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Wer hat an der Uhr gedreht? Ist es wirklich schon zu spät? Oder: Mit Gehetz durchs Gesetz

Jessica Schröder
Jessica Schröder
Foto: Franziska Vu ISL

Berlin (kobinet) Die Referentin der Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland, Jessica Schröder hat gestern am 17. Mai nicht nur die Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Barrierefreiheitsstärkungsgesetz verfolgt, sondern sich auch gewaltig geärgert. Das wir aus ihrem Kommentar mehr als deutlich, den sie für die kobinet-nachrichten zur Anhörung und zum aktuellen Gesetzgebungsverfahren in Sachen Barrierefreiheit verfasst hat. Am 20. Mai stimmt der Bundestag über das Gesetz und entsprechende Änderungsanträge abschließend ab.

Kommentar von Jessica Schröder

Am 17. Mai 2021 fand die Anhörung der externen Sachverständigen zum Gesetzentwurf der Bundesregierung, mit dem vollmundigen Titel „Barrierefreiheitsstärkungsgesetz“ statt. Eine Anhörung, die beinah ebenso, wie die übliche und unbedingt geforderte Bundestagsdebatte zur ersten Lesung eines Gesetzentwurfs, dem Verzicht und der Ignoranz anheim gefallen wäre. Ein No Go, wenn man bedenkt, welches mühsame gesetzgeberische Zaudern und Zögern zum Thema Barrierefreiheit das Handeln aller Bundesregierungen von je her bestimmt hat und jetzt endlich ein wichtiger und längst überfälliger historischer Moment mit der Umsetzung einer EU-Richtlinie eingeläutet wird.

Dass die Regierungskoalition aus CDU/CSU und SPD diese Glocken nicht läuten hört, wird schon daran deutlich, dass sie die üblichen 90 Minuten Anhörungszeit mal schnell auf 60 Minuten runtergekürzt hat. Noch schlimmer, es wird im Anhörungszeitraum ein Änderungsantrag der Regierungsfraktionen diskutiert, der zwar irgendwie im Gesetz verortet werden soll, aber sich ganz praktisch mit Sozialversicherungspflichten und Erleichterungen für Selbstständige und andere Arbeitnehmerverhältnisse befasst. Keine Frage, auch diese Zielgruppen sind mit Barrieren konfrontiert und ich wünsche ihnen Erleichterungen, finanzieller und bürokratischer Art. Aber solche gesetzgeberischen Maßnahmen gehören nicht ins Barrierefreiheitsstärkungsgesetz und wären im Übrigen auch ein klarer Rechtsbruch gegenüber der europäischen Gesetzgebung, die hier klar die Umsetzung einer EU-Richtlinie zur EU-weit geltenden Barrierefreiheit von Produkten und Dienstleistungen der Privatwirtschaft zum Ziel hat. Bisher wurden Organisationen von und für behinderte Menschen immer mit dem Argument abgespeist, dass man nicht über den Anwendungsbereich der EU-Gesetzgebung hinaus tätig werden dürfe. Plötzlich ist jedoch ein Riesensprung in völlig andere Gesetzesgefilde möglich und ohne Zögern durchführbar? Man kann sich nur wundern und die berechtigte Vermutung steht im Raum, dass die Verquickung zweier so unterschiedlicher Themenkomplexe nur zum Ziel haben kann, von der Brisanz einer umfassenden Barrierefreiheit für die Privatwirtschaft abzulenken.

Bestärkt wird diese Vermutung dadurch, dass die Koalitionsfraktionen bei der Anhörung viel der ohnehin schon kurzen Frage- und somit Redezeit auf das Thema der Berufsgruppen und Sozialversicherungsbeitrags- und Meldeverfahren, verwandt haben. Dementsprechend wurde dann auch in der noch verbleibenden Zeit seitens der Regierungsfraktionen eher lustlos und wenig ambitioniert durch das Gesetz gehetzt. Fragen, inwieweit die Definition der Barrierefreiheit dem Gesetz Rechnung trägt, sind wenig zielführend und eher peinlich, denn eine Definition von Barrierefreiheit, die sich an den Vorgaben der UN-Behindertenrechtskonvention und in Folge am Behindertengleichstellungsgesetz orientiert, ist natürlich Grundvoraussetzung für ein halbwegs anständiges Umsetzungsgesetz. Da nützt es auch wenig, wenn Sachverständige wie vom VdK und der BAG-Selbsthilfe diesen Schritt begrüßen, wenn eben diese Verbände unter vielen anderen diese gängige Definition erst einfordern mussten.

Schlimmer zu schlucken ist jedoch die Aussage von Klaus-Peter Wegge, dass Übergangsfristen von 15 Jahren entspannt entgegengeblickt werden könnte, da die Automaten ohnehin alle 10 Jahre ausgetauscht werden müssten. Dementsprechend vehement waren dann auch die Ggegenäußerungen von Dr. Sigrid Arnade von der Liga Selbstvertretung und Dr. Sabine Bernot von der Monitoringstelle zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention, die von den Grünen und den Linken eingeladen wurden. Da das Gesetz ohnehin erst 2025 in Kraft tritt und eine generelle Übergangsfrist von 5 Jahren in der EU-Richtlinie vorgesehen ist, sind weitere Übergangsfristen überhaupt nicht notwendig und für behinderte Verbraucher*innen überhaupt nicht zumutbar. Wie Dr. Sigrid Arnade immer wieder treffend feststellt: Selbst bei der Klimawende und beim Kohleausstieg kann es endlich nicht schnell genug gehen, aber Barrierefreiheit von Bankautomaten, so leicht realisierbar, wird verschleppt und konsequent ausgebremst.

Auch beim Thema Marktüberwachung formuliert die BAG-Selbsthilfe lieber im Konjunktiv, wo mehr Nachdruck und klares Einfordern unbedingt notwendig wäre. „Eine zentralisierte Marktüberwachung, mit entsprechenden finanziellen Ressourcen, wäre wünschenswert.“ Wir sind hier nicht bei Wünsch dir was. Entsprechend formulierte es Christiane Möller, stellvertretende Geschäftsführerin des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband, eingeladen von der FDP. Marktüberwachung muss geeignet sein, Wirtschaftsakteure effizient und umfassend zu überwachen. Ein global wirkendes Gesetz braucht eine zentrale und gebündelte Marktüberwachung von Bundesbehörden, die ihr Handwerk verstehen und bereits mit der Überwachung von Dienstleistungen und Produkten des zukünftigen Anwendungsbereichs des Barrierefreiheitsstärkungsgesetzes betraut sind.

Schade auch, dass Angelika Glöckner von der SPD bei der Befragung der Bundesagentur für Arbeit so gar nicht auf eine mögliche Erweiterung des gesetzlichen Anwendungsbereichs auf beruflich genutzte Produkte und Dienste eingegangen ist. Da waren Fragen zu Themen, die so wenig mit der Barrierefreiheit zu tun hatten, wie Schlafanzüge mit Nachtzügen, der behindertenpolitischen Sprecherin der SPD, ein wichtigeres Anliegen. Aber wer das Behindertengleichstellungsgesetz als Barrieregleichstellungsgesetz bezeichnet, der kann vielleicht nur so agieren. Da musste dann Herr Witt von der AfD den Finger in die Wunde legen, wo allen klar sein dürfte, dass die AfD bei einer entsprechenden Mehrheit sicher die Menschen mit Behinderung, ganz schnell zur nicht existenten Randgruppe degradieren dürfte. Entsprechend zögerlich war dann auch die Antwort der Bundesagentur zum Thema, man sei auf einem guten Weg zur Barrierefreiheit, auch wenn dieser noch lang sein dürfte. Schade dass die Sachverständige keine Abkürzung des so langen Weges zur Barrierefreiheit genutzt hat, die in einer konsequenten Befürwortung der Erweiterung des Anwendungsbereichs auf genutzte Güter und Dienste bestanden hätte. Da kann ich nur an das Gespräch vom Barrierefreiheit-Wagen mit dem Direktor Detlef Schele erinnern, der eine umfassende Barrierefreiheit auch im Berufsleben energisch begrüßt.

Dr. Sabine Bernot von der Monitoringstelle UN-Behindertenrechtskonvention stellte dankenswerterweise noch einmal klar, dass die Pflicht zur baulichen Barrierefreiheit sich zwecks Sachzusammenhang aus der EU-Richtlinie selbst ergäbe und die Bundesregierung die bauliche Umwelt im Barrierefreiheitsstärkungsgesetz selbst oder in der Gewerbeordnung regeln sollte. Also kein wegducken in Ausreden, dass der Bund ja leider keine Kompetenz in diesem Bereich habe.

Dr. Sabine Bernot und Dr. Sigrid Arnade kritisierten auch die Ausnahmeregelungen für Unternehmen und die Selbsteinschätzung der Unternehmen, die erstmal selbst entscheiden können, ob sie die Barrierefreiheitsanforderungen des Gesetzes erfüllen. Die Ausnahmen sind viel zu wirtschaftsfreundlich und klammern den Nutzen von Barrierefreiheit für behinderte Menschen komplett aus. Ferner ist das Prinzip der Selbsteinschätzung ansonsten so absurd und unüblich, denn sonst könnten ja auch Autofahrer*innen selbst entscheiden, wie schnell sie fahren, was ein angemessener Parkplatz ist und ob es notwendig ist sich anzuschnallen. Undenkbar, nur beim Thema Barrierefreiheit kein Problem.

Das vernichtende Urteil von Christiane Möller und Dr. Sigrid Arnade: Das Gesetz ist wenig ambitioniert, mutlos und nicht ehrgeizig. Auch die Bundestagsabgeordneten scheinen eher auf Sensibilisierung, als auf ernsthafte legislative Maßnahmen zu setzen, die die gesamte Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit verpflichten und die Versagung angemessener Vorkehrungen als Benachteiligung anerkennen würden. Deutschland hat bisher viel zu oft das Tempo gesetzlicher Ambitionen zur Barrierefreiheit ausgebremst und sein Wettbewerbspotential verkannt und vernachlässigt. Sonst Marktführer im Bereich technischer Innovationen in Industrie und Handwerk, schlagen uns die USA, Österreich und das Vereinigte Königreich hier schon lange ein Schnippchen und verstehen, dass Barrierefreiheit im öffentlichen und im privaten Sektor ein gesellschaftliches Muss und Bindeglied ist.

Trotz aller Versäumnisse hätten die Bundestagsabgeordneten jetzt die Chance, ihre behinderten Wähler*innen endlich ernst und wahrzunehmen und ein Gesetz zu verabschieden, das die Barrierefreiheit umfassend stärkt. Also in Konsequenz Teilhabe in allen Lebensbereichen stärkt und einen echten längst überfälligen gesellschaftlichen Wandel bewirken könnte. Und nochmal: „Wer hat an der Uhr gedreht? Nein es ist noch nicht zu spät!!“