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Passende Hilfen für behinderte Geflüchtete finden

Emine Kalali
Emine Kalali
Foto: privat

Berlin (kobinet) Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) hat bei der Aktion Mensch das Netwerkprojekt Behinderung und Flucht genehmigt bekommen, wodurch diese die Möglichkeit hat, Unterstützung für geflüchtete Menschen mit Behinderung aus der Selbstvertretungsperspektive aufzubauen und zu leisten. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul führte mit Emine Kalali, die in dem einjährigen Projekt arbeitet, ein Interview über die Herausforderungen behinderter Geflüchteter und die aktuelle Situation. Wichtig sei dabei, passende Hilfen für behinderte Geflüchtete zu finden.

kobinet-nachrichten: Der Angriff Russlands auf die Ukraine hat viele Menschen in die Flucht getrieben, so auch viele Menschen mit Behinderungen. Wie erleben Sie diese Situation in Berlin?

Emine Kalali: Als ich das erste Mal mit der Nachricht konfrontiert war, konnte ich es nicht glauben und es war unglaublich surreal. Ein Krieg in Europa schien mir unwirklich, so unwirklich wie eine weltweite Pandemie, die ja noch nicht mal vorbei ist. Ich denke so ging es sehr vielen Menschen und es hat viele Gefühle von Angst und Überforderung ausgelöst. Gleichzeitig ist aber sehr schnell deutlich geworden, dass eine sehr starke Solidarität und Hilfsbereitschaft besteht.

Die Reaktion kam direkt und ohne Kompromisse, Privatwohnungen wurden angeboten, ehrenamtliche Helfer*innen sind an den Bahnhof gefahren, um Menschen in Empfang zu nehmen. Das hat mich persönlich sehr froh gemacht und auch etwas beruhigt. Jetzt sind einige Wochen vergangen und es kommen nach wie vor noch viele Menschen an. Verständlicherweise ist das auch für die ehrenamtlichen Personen, die helfen, sehr belastend und alle sind mehr und mehr auf staatliches Eingreifen, Organisation und vor allem Entlastung der Ehrenamtlichen angewiesen.

kobinet-nachrichten: Sie engagieren sich in einem von der Aktion Mensch geförderten Hilfsprojekt der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland (ISL) für geflüchtete behinderte Menschen. Was machen Sie da genau?

Emine Kalali: Die ISL hat bei der Aktion Mensch das Netwerkprojekt Behinderung und Flucht genehmigt bekommen, wodurch wir die Möglichkeit haben, Unterstützung für geflüchtete Menschen mit Behinderung aus der Selbstvertretungsperspektive aufzubauen und zu leisten.

Ich bin sehr viel mit Informationssuche und Aufarbeitung wichtiger und passender Unterstützungsangebote beschäftigt, trete in Kontakt mit Gruppen und Akteuren, die Hilfe leisten und wir überlegen gemeinsam, welche nächsten Schritte in der Hilfe notwendig sind und wie man diese gemeinsam gehen kann. Dies geschieht meist über den digitalen Raum, wie zum Beispiel unseren Twitterkanal @Hilfsabfrage. Aktuell arbeiten wir an einer Informationsseite für geflüchtete Menschen mit Behinderung, bei der die wichtigsten Informationen und Hilfsangebote in Einfacher Sprache und natürlich in Landessprache genutzt werden können und wo die vielen Angebote geordnet aufgezeigt werden.

Hauptsächlich bin ich viel mit der Betreuung des von uns und Handicap International betriebenen Hilfsportals www.hilfsabfrage.de beschäftigt, da wir über diese Seite Angebote im Bereich Wohnen und Transfer anbieten und wir viele Anfragen bekommen und die Seite und Angebote natürlich auch gepflegt und verwaltet werden müssen. Das Projekt ist jedoch sehr flexibel gehalten. Für den 22.6. planen wir gemeinsam mit Handicap International eine Online Veranstaltung für geflüchtete Menschen mit Behinderung aus der Ukraine, bei der sie mehreren Expert*innen Fragen zum Unterstützungssystem und Ihren Zugängen in Deutschland stellen können.

Am wichtigsten ist im Grunde bei meiner Arbeit auf aktuellem Stand zu bleiben und die Hilfen da zu leisten, wo sie gerade gebraucht werden, dementsprechend kann sich mein Aufgabengebiet auch abhängig von aktuellen Geschehnissen ändern.

kobinet-nachrichten: Die mittlerweile von der ISL und Handicap International betriebene Datenbank zur Vermittlung von Wohn- und Beförderungsmöglichkeiten für behinderte Geflüchtete war zu Beginn des Krieges enorm wichtig. Wie gestaltet sich derzeit die Situation?

Emine Kalali: Wir erhalten immer noch Anfragen von Familien und Einzelpersonen, insbesondere in Bezug auf passende Unterkünfte. Vielen Menschen konnten wir bereits bei der Vermittlung helfen, vor allem auch durch unser Ehrenamtsnetzwerk, bei dem sich einzelne Menschen intensiv mit Anfragen beschäftigen. Fliehen zu müssen, ist unglaublich schrecklich und eine große Herausforderung – das gilt vor allem für Menschen mit Behinderungen und ihre Familien. Da ist es sehr wichtig, geeignete Beförderungsmöglichkeiten und Unterkünfte zu finden.

Momentan sind wir sehr stark auf weitere Hilfe und Unterstützung der Einrichtungen angewiesen, da viele Angebote nun belegt sind und wir immer noch Anfragen erhalten. Nicht jedes Angebot ist für jeden Menschen geeignet. Auch ist es sehr wichtig für die Familien, die es nach Deutschland geschafft haben, dass sie in dieser schweren Zeit nicht auch noch getrennt werden.

Wir fragen viele Unterkünfte ab, ob sie noch Plätze haben und müssen nun sehen, wie wir mit dem Angebotsmangel in Zukunft umgehen können.

kobinet-nachrichten: Welche Herausforderungen sehen Sie derzeit hauptsächlich für behinderte Geflüchtete in Deutschland?

Emine Kalali: Ich denke eine große Herausforderung ist das Zurechtfinden in unserem Unterstützungs- und Rechtssystem. Selbst für Menschen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, ist das nicht leicht, aber gerade aus einem anderen Land geflüchtet und ohne die Sprache zu sprechen, ist es unfassbar schwierig. Hier muss von unserer Seite in Deutschland Hilfe geleistet werden, die Informationen und tatsächlichen Hilfen so leicht zugänglich wie irgend möglich zukommen zu lassen. Das verstehe ich zumindest unter humanitärer Hilfe.

Ansonsten ist es klar, dass auf die Bedarfe der Menschen mit Behinderungen geachtet werden muss, eine Massenunterkunft ist da einfach nicht geeignet, daher denke ich, dass Unterkunft und die richtige Pflege je nach Gesundheitszustand die wichtigsten Hilfen sind und dabei darauf geachtet werden muss, dass die Menschen nicht in dieser schwierigen Zeit auch noch von ihren Angehörigen getrennt werden.

kobinet-nachrichten: Sie planen für den 22. Juni eine Veranstaltung für und mit behinderten Geflüchteten. Worum geht es dabei genau?

Emine Kalali: Wir möchten eine Veranstaltung zur Orientierung bei dem Hilfsangebot für Menschen mit Behinderungen in Deutschland bieten. Die Länder haben teils sehr unterschiedliche Hilfs- und Rechtssysteme und auch sehr unterschiedliche Strukturen in der Selbstvertretung und Beratung, die Orientierung hier in Deutschland – gerade mit der Sprachbarriere – ist dementsprechend nicht leicht. Bei vielen Veranstaltungen für Geflüchtete gibt es Frontal-Vorträge – dieses möchten wir in der Veranstaltung gerne brechen. Es soll zwar kurzen Input zu Beginn geben, aber der Fokus der Veranstaltung liegt definitiv darauf, dass die Teilnehmenden die Fragen stellen können, die sie persönlich und akut betreffen.

kobinet-nachrichten: Wenn Sie zwei Wünsche im Hinblick auf behinderte Geflüchtete frei hätten, welche wären dies?

Emine Kalali: Ich wünsche mir, dass Menschen anerkennen, dass alle Menschen ein Recht haben, hier zu sein, dass nicht unterschieden wird, woher die Menschen geflohen sind, und Hilfsbereitschaft und Solidarität besteht. Ich wünsche mir Gleichberechtigung beim Aufenthalt und im Arbeitsrecht.

Der zweite Wunsch bezieht sich auf alle Mesnchen mit Behinderung in Deutschland, dass ich mir wünsche, dass auf die Barrierefreiheit geachtet wird und geeignete Maßnahmen zu Teilhabe von Politik und Gesellschaft getroffen werden. Wenn sich an die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen gehalten wird und Menschen mit Behinderung selbstbestimmt mitteilen können, was sie brauchen und dies auch erhalten – und dass jenseits von Geschlecht, Herkunft, Staatsangehörigkeit -, dann wären die Wünsche erfüllt.

kobinet-nachrichten: Vielen Dank für das Interview.

Link zu Infos über die Veranstaltung am 22. Juni und zur Anmeldung

Link zum kobinet-Bericht über die Veranstaltung am 22. Juni

Link zur Datenbank www.hilfsabfrage.de