass nur wesentlich Gleiches auch gleich behandelt werden darf, wesentlich Ungleiches aber anders behandelt werden muss.
Falsch ist auch Ihr Ansatz, dass der bundesweite Heizspiegel irgendetwas über den tatsächlichen Verbrauch aussagen würde, der Heizspiegel gibt ja lediglich ein durchschnittliches Kostenniveau an.
Sie gehen in keiner Weise auf die im Beitrag und in meinem Leserbrief aufgeworfene Fragestellung, was denn geschieht, wenn es beeinträchtigungsbedingt einen höheren Heizkostenbedarf gibt. Wie ich im vorherigen Leserbrief bereits dargelegt habe (und das lediglich an einer einzigen Beeinträchtigungsart, die Fallbeispiele ließen sich ja nahezu beliebig erweitern), geht Ihr Ansatz, dass ein beeinträchtigungsbedingter Mehrbedarf bei den Kosten der Unterkunft und Heizung überhaupt keine Rolle spiele, völlig fehl und zeugt nicht nur von einer erheblichen Unkenntnis der Lebenssituation der Betroffenen, sondern auch von der entsprechenden Rechtsprechung der gesamten Sozialgerichtsbarkeit.
Und wieder – wie schon häufiger – fragt man sich bei Ihnen: Schreibt hier nicht ein interessierter agent provocateur.

Alexander Drewes, LL.M.

Konrad W.
Antwort auf  Marion
16.09.2022 08:18

Hallo Marion,

ich hätte gerne gleich im Anschluss auf ihre Frage geantwortet, hatte aber Probleme mit dem Login (Danke an das Kobinet-Team für die Mühe!).

Die Sache ist vermutlich komplexer und in vielen Fällen nicht so einfach zu erklären, wie sie es mit ihren Überschriften versuchen.

WfbM: Die Personen erhalten nicht „unterstützend“ Grundsicherung, sondern „leben“ (finanziell zu 90%) von der Grundsicherung. Der Werkstattlohn kommt „unterstützend“ hinzu und das ist derzeit viel zu wenig. Die Reformierung des Werkstattlohns ist seit 5 Jahren Thema und schon relativ weit fortgeschritten – optimistisch betrachtet dauert es dennoch gute 2 Jahre, bis die Werkstattbeschäftigten davon profitieren können. Zudem ist das Bürgergeld noch Monate entfernt und bereits heute haben viele SGB 12 Bezieher immense Schwierigkeiten, ihre Rechnungen zu bezahlen, und WICHTIG: Die Hezkosten werden nur angemessen übernommen, da gibt es bereits Sozialämter, die nicht alle Kosten zu 100% übernehmen UND Stromkosten zahlen Empfänger von Grundsicherung immer von ihrer Grundsicherung alleine, nicht über die Kostenübernahme der Unterkunft. Heißt: Stromabschlag 40-50 Euro im Monat rauf, 40-50 Euro weniger zum Leben!

EU-Rentner: 1/3 der Werkstattbeschäftigten ist im Bezug von EU-Rente und bekommt keine Grundsicherung. Diese Personen stehen ähnlich finaziell im Regen, wie die anderen WfbM-Beschäftigten. Alle Beschäftigte von Werkstätten haben die 300 Euro Energiepreispauschale erhalten, d.h. das EU-Rentner im Dezember (zu 98%) nicht die zweite Zahlung erhalten werden. Wenn sie nun meinem Stromabschlagsbeispiel (50 Euro mehr) folgen, merken sie, dass 300 Euro so oder so nur die Hälfte trägt und „entlastet“.

Erwerbstätige: Touché, die erhalten einige Vergünstigungen – ich würde jedoch nur die wenigsten Behinderten in diese klassische Arbeitnehmer-Gruppe einfügen.

Die Debatte ist lang und kompliziert, ich denke nur, dass die Milderung des Problem gerade nicht sehr nachhaltig ist und „sich die meisten Behinderten nicht im Entlastungspaket wiederfinden“.

Schwere Zeiten.

Marion
Antwort auf  Konrad W.
17.09.2022 14:17

Hallo Konrad,

mich würde da die Aussage „Alle Beschäftigte von Werkstätten haben die 300 Euro Energiepreispauschale erhalten, d.h. das EU-Rentner im Dezember (zu 98%) nicht die zweite Zahlung erhalten werden.“ etwas konkreter interessieren, da ich diese interessant finde, bisher aber nicht validieren konnte und auch seitens der Bundesregierung, für die Aussage keine Bestätigung erhalten habe.

Das Strombeispiel ist zwar rechnerisch richtig, aber soweit mir bisher bekannt und bestätigt wurde, ist das Thema Der „Strompreisdeckel“ der eben den Grundverbrauch sichert und erst wer darüber kommt, soll den „teuren“ Preis zahlen.

Zwar wären hier schnellere Entscheidungen der Bundesregierung hilfreich, aber es ist wie es ist. Wir müssen leider abwarten, bis eine Entscheidung herbeigeführt werden und „Brandbriefe“ ans Kanzleramt, würden die Situation vielleicht noch konkreter verdeutlichen, denn ja, die Entlastungen haben keine Zeit bis 2023, sondern werden jetzt benötigt.

Auch wenn die Debatte lang und kompliziert ist: Sie muss jetzt geführt werden und das öffentlich unter Beteiligung der Regierung und den Medien. Nur ohne Initiator der politischen Debatten, droht das Thema eher unterzugehen.

Zum Kern zurück: Die Frage nach „Entlastungen für Behinderte“ sehe ich nicht gesondert, da derzeitig die Entlastungspakete da keinen Unterschied machen. Vielmehr sehe ich, dass man sich mehr mit der sozialen Gerechtigkeit zu dem Thema, befassen muss.

Konrad W.
Antwort auf  Marion
16.09.2022 16:00