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Wolfsburg/Berlin (kobinet) Sabine Kirchberg ist ehrenamtliche Helferin bei der christlichen Freikirche in Wolfsburg und hat sich an das Team von www.hilfsabfrage.de gewandt, da sie für einen Menschen mit geistiger, körperlicher und psychischer Behinderung eine Betreuungsmöglichkeit sucht. "Wir von www.hilfsabfrage.de sind berührt von der Kraft und der Anstrengung, die von den ehrenamtlichen Helfenden in Wolfsburg geleistet wird und möchten dies gerne sichtbar machen, daher haben wir Frau Kirchberg um ein Interview gebeten, in dem sie uns von den Erfahrungen in der Hilfe, den Herausforderungen und den bürokratischen und rechtlichen Steinen, die den Helfenden und Hilfesuchenden in den Weg gelegt werden, berichten kann", schreibt Emine Kalali, die sich im Projekt www.hilfsabfrage.de für die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) engagiert und folgendes Interview geführt hat.
Emine Kalali: Liebe Frau Kirchberg, Sie sind ehrenamtliche Helferin bei der christlichen Freikirche in Wolfsburg und haben sich an Hilfsabfrage gewandt, weil sie eine Betreuungsmöglichkeit für einen ukrainischen Menschen mit Behinderung gesucht haben. Sie sind sehr aktiv in der Hilfe für geflüchtete Menschen aus der Ukraine. Wie gestaltet sich diese Arbeit, mit wem arbeiten Sie zusammen, was mussten Sie als Ehrenamtliche hier erfüllen?
Sabine Kirchberg: Die Freikirche hat eine Großgruppe von 40 Kindern und Jugendlichen und deren 4 Pflegeeltern-Paare aufgenommen. Also diese 40 Kinder und Jugendlichen sind fast alles Pflegekinder, 3 oder 4 biologische Kinder und der Rest sind alles Pflegekinder, schon aus der Ukraine. Dazu kommen 3 Einzelpersonen, die wir aus Polen zu uns nach Wolfsburg hin begleitet haben. Mehrere Leute aus der Gemeinde waren für einen Hilfstransport an die Polnisch-Ukrainische Grenze gefahren und hatten für den Rückweg angeboten, Menschen die möchten, nach Wolfsburg mitzunehmen. Da haben sich diese Großfamilien, die aus einer Kirchengemeinde sind, denen angeschlossen.
Für die nächsten zweieinhalb Wochen sind sie dann erstmal in dem Kirchengebäude der Freikirche untergekommen. Dafür haben wir alle Räume, außer dem Gottesdienstraum, umfunktioniert. In diesen zweieinhalb Wochen, kann man eigentlich sagen, war es eigentlich für die Gemeinde – und für manche Personen im speziellen – ein 24 Stunden Dienst. Wir hatten ein Kernteam von ungefähr 7 Personen, die haben diese Familien Tag und Nacht betreut. Die hatten unsere Telefonnummern von den russisch-sprachigen Personen, die Tag und Nacht zur Verfügung standen, die auch mit begleitet haben, ins Krankenhaus, in die Notaufnahme oder zu Ämtern.
Für eine 15jährige Jugendliche, dessen Vater nochmal in die Ukraine zurückgefahren ist und sie aus dem Krankenhaus abgeholt hat, von der Intensivstation, haben wir dann mit dem Wolfsburger Krankenhaus alles vorbereitet, dass das ein nahtloser Übergang war, so kam sie dann ins Wolfsburger Krankenhaus hinein. Die gesamten Formalitäten mussten erledigt werden – und das war am Anfang ja sehr schwierig. Das war ja alles neu – in der gesamten Bundesrepublik. Die Übersetzung der Papiere, der Ausweise, der Pflegeurkunden, die Registrierungsgeschichten in der Stadt – die Abklärung erstmal auch, dass das alles Pflegekinder sind und nicht unbegleitete Minderjährige. All diese ganzen Sachen, dass haben ein Kernteam von etwa sieben Personen – sporadisch auch immer mal wer anderes – gemacht. Und das ist gerade in den ersten zweieinhalb Wochen ganz stark gewesen. Wir haben unsere Familien Zuhause kaum gesehen.
Emine Kalali: Darf ich nochmal nachfragen, ob ich das richtig verstehe, Sie sind tatsächlich einfach Mitglieder der Gemeinde und niemand, die hauptamtlich im Bereich der Flüchtlingshilfe arbeitet?
Sabine Kirchberg: Keine*r von uns ist angestellt. Wir haben das alles ehrenamtlich gemacht. Im Nachhinein kann man sagen, diese Familien hatten großes Glück. Die eine Helferin, Frau J., ist Mutter von 4 Kindern – alle im Kleinkindalter und erste Klasse, die befindet sich in Elternzeit und wird demnächst wieder arbeiten. Die hat eine Tätigkeit im Bereich der sozialen Arbeit und hat sich da voll reingehängt. Ich bin seit Ende Mai letztes Jahr krankgeschrieben, mit einer Krebserkrankung, und mir ging es rein körperlich allerdings recht gut – ich fang jetzt auch wieder an zu arbeiten bald. Und dieser Sachverhalt ist den Familien zu Gute gekommen, dass wir Zeit hatten, die wir sonst in dem Umfang auch nicht gehabt hätten. Auch die ganzen Einzelpersonen, die sind zum Essen nach Hause gekommen und haben versucht, noch schnell ihre Wäsche zu waschen und dann ging es schon weiter. So gingen die ersten zweieinhalb Wochen ins Land.
Dann ist die ganze Gruppe umgezogen in ein Provisorium – was im Verhältnis zu anderen Asylunterkünften und was da abgeht und wie es ausgestattet ist – da gings denen eigentlich noch gut. Das war von der Diakonie. Da haben sie dann auch erstmal 14 Tage gewohnt. Und wir kümmerten uns um den Papierkram, die Übersetzungen, die Krankenhausgeschichten, Arztgeschichten, haben angerufen, unterstützt, begleitet, denen gut zugesprochen.
Wir hatten dann auch eine Hilfe bekommen, eine Integrationsbeauftragte, die natürlich nicht 100-prozentig nur für diese Flüchtlinge zuständig war – es gibt ja andere Flüchtlingsgruppen, die alle gekommen sind – mit ihr arbeiten wir ganz eng zusammen.
Frau J. hat mindestens einen 50 Prozent Job gemacht in den letzten viereinhalb Monaten, mit Behördengängen, mit Sozialamt etc. Das war am Anfang sowas von viel. Das auch alles begreiflich zu machen. Die Mitarbeiter*innen vom Sozialamt haben natürlich auch eine Menge zu tun gehabt, aber dieses stundenlange dort sitzen und abwarten. Alleine, wie viel Zeit das dort in Anspruch genommen hat. Und nochmal und nochmal hin zu müssen. Und dann später ab dem 1. Juni die Arbeit mit dem Jobcenter. Gott sei Dank ist diese Integrationsbeauftragte russischsprachig und eine ganz Liebe und wir sind per du und arbeiten Hand in Hand.
Meine Tätigkeiten waren meist, dass ich die Organisation von Hilfen und medizinischer, ärztlicher Hilfe organisiere und da hin auch begleite. Ich kann kein Wort russisch oder ukrainisch – da wo es erforderlich ist, organisiere ich dann also auch Übersetzungsmöglichkeiten. Da haben wir auch aus der Gemeinde heraus mehrere Leute Gott sei Dank, die sich da ehrenamtlich zur Verfügung gestellt haben. Ich bin auch Ansprechpartnerin zum Teil für Schule und Kindergarten, so dass ich dann Anrufe bekomme von den Lehrerinnen der Kinder. Oder der Kindergarten ruft an, dass noch irgendein Formular fehlt. Und dann unterstütze ich Frau J. so gut es geht. Wir sind immer im Kontakt und dann ruft sie an und sagt, kannst du dieses Formular noch besorgen und das noch unterschreiben lassen. Und ich informiere sie über das was ich gemacht habe, damit gewisse Dinge nicht alle doppelt und dreifach laufen. Und dann die persönlichen Gespräche – die sind natürlich auch ganz wichtig. Also Gespräche der Ermutigung und einfach da zu sein. Mir ist es nur möglich mit Übersetzung. Zum Teil läuft es zum Glück mitunter sehr lustig ab. Ich setze meinen ganzen Körper ein und der Google Übersetzer tut den Rest. Das ist ein Notprovisorium und das klappt mittlerweile ganz gut.
Emine Kalali: Darf ich nochmal kurz nachfragen: die Integrationsbeauftragte ist beim Sozialamt eingestellt?
Sabine Kirchberg: Das ist die Integrationsbeauftragte von der Stadt Wolfsburg.
Emine Kalali: Und die ist für alle Geflüchteten in der Stadt Wolfsburg zuständig und unterstützt Sie aber ganz eng ja?
Sabine Kirchberg: Ja, da gibt es ein Büro und gerade in der ersten Zeit hat die sich sehr viel – so viel wie nötig und möglich – Freiraum geschafft, um sich um diese Großfamilien zu kümmern.
Man muss sich vorstellen, 40 Kinder. Das ist was anderes, als wenn eine Frau mit ein oder zwei Kindern kommt. Das ist nicht so schnell abgearbeitet.
Emine Kalali: Da würde ich direkt weitergehen zur nächsten Frage. Sie haben gesagt, dass die Menschen zunächst in der Gemeinde für 14 Tage untergebracht waren und dann kamen sie in die jetzigen Unterkünfte. Wie sind sie zu diesen jetzigen Unterkünften gekommen? Wie nehmen Sie bei den Menschen, die Sie untergebracht haben, die Wohnsituation wahr? Denken Sie, dass diese auf lange Sicht bedarfserfüllend ist?
Sabine Kirchberg: Nachdem sie etwa 2 Wochen in den Räumlichkeiten der Gemeinde waren, waren sie für 2-3 Wochen in einer ehemaligen Altenpflegeschule mit Innenhof und 1 Mal die Woche Dusch-Tag im angrenzenden Kindergarten. Dann haben sie eine Wohnmöglichkeit in einem Asylwohnkomplex erhalten – der wurde 2015 hergerichtet, als dieser ganze Syrienkonflikt war und da haben die Familien Wohneinheiten zugewiesen bekommen. Was besser ist als nichts, und es ist auf jeden Fall besser als in einer großen Sammelunterkunft Wochen und Monate lang zu leben. Wir sind nicht undankbar. Aber es ist halt völlig überfüllt. Es wohnen jeweils 2 Familien in 3 Wohnungseinheiten, das heißt dass eine Wohnung immer gemischt ist mit Kindern aus zwei verschiedenen Familien. Die sind dann dort und der Rest hat dann seine eigene Wohneinheit.
Die Eltern haben es sich so eingerichtet, dass sie ihr eigenes kleines Zimmer, mitunter mit einem Kleinkind drin bewohnen. Sonst schlafen ungefähr 4 Personen in einem Raum in Etagenbetten. Es gibt kaum Platz um Kleidung, Schulmaterial oder irgendwas unterzubringen. Denn alles ist vollgestellt. Am Anfang gab es keine Kleiderschränke. Es gab nur so ein offenes Würfelfach in so einer Regalanlage, da hatte jeder so ein Würfelfach – das war die Standartausstattung von damals. Mittlerweile haben sie sich durch Sperrmüll und Spenden und dies und das Schränke hin gebracht. Aber da ist gar nicht genug Platz für Schränke, wie sie brauchen würden. Das heißt, dass sie den Rest ihrer Klamotten in Kartons und Tüten haben. Jede Wohneinheit hat so eine Abstellkammer, die ist vom Fußboden bis zur Decke mit Kartons und Tüten gefüllt. Wo man sich erstmal durcharbeiten muss.
Was ich gesehen habe, hat wohl jede Wohneinheit einen Schreibtisch stehen. Dieser Schreibtisch muss im Durchschnitt für ungefähr acht Personen reichen. Dass die Kinder dort ihre Schulaufgaben machen, die Jugendlichen dort Lernen, dass die Erwachsenen ihre Sprachintergrationsschule, die Aufgaben dort machen. Dann ist da die Küche, die ist Ess- und Lernraum in Einem. Auch für die geistig beeinträchtigten Personen – den jungen Mann und den Schüler von 14 Jahren. Da ist nirgendwo Ruhe. Nicht dass man sagen könnte, ich mach irgendwo meine Hausaufgaben für 30 Minuten in Ruhe. Nee, da macht man seine Hausaufgaben halt am Schreibtisch, am Küchentisch. Dann kommt einer rein und will Essen haben, der Nächste kommt und kocht was. Also sehr schwierig.
Emine Kalali: Hilfsabfrage.de ist ja gerichtet an geflüchtete Menschen mit chronischen Krankheiten und Behinderungen und Sie haben sich an uns gewandt. Wie sind Sie auf uns gestoßen und warum haben Sie sich entschieden, bei uns um Hilfe zu bitten?
Sabine Kirchberg: Ich habe für einen 22-jährigen fast blinden Mann, welcher auch geistig beeinträchtigt ist und Epilepsie erkrankt, Hilfe gesucht. Ich habe vorab im Wolfsburger Raum bei der Lebenshilfe angefragt gehabt, bezüglich gegebenenfalls Aufnahme in der Werkstadt oder für Freizeitangebote, wo er vielleicht ein bis zweimal die Woche sich für ein paar Stunden aufhalten könnte. Das Problem ist, dass er aufgrund seiner vielen Behinderungen, vor allem der geistigen Behinderung, auf russisch-sprachige Unterstützung angewiesen ist und das ist leider in Wolfsburg nicht möglich. Also habe ich gedacht, ich schaue mal, was es im erweiterten Raum Wolfsburg Richtung Gifhorn, in Richtung Braunschweig-Helmstedt und was es da so für Möglichkeiten gibt – der Transport wäre das nächste Problem dann – dann habe ich im Internet gesucht und gegoogelt und bin dann auf ihr Angebot gekommen.
Emine Kalali: Sie haben erzählt, der Mann ist 22 Jahre alt, hat eine Sehbehinderung, Epilepsie, geistige und auch psychische Beeinträchtigungen, wie nehmen Sie die Situation für den Mann aktuell wahr?
Sabine Kirchberg: Sehr unbefriedigend aktuell für ihn. Der junge Mann hat eine 64-jährige Frau, die ist seine offizielle Pflegeperson, die sich 24 Stunden rund um die Uhr um ihn kümmert. Und ihm ist oft einfach langweilig und er kann aufgrund seiner geistigen und psychischen Beeinträchtigung die Situation noch schlechter koordinieren, als vielleicht die Anderen. Was er wahrnimmt ist, die Anderen gehen zum Kindergarten, zur Schule, zur Sprachschule. Er sitzt nahezu unnütz herum, hat wenig Anregung außer seinen PC, dem Handy – aber da er nur auf einem Auge ca. 5 Prozent sieht, ist es alles für ihn sehr deprimierend. Man merkt das an Ausrastern, Schlaflosigkeit, Umherwandern, epileptischen Anfällen, dass das so nach und nach jetzt kommt. Er ist innerlich überfordert mit seiner Gesamtsituation und hat Wut und Ärger über alles, was er eigentlich täglich in sich hineinschluckt. Und das kommt dann immer Mal wieder heraus. Womit wir alle versuchen umzugehen, aber auch die anderen Personen – gerade die Kinder und Jugendlichen – sind ja auch belastet.
Emine Kalali: Bezüglich der Anderen, hatten Sie ja schonmal gesagt, dass es noch ein Kind gibt mit Beeinträchtigungen. Da wäre meine nächste Frage, ob bei den 40 Kindern noch weitere mit Krankheiten, Beeinträchtigungen sind.
Sabine Kirchberg: Ich habe mich gestern mit Frau J. unterhalten und man kann eigentlich sagen, dass die gesamten 40 Kinder und Jugendlichen eine Trauma-Situation hinter sich haben. Die kommen alle aus ganz schlimmen, katastrophalen biologischen Verhältnissen, haben körperliche und psychische Misshandlungen in extremster Weise zum Teil jahrelang Zuhause erlebt. Sind dann in einem Kinderheim in der Ukraine aufgenommen worden und haben dort gelebt, wo auch nicht alles rund gelaufen ist. Durch Gottes Hilfe und mit viel Glück konnten die dann nach und nach in Pflegefamilien kommen. Manche von den Jugendlichen sind jetzt schon viele viele Jahre in der Pflegefamilie, manche auch erst seit 2 Jahren. Oder der 22-Jährige musste mit 19 dann raus aus dem Kinderinternat und hat sich dann in der Ukraine damals an die Kirche gewandt und dann seine Pflegemutter / -oma an die Seite gestellt bekommen. Und dafür ist er sehr dankbar. Sie sind eigentlich alle traumatisiert aufgrund dessen, was sie schon so erlebt haben. Jetzt kommt noch die Fluchtsituation dazu. Und die Wohnsituation. Momentan haben wir Sommer – da kann man nach Draußen flüchten. Ich will nicht wissen, wie sich das gestalten soll, wenn die dann auf engstem Raum Tag für Tag wegen Schnee und Regen ab Herbst / Winter zusammengepfercht sind. Also mit viel Gebet und Liebe haben die Pflegeeltern für Stabilität sorgen können, aber das ist natürlich gar nicht einfach – in keinster Weise.
Einen 14-jährigen Jungen habe ich noch dabei mit geistiger Behinderung, er ist Gott sei Dank auf einer entsprechenden Förderschule hier in Wolfsburg, wo er sich augenscheinlich sehr wohl fühlt und wo auch die Lehrkräfte und Mitarbeitenden sich sehr um ihn kümmern und wo auch russisch-sprachige Mitarbeiter sind. Das läuft sehr gut.
Emine Kalali: Schön, dass es auch noch diese Lichtblicke gibt. Das einige Sachen doch auch laufen.
Sabine Kirchberg: Ja das ist es, aber diese Kinder haben eigentlich alle ihre ausgeprägt psychischen Probleme mit Schlafstörungen. Manche Kinder wachen heute noch aus ihrem Schlaf auf, weil sie von dem träumen, was ihnen angetan wurde. Sie lassen diese Aggressionen auch zum Teil an ihren Pflegeeltern aus und es ist schwierig, das zu händeln.
Emine Kalali: Ja dann muss man sagen, dass in Deutschland diese Kinder wahrscheinlich alle auch eine anerkannte Behinderung durch ihre Traumatisierung hätten.
Sabine Kirchberg: Ja wahrscheinlich.
Emine Kalali: Welche Hilfen wurden Ihnen bei der Suche nach bedarfsgerechter Unterbringung und Betreuung von staatlicher / offizieller Seite angeboten?
Sabine Kirchberg: Also im Wesentlichen kann ich nur sagen, diese Integrationsbeauftragte ist uns von der Stadt Wolfsburg an die Hand gegeben worden. Alles andere, was gelaufen ist und so weiter, dass ist durch uns geschehen. Und die Wohnsituation, da haben wir keinerlei Unterstützung gehabt. Sie sind in diesem Asylwohnkomplex untergebracht, in diesen Einheiten. Am Anfang standen noch mehr Wohneinheiten frei, die hätten wir gerne gehabt, damit jede Familie wenigstens zwei Wohneinheiten für sich hat. Aber die haben sie uns nicht gegeben. Ich nehme an, weil noch so viele Flüchtlinge zu erwarten waren. Und wen sie erstmal untergebracht haben, den hatten sie erstmal untergebracht und jetzt sind diese Wohnungen voll. Und das Jobcenter: seit sie jetzt beim Jobcenter sind, geht’s ja um die ganze Übernahme der Miete und so weiter und so fort. Jetzt kommt das alles zu tragen, dass die Wohnungen völlig überfüllt sind. Das Jobcenter sagt, dass sie die Mieten nicht übernehmen, da sie nicht bedarfsgerecht wohnen.
Eine Familie hatte die Möglichkeit, bis Mitte / Ende April in ein recht preisgünstiges Haus zu ziehen. In der Nähe von Braunschweig – das wurde aber vom Sozialamt abgelehnt, weil es nicht mehr ihr Einzugsgebiet ist. Und jetzt sind sie beim Jobcenter und sie dürfen sich auch nur innerhalb des Einzugsbereichs Wolfsburg etwas suchen, was ziemlich schwierig ist.
Emine Kalali: Ich weiß nicht genau, wie sich die Wohnraumsituation in Wolfsburg verhält, ich komme aus Berlin und hier zumindest ist es fast unmöglich, eine Wohnung zu finden. Wurde vom Jobcenter gesagt, wie die ukrainischen Familien es schaffen sollen, in Wolfsburg bedarfsgerechten Wohnraum zu suchen?
Sabine Kirchberg: Naja, es sind halt alles Menschen und sie kennen auch alle Wolfsburg. Das ist hier nicht anders als in anderen Städten auch. Es gibt keine Wohnungen, die frei zur Verfügung auf dem Markt stehen und einem hinterhergeschmissen werden. Auch die Wohnungsbaugesellschaften haben ihre Wohnungen eigentlich voll. Wir haben jetzt auch keine Lösungen parat. Wir hoffen, dass wir die älteren Frauen und Einzelfrauen vielleicht in Wohnungen kriegen, dass wir in diesem Gebäudekomplex wenigstens mehr Wohneinheiten zusätzlich zur Verfügung haben, um das ganze quadratmetermäßig zu entzerren. Da sind wir aktuell jetzt dabei.
Emine Kalali: Die nächste Frage ist etwas persönlicher. Sie sind Altenpflegerin und kennen sich daher gut mit dem deutschen Hilfssystem aus. Haben Sie das Gefühl, dass sie ohne diese Voraussetzung von offizieller Seite genug Informationen an die Hand bekommen würden/hätten, um die nötige Hilfe zu leisten?
Sabine Kirchberg: Nein. Also ich bin Altenpflegerin und kenne daher hier in Wolfsburg fast jede Arztpraxis und weiß auch, wo ich fragen kann, wo ich Unterstützung und gegebenenfalls unbürokratisch welche Hilfen kriegen könnte. Ich kenne das Wolfsburger Krankenhaus und auch in der Umgebung, auch zum Teil durch private Sachen sehr intensiv. Und ich bin seit Jahrzehnten ehrenamtlich aufgrund meiner christlichen Tätigkeit in der Gemeinde aktiv. Da habe ich mir laienhafte Sozialarbeit-Kenntnisse angeeignet und das kommt mir sehr zugute. Wenn ich das alles nicht hätte und wenn Frau J. nicht mit ihrer beruflichen Kenntnis, die ja weit über meine noch hinaus geht, wenn die nicht zur Verfügung gestanden hätte, wären diese Familien hoffnungslos verloren gewesen.
Emine Kalali: Sie haben mir erzählt, dass es bei den Kindern der Gruppe, die Sie betreuen, Probleme in der Versicherungssituation gibt und dass sie daher teilweise keine Arztbesuche für notwendige medizinische Untersuchungen vornehmen können, können Sie die Situation kurz erläutern?
Sabine Kirchberg: Am Anfang liefen alle über’s Sozialamt und haben ihren Asylbewerberleistungsschein bekommen, was für eine minimale Versorgung im Notfall zuständig war. Das lief auch soweit ganz gut und wir hatten einen wirklich guten Kontakt zum Sozialamt. Ab dem 1. Juni sind alle umgestellt worden aufs Jobcenter und sollten sich eine Versicherung suchen – das haben wir auch gemacht. Die über 15-jährigen Kinder kriegen also eine eigene Versicherung – das zahlt auch das Jobcenter. Aber die unter 15-jährigen Kinder sind familienversichert. Aber die Krankenkasse hat uns mitgeteilt: Nein, das sind nicht die biologischen Kinder, das sind Pflegekinder, da ist das Jugendamt zuständig, die müssen bezahlen. Die brauchen da eine eigene Versicherung. Bei Pflegekindern ist das Jugendamt zuständig. Das Jugendamt sagt – nein, das sind Pflegekinder nach ukrainischem Recht mit den Urkunden, aber keine, die in das Jugendamt-Recht hineingehören und das Jugendamt ist damit nicht zuständig und sie werden keine Versicherung bezahlen. So dieses ganze hin und her zog sich jetzt mehrere Wochen hin und der aktuelle Stand ist jetzt, dass es jetzt wohl so ist, dass auch die unter 15-jährigen Kinder ihre eigene Krankenversicherung bekommen und die Kosten – das weiß ich gar nicht, ob es jetzt schlussendlich das Jobcenter oder Jugendamt übernimmt und ihre Pflegschaft wird jetzt dem deutschen Recht gleichgestellt, dass sie dann dem Jugendamt unterstellt sind und wie deutsche Pflegekinder behandelt werden dürfen. Die Krankenkassen wollen jetzt die ganzen Nachweise und Kostenübernahme-Erklärung und das und das und jenes bekommen. Das dauert sicher noch.
Und im August haben wir dann zwei Monate voll, wo die unter 15-Jährigen keinen Krankenversicherungsschutz haben. Wir sind Gott dankbar, dass bisher wenigstens physisch alle Kinder gesund sind und wir noch keine größeren Aktionen hatten. Ich möchte mir nicht vorstellen, wie es sein sollte, wenn jetzt irgendeines der Kinder krank ist, oder ins Krankenhaus zur Notaufnahme müsste, weil es gestürzt ist und sich irgendwas getan hat. Und dann heißt es, welche Krankenkasse: ja wir haben keine. Und Sozialamt? Nein wir sind auch nicht zuständig. Also die sind zurzeit offiziell ohne irgendwelche Möglichkeiten, medizinische Hilfen in Anspruch zu nehmen. Ich habe schon einige Arzttermine absagen müssen.
Da ist ein behinderter Junge, der zum Orthopäden muss und wir hatten schon Kontakt zu einer Ärztin als er noch beim Sozialamt war und aufgrund dessen habe ich bei einer Kinderorthopädin einen Termin ausgemacht, jetzt habe ich den wieder abgesagt und gesagt, wir melden uns sobald wir eine Krankenversicherung haben. Das ist jetzt der aktuelle Stand.
Emine Kalali: Ich komme zur letzten Frage: Was würden Sie sich in Zukunft für Veränderungen wünschen, wo sehen Sie gerade den Handlungsbedarf, wenn es um die Hilfe für geflüchtete Menschen mit Behinderungen geht?
Sabine Kirchberg: Gemäß dem, was wirklich ist, wäre es natürlich sehr schön, wenn es auch von offizieller / staatlicher Seite Möglichkeiten zur sprachlichen Begleitung gäbe zu Arztbesuchen etc. Das ist ein großes Manko, wofür keiner was kann, welches aber besteht und nahezu ausschließlich durch ehrenamtliche Hilfe bis zur Erschöpfungsgrenze begleitet wurde und wird. Da wäre es natürlich schön, wenn es eine Möglichkeit gäbe. In Wolfsburg muss ich sagen, haben sie sehr nachgerüstet mit der Zeit. Sie haben sich darum bemüht. In den Ämtern gibt es nahezu immer eine Zweitkraft, die dort dabei ist und russische Übersetzung macht. Das hat’s am Anfang nicht gegeben, das gibt es jetzt immer häufiger mal. Aber für Arztbesuche, Krankenhaus-Kontakte und so, da hapert es an der Sprache. Und viele von ihnen – nahezu die meisten – können halt kein Englisch. Da haben wir uns in Deutschland natürlich dran gewöhnt, dass alle eigentlich englisch können, wenn auch nur bruchstückweise.
Auf dem Wohnungsmarkt muss was geschehen. Die geflüchteten Menschen sind jetzt in Wolfsburg und da würden sie jetzt mental natürlich vielleicht auch gerne bleiben. Aber sagen wir mal in Helmstedt – das ist so 30, 40 km entfernt – dahin würden die auch umziehen, aber das geht nicht – das ist nicht erlaubt. Und das ist ein bürokratisches Unding.
Bezüglich der Situation behinderter Menschen denke ich, da müsste eine größere Verbindung sein von Seiten der Stadt und der Bundes- und Kommunal-Regierung, dass mit den Behinderteneinrichtungen Kontakt aufgenommen wird. Die haben ja auch Mitglieder und da müsste gefragt werden, wie sieht es aus, hat da wer im Umfeld Leute, die auf Geringfügigkeit oder gegen Aufwandsentschädigung unterstützend tätig werden könnten, damit das nicht nur auf ehrenamtlichen Basis laufen muss. Gerade bei behinderten Menschen ist der Verwaltungs- und Arbeitsaufwand ja nochmal eine Nummer größer. Dass man einmal angeboten hätte, wenn es möglich ist, wenn man jemand Russischsprachigen hat, dass es mal eine Gesprächsgruppe gibt, oder für die Kinder eine Spielgruppe. Also die Vernetzung von den öffentlichen Stellen mit den Behinderteneinrichtungen, die es ja zu Hauf gibt. Den Kontakt zur Lebenshilfe für den 22-jährigen Mann, den habe ich gestartet, weil ich dieses ganze drum herum kenne, weil mir das als Gedankengang kam.
Auch mit dem Schwerbehindertenausweis. Das müsste, wenn Flüchtlinge aufgenommen werden und wenn es klar ist, dass es da Behinderungen gibt besser laufen. Da muss eine andere Vernetzung denk ich mir her.
Was mir noch wichtig ist. Begleitend zu der ganzen Situation. Es ist ja so, dass ja auch andere Asylbewerber in den Wohneinheiten aus im Wesentlichen muslimisch geprägten Ländern wohnen. Afghanistan und Syrien zum Beispiel. Und zumindest in der Anfangszeit hat sich das Problem der Eifersucht massiv eingestellt. Die ukrainischen Flüchtlinge haben sehr viel Unterstützung, Hilfe und alles vom Staat bekommen, aber auch privat. Und die anderen Flüchtlinge gehen leer aus. Und damit sind sie konfrontiert. Ich kann gar nicht aufzählen, von wie vielen Geschäften und anderen Hilfsorganisationen die Hilfen bekommen und das kriegen die anderen Flüchtlinge alle mit und fragen natürlich: „ja und wir?“
Und das war am Anfang ganz schlimm und da wurden die Fahrräder zerstochen und sowas. Jetzt gerade hat sich das beruhigt, wir sind da auch vermittelnd eingetreten. Man kann die Menschen nicht so ungleich behandeln.
Emine Kalali: Danke, dass Sie das Thema aufwerfen, das ist auch bei uns im Projekt ein großes Thema – auch wir sind schon durch die Rechtsprechung allein eingeschränkt, gleichwertige Hilfe zu leisten. Selbst wenn es aus der Ukraine geflohene Menschen sind, die dann aber nicht die Staatsangehörigkeit der Ukraine haben.
Sabine Kirchberg: Das ist einfach nicht gut. Das kann ich mir nicht vorstellen, dass das rechtskräftig ist. Das ist nicht normal. Ich wundere mich, warum sich noch keine Verbände zusammengeschlossen und eine Klage vorm Verfassungsgericht eingereicht haben. Auch bei Behinderten. Warum wird einem sehbehinderten Menschen, der nicht aus der Ukraine kommt, nicht so geholfen wie einem Sehbehinderten aus der Ukraine..Jetzt schenkt uns ein Optiker ein Lesegerät. Die Firma Apollo verschenkt jetzt Gutscheine für Sehhilfen, aber nur für ukrainische Flüchtlinge mit ukrainischem Pass. Ich kann nicht aufzählen, wie viel Hilfe wir vorher bei den Geflüchteten nicht bekommen haben. Und wir sind so dankbar für all die Hilfe, ich kann das gar nicht ausdrücken. Aber die Eifersüchteleien müssen dann die Geflüchteten hier aushalten. Da würde ich mir wünschen, wenn sich die Verbände zusammentun könnten und dafür sorgen, dass das ein Ende hat. Das muss auch rechtlich ein Ende haben. Wir sind alle gleich vorm Gesetz, das steht in unserer Verfassung drin und dann kann man nicht solche Unterschiede machen.
Emine Kalali: Ich bedanke mich sehr, dass Sie zu diesem Interview bereit waren und so offen über die schwierige Situation gesprochen haben. Wir hoffen gemeinsam, eine Änderung bewirken zu können!