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Hollenbach (kobinet) Als wenn nichts gewesen wäre, gibt es im Bereich der Kostenträger für den behinderungsbedingten Nachteilsausgleich Behörden, die sich weigern, den gewandelten Zeitgeist zu erkennen, geschweige denn, anzuerkennen, dass mit dem Artikel 3 Grundgesetz und mit der Behindertenrechtskonvention viele Entscheidungen früherer Zeiten nun nicht mehr machbar sind.
Dies wird an nachfolgenden Beispielen deutlich. Die Lust, Antragstellerinnen und Antragsteller amtlich abzuschrecken und zu verunsichern, ist mancherorts ungebrochen.
In Oberbayern rechnete der Bezirk im Jahre 2014 die Hol- und Bringkosten des Autos eines Menschen mit Behinderung aus der Reparaturrechnung der Werkstatt heraus. Sie war der Ansicht, dass diese Kosten, immerhin 47,80 € aus einer Rechnung in Höhe von knapp 860 Euro nicht erforderlich sei. Schließlich hätte auch die Assistenz das Auto in der Werkstatt bringen und es wieder zurückholen können. Dass der Besitzer des Wagens ständig auf Hilfe angewiesen ist, nahm im Denken der Behörde keinen Raum ein. Es ging dem Anschein nach mal wieder darum, ein Zeichen zu setzen. Erst im Jahre 2020 wurde die Verweigerung der Behörde vom Sozialgericht in München einkassiert. Dieses machte nicht mal argumentativ Umwege zur Behindertenrechtskonvention oder Grundgesetz. Nein, selbst bei richtiger Anwendung bestehender Sozialgesetze hätte es zu solchen Fehlentscheidungen nicht kommen dürfen (siehe auch kobinet-Nachrichten vom 16.06.2020). https://kbnt.org/scghku9
Im selben Bundesland, diesmal in Unterfranken, besteht der Kostenträger stoisch darauf, zum richtigen Entgelt die Wochenarbeitszeit eines zudem nicht existierenden Tarifvertrages anzuwenden. Dadurch können die Assistenzpersonen dort nicht den vollen Stundenlohn erhalten, da das Monatsentgelt in Unterfranken durch 39 statt richtigerweise der tariflichen Festlegung entsprechend durch 38,50 Wochenstunden geteilt werden muss. Die nichtexistierenden Tarifverträge sind weder dem dortigen Sozialgericht noch dem Landessozialgericht aufgefallen. Hier scheint das Vertrauen der Rechtsprechung in die Behördenentscheidungen noch nicht getrübt zu sein. Derselbe Bezirk deaktiviert eine behinderte Arbeitgeberin tagsüber für drei Stunden, weil er der Auffassung ist, dass die Assistenzperson neben der Nachtbereitschaft auch tagsüber drei Bereitschaftsstunden zu einem reduzierten Lohn leisten kann.
In Sachsen wiederum gibt es einen Kostenträger, der den Tariflohn nach der ForseA-Lohnempfehlung zulässt, stets jedoch eine Gültigkeitsperiode nachhinkend. Auch hier geht es um das Prinzip der behördlichen Gestaltungshoheit. Behinderte Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber können derzeit nur den Lohn zahlen, der bis Ende Februar dieses Jahres gültig war, sie sind so auf dem Arbeitsmarkt stets im Nachteil.
Andere Kostenträger wiederum deckeln die Löhne und unterscheiden hierbei sogar nach sozialversicherungspflichtigen und geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Dass dieses nach dem § 4 Absatz 1 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes unzulässig ist, berührt sie nicht. Denn Beschäftigte im Minijob müssen ihre soziale Absicherung in großen Teilen selbst bezahlen. Daher ist eine Kürzung unzulässig. Jede Deckelung wird der ansonsten immer wieder gern bemühten Besonderheit des Einzelfalles nicht gerecht und bewirkt, dass die Suche nach guten Assistenzpersonen erschwert oder gar unmöglich gemacht wird. Eine Entscheidung des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen, das die ForseA-Lohnempfehlung ausdrücklich als angemessen bezeichnet (Urteil vom 06.02.2014 Az.: L 20 SO 436/13 B ER), wird auf Kostenträgerseite, auch in NRW, immer mal wieder ignoriert.
Das sind Beispiele von vielen, die derzeit aktuell sind. Sie belegen, dass sich der Paradigmenwechsel, der durch unsere Verfassung und die Behindertenrechtskonvention unbedingt erforderlich ist, noch immer verhindert wird. Ausgesprochen begünstigt wird diese Verweigerung durch das Bundesteilhabegesetz, einem Gesetz der verpassten Chancen. Statt den Antragstellerinnen und Antragstellern mindestens Augenhöhe zuzulassen, wurde die Position der Kostenträger noch gestärkt.
Artikel 3 Absatz 3 Satz 2 Grundgesetz lautet: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“. Eine Benachteiligung wird durch einen Vergleich erkennbar. Das Bundessozialgericht legt sich in seiner Entscheidung vom 12.12.2013 (Az. B 8 SO 18/12 R) auf folgende Vergleichsperson fest:
- nicht behindert
- nicht sozialhilfebedürftig
- gleiche Altersgruppe
Gleichzeitig betonte das Bundessozialgericht in dieser Entscheidung: „… dass das Ziel der Eingliederungshilfe nicht die Gleichstellung behinderter und nicht behinderter Sozialhilfeempfänger, sondern behinderter und nicht behinderter Menschen ohne Rücksicht auf ihre Bedürftigkeit sei.“ In diesem Lichte betrachtet, hält kaum ein Bescheid einer gerichtlichen Überprüfung stand.
Und eine Besserung ist nicht zu erwarten. Für den Stellenwert der Grundrechte von Menschen mit Behinderung bei Regierung und Parlament taugt das neue Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (IPReG) durchaus als Gradmesser. Die GroKo-Parteien Union und SPD geben zu erkennen, dass Sie nicht daran denken, das traditionelle Denken aufzugeben. Im Gegenteil: Dieses Gesetz aus dem Hause Spahn, der sich auf dem Weg zum CDU-Vorsitzenden wähnt, entstand scheinbar aus dem Nichts und hat den Zweck, die Fluchten aus den Anstalten umzukehren. Inwieweit es durch die Proteste behinderter Menschen entschärft werden konnte, wird erst die Anwendung in der Praxis zeigen.