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Mehrfachbehinderte gibt es nicht – Vom Impfen, Schubladen und unpraktischen Prioritäten

Franz-Josef Hanke
Franz-Josef Hanke
Foto: Franz-Josef Hanke

Marburg (kobinet) Der Journalist Franz-Josef Hanke hat den kobinet-nachrichten einen Bericht über seine Erfahrungen der letzten Tage beim Versuch, einen Impftermin als jemand mit mehrfachen Behinderungen zu bekommen, zugesandt. Er fasst dies in die Überschrift: "Vom Impfen, Schubladen und unpraktischen Prioritäten" und beschreibt die Hürden der Bürokratie, die besonders in Zeiten der Corona-Pandemie erschwert wirken.

Bericht von Franz-Josef Hanke

Mehrfachbehinderte kommen kaum vor. Auch bei der impfkampagne fallen sie durch alle Raster hindurch. Auf nachträglich fast belustigende Weise habe ich das am eigenen Leib erfahren. Nachdem Bundesminister Jens Spahn angekündigt hatte, bis Juni könnten wahrscheinlich alle ein Impfangebot erhalten ohne Rücksicht auf die Priorisierung, wählte ich die Rufnummer 116 117 und hakte nach.

Eine freundliche Frau verwies mich an eine andere Telefonnummer in Wiesbaden., die ich mir im Kopf merken musste. Dort erklärte ich, dass ich blind bin und wegen meiner Epilepsie keinen Impfstoff nehmen möchte, der möglicherweise schädlich für das Gehirn sein könnte. Aufgrund meines Alters von 66 Jahre könnte ich jedoch nur den Impfstoff von AstraZeneca bekommen, erklärte mir die Frau freundlich. Wegen meiner Doppelbehinderung fragte sie sogar bei ihrem Vorgesetzten nach, ob ich nicht bereits in der zweiten Priorisierungsstufe an die Reihe kommen könne. Doch die Antwort war „Nein“.

Es gab nur diejenigen Kriterien, die in der zweiten Priorisierungsgruppe angegeben waren. Owohl ich gleich drei Kriterien der dritten Gruppe erfülle, die alle allein schon zur Impfberechtigung in dieser Gruppe ausgereicht hätten, gab es keine Aufsummierung dieser Kriterien. Auch Kriterien der höheren Gruppe, die nach meiner persönlichen Einschätzung gut vergleichbar mit meinen Bedingungen waren, galten für mich nicht.

Die deutsche Bürokratie wurde von Franz Kafka vor fast 100 Jahren so treffend beschrieben, dass das Eigenschaftswort „kafkaesk“ inzwischen Eingang in zahlreiche andere Sprachen wie Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und flämisch gefunden hat. Reinhard May hat das in seinem Lied über „Einen Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars“ ebenso passend verulkt.

Für Blinde ist die Schriftform jedoch eine Barriere. Ich könnte allerdings einen individuellen Antrag beim zuständigen Gesundheitsam stellen, erklärte mir die Dame am Telefon. Dort müsste ich meinen Antrag begründen und mit entsprechenden Belegen untermauern. Meine Erklärung, dass ich seit Ostern mehrmals die Woche und dabei oft mehrere Male am Tag vergeblich versucht hatte, meinen Hausarzt zu erreichen, quittierte sie mit der Bemerkung, dass gehe vielen so. Hausärzte seien derzeit geneerell schwer erreichbar. Auf meine Frage, wann die dritte Priorisierungsgruppe an der Reihe sein werde, erklärte die freundliche Frau am anderen Ende der Leitung, das wisse sie nicht. Ein wenig frustriert legte ich daraufhin auf.

Am nächsten Tag hörte ich in den Nachrichten, dass in Hessen nun die dritte Priorisierungsgruppe Impftermine bekommen könne. Ein Freund trug mich in das Anmeldeformular ein, das immer noch nicht barrierefrei ist. Noch am selben Tag erhielt ich zwei Ziffernfolgen, die bei der Vergabe eines Impftermins im Marburger Impfzentrum relevant sein werden. Nun warte ich auf „meinen“ Impftermin. Dabei denke ich daran, dass die Stadt Marburg ihrer Bevölkerung anbietet, dass städtische „Impflotsen“ ihnen bei der Terminvereinbarung helfen und ein städtischer Fahrdienst sie zum Impfzentrum bringt. Eigentlich sollte dergleichen Bestandteil der Impforganisation sein, denke ich.

Wieder einmal muss ich feststellen, dass Behinderte meist in Schubladen als „blind“ oder im „Rollstuhl“ einsortiert werden, um dann die jeweils bekannten Klischees auf sie anzuwenden. Doppelt- und Mehrfachbehinderte wie ich kommen da kaum vor. Das muss sich dringend ändern!