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Damals – im April 2020

Ottmar Miles-Paul
Ottmar Miles-Paul
Foto: Franziska Vu

Kassel (kobinet) Wenn Eltern oder Großeltern ihre Sätze mit "Damals" beginnen, ist die Gefahr groß, dass das Interesse der Kinder bzw. Enkel schnell gen Null schwindet. kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul wagt es in seinem Kommentar trotzdem, daran zu erinnern, wie das "Damals" war - nämlich im April 2020, genau genommen am 26. April 2020. Denn an diesem Tag war die Zahl der täglichen Neuinfektionen mit dem Corona-Virus zum letzten Mal höher als am gestrigen Tag, wie das Robert-Koch-Instittut am 20. August 2020 vermeldet.

Kommentar von kobinet-Redakteur Ottmar Miles-Paul

Wer schon einmal Elternfreuden genießen durfte, weiß, wie schnell man die harten Zeiten mit wenig Schlaf und die vielen kleineren und größeren Sorgen über Kinderkrankheiten etc. verdrängt bzw. vergisst. Trotz der oftmals harten Zeiten entscheidet man sich doch wieder für ein weiteres Kind. Das Verdrängen von Härten im Leben, von herausfordernden und anstrengenden Erfahrungen, ist uns Menschen wahrscheinlich in die Gene gepflanzt worden, sonst wäre die Menschheit schon längst ausgestorben. Diese Funktion des Vergessens und Verdrängens scheint uns auch in vielen anderen Situationen gegeben zu sein. Deshalb sind Sätze, die mit „Damals“ beginnen bei vielen von uns wahrscheinlich auch so unbeliebt und gelten bei vielen als absolute Spaßbremse.

So scheint es auch in diesen Tagen zu sein: Sonne satt in vielen Regionen Deutschlands, Urlaubsstimmung. Freunde zu treffen und zu feiern, das alles geht weitgehend wieder bzw. wird von so manchen Zeitgenossen auch über die Abstands- und Hygieneregeln hinaus praktiziert. Und sogar die Schulen öffnen – zwar mit Auflagen – wieder ihre Pforten. Fast vergessen scheint da die Zeit, die wir im Frühjahr des Jahres 2020 überstehen mussten. Ungern denkt man zum Beispiel an Tage wie den 26. April 2020 zurück. Damals war das öffentliche Leben noch weitgehend lahm gelegt. Flieger gab es so gut wie keine am Himmel und wir saßen hauptsächlich zu Hause. Viele Reisen wurden über Ostern abgesagt, Homeoffice und Homeschooling war für viele das Gebot der Stunde, andere mussten sich in ihren Jobs großen Gefahren der Infektion aussetzen – und Spielplätze waren noch geschlossen. Denn „damals“ herrschte ein weitgehender Lockdown – nicht nur in Deutschland – und der hierzulande tiefsitzende Klopapier-Schock war gerade so einigermaßen überstanden. Vielen Menschen steckte damals noch die Angst tief in den Knochen, dass man sich selbst oder sich einer der Lieben mit dem Corona-Virus infizieren könnte, dass man in ein überlastetes Krankenhaus eingeliefert werden könnte und mittels einer Triage eventuell entschieden werden muss, wer dort das Intensivbett und die damit verbundene Behandlung bekommt. Behinderten- und Alteneinrichtungen waren „geschlossene Insitutionen“, in denen sich viele Infizierten und auch starben.

Der 26. April, an dem sich 1.737 Menschen in Deutschland neu mit dem Coronavirus infiziert hatten, war das letzte Mal, an dem es mehr Neuinfektionen als die am 19. August 2020 vom Robert-Koch-Institut vermeldeten 1.707 Neuinfizierten in Deutschland gab. Vor kurzem war dieser Zeitpunkt noch der 1. Mai 2020. Auch wenn wir heute viel mehr über das Virus wissen, wenn wir besser für eine solche Pandemie gerüstet zu sein scheinen, die Zeitmaschine scheint sich anscheinend in gewisser Weise wieder zurückzudrehen. Der Blick über die Grenzen Deutschlands hinaus bestärken diese Befürchtung – und dabei muss man gar nicht mehr so weit, wie in die USA oder nach Brasilien blicken, sondern kann in Länder schauen, in denen viele immer noch Urlaub machen. Dass das Virus sich nicht plötzlich zu einem Kuschelhusten gewandelt hat, zeigen auch die Todeszahlen, die täglich vermeldet werden, in Deutschland waren dies am 19. August 2020 zehn mit dem Coronavirus infiziert gemeldete Menschen, die gestorben sind – 9.253 sind dies mittlerweile insgesamt in Deutschland, über eine Dreiviertelmillion weltweit.

In einem Land wie Deutschland, in dem es Tradition zu sein scheint, dass Statistiken hochgehalten werden, die betroffenen Menschen aber kaum zu Wort kommen, bzw. deren Schicksale der Öffentlichkeit weitgehend vorenthalten werden, werden auch die neuesten Statistiken bei vielen wahrscheinlich nur wenig ausrichten. So darf man gespannt sein, wohin die Reise im vor der Tür stehenden Herbst, in dem man nicht mehr bei gutem Wetter draußen sitzen kann, gehen wird. Diese Krise ist auf keinen Fall Gott gegeben, sondern Menschen gemacht. Und diese Krise muss leider auch von ganz realen Menschen erlitten werden. Fast 10.000 mal hat diese Krise Menschen in Deutschland den Tod gebracht, haben Angehörige und Freunde getrauert und gelitten. Fast 230.000 Menschen mussten durch die Unsicherheit der Ansteckung mit dem Virus in Deutschland gehen, viele Angehörige und Freunde dieser Menschen haben mit ihnen gebangt, bzw. tun dies immer noch. Über die Spätfolgen der Infektionen weiß man zudem immer noch nicht viel, Beispiele zeigen aber, was dieser Virus auch langfristig bewirken kann.

Behinderte und ältere Menschen müssen wieder verstärkt bangen, dass sich niemand, der ihnen die Assistenz leistet, die sie brauchen, infiziert, sie sich selbst anstecken oder gar in einer Einrichtung, in der sie leben müssen, die Türen wieder und weitgehend ohne Kontrollen schließen. Wie es weitergeht, haben wir Menschen selbst in der Hand und jede und jeder Einzelne ist hier gefordert. Vielleicht hilft es in diesen Tagen doch, an Damals zu denken.